Editorial
Während dreier Juliwochen wurden
in London, in und südlich von Bagdad und auf Sinai weit über 200 Menschen in
den Tod gebombt. Die Opfer gehören keinen militärischen Formationen an. Sie
sind Muslime, Christen, vielleicht auch Menschen anderer Konfessionen.
Zahlreiche Frauen und Kinder befinden sich unter ihnen, irakische und
ägyptische Staatsbürger ebenso wie britische und italienische. Das
Bekennerschreiben für den Massenmord in Sharm el-Sheik behauptet, der Anschlag
habe sich gegen »Kreuzfahrer, Zionisten und das abtrünnige ägyptische Regime«
gerichtet; tatsächlich sind die meisten der Opfer Muslime. Hatten sich
Terrorakte der Neunzigerjahre noch maßgeblich gegen Kriegsschiffe, Botschaften
und Symbolbauten gerichtet, so sind heute vorwiegend stark verdichtete, schwer
zu sichernde Räume wie Verkehrsmittel, Touristenzentren und belebte Plätze, wo
sich überwiegend Zivilpersonen aufhalten, vorrangiges Ziel der islamistischen
Todesschwadronen. Die Orte des terroristischen Mordens lagen bislang
hauptsächlich im islamischen Bogen zwischen Marokko und Indonesien, nur selten
in den Ländern des Westens. Doch waren die Anschläge vom 11.September 2001 in
New York und Washington nicht nur die spektakulärsten, sondern sie
demonstrierten auch die neue Qualität dieses globalisierten Terrors, der unter
dem Label al-Qaida mutmaßlich unterschiedliche und auch unabhängig voneinander
agierende Gruppen organisierten Verbrechens fasst. Die Änderung der Taktik
dürfte darin liegen, dass in den letzten Jahren fast zwei Drittel der Führer
der ersten Generation getötet oder gefasst wurden.
Al-Qaida heißt übersetzt »die
Basis«, ein Sockel für ein Gebäude von Gläubigen, deren von den Taliban bereits
praktiziertes Islam- Dogma, so Abdullah Azzam, Mentor bin Ladens,
unverhandelbar ist, ein unwandelbares, immer gleiches totalitäres Fundament.
Was den meist westlich sozialisierten Führern vorschwebt, so Olivier Roy, ist
die Vision einer »virtuellen Universal-Ummah«. Es macht nicht den geringsten
Sinn, sich hier in ideologische Debatten zu verstricken, etwa ob es sich um
einen »Befreiungskampf« handelt; es handelt sich auch nicht um einen
Glaubenskampf, sondern um die Instrumentalisierung des Islam, wenn bestimmte
Gebote (z. B. Selbstmordverbot) und Heilsversprechen des Korans zum Zwecke des
Verbrechens umgedeutet werden. Tatsache ist, dass diese Netzwerke Unterstützung
in den Bevölkerungen – auch wenn in Umfragen die Popularität inzwischen sinkt –
bis hinein in die politischen Parteien erhalten. Die Razzien in Pakistan im
Gefolge der Londoner Anschläge verliefen nach dem Filmspruch: »Verhaftet die
üblichen Verdächtigen!« (NZZ, 22.7.),
in dem von den islamistischen Parteien regierten Baluchistan und der North
Western Frontier Province, dem vermuteten Aufenthaltsort bin Ladens, gab es
kaum Polizeiaktionen. Wenn Ägyptens Hosni Mubarak ein scharfes Vorgehen gegen
radikale Kräfte ankündigt, so ändert das nichts daran, dass im ägyptischen Teil
des Kairoer Bazars Khan al-Kalili Unmengen an fundamentalistischen Videos und
Propagandamaterial gehandelt werden.
Natürlich sind die Bedingungen für
den Terror je nach Land, Region und Kontinent verschieden. Tatsächlich gibt es
in der arabischen Welt zum Himmel schreiende Ungerechtigkeiten. Die
Kreuzfahrer-Parole lenkt davon ebenso ab wie das Imperialismus-Klischee, denn
zum Himmel schreit auch die Unfähigkeit etwa der saudischen Eliten, den
Ölreichtum anders als parasitär zu verwenden. Eine andere Sache ist das
Palästinenser-Problem. Mögen Hamas und Hizbollah auch gerechte Ziele haben, sie
stellen sich mit der »Israel-ins-Meer«-Parole außerhalb des diskursiven Rahmens
und mit der Terrortaktik in den Rahmen des islamistischen Totalitarismus.
Für die Menschen da wie dort,
Muslime wie Christen, ist die Erkenntnis wichtig, dass sie den gemeinsamen
Feind sehen. In Europa leben inzwischen mehr als 23 Millionen Muslime.
Spätestens mit dem Mord an Theo van Gogh ist das Integrationsproblem in aller
Deutlichkeit zu Tage getreten. Wie London zeigt, findet der Terror in der
zweiten Migrantengeneration einen gewissen Nährboden. Das lädt zu
unterkomplexen Reaktionen ein. Die Aufrufe der Vertreter der britischen
Muslime, die Gespräche mit Regierungsvertretern, sind dagegen vom Geist der
Rechtsstaatlichkeit erfüllt. Es geht für christliche wie muslimische
Staatsbürger darum, den Staat als gemeinsames demokratisches Instrument zu
begreifen, um die totalitäre Gefahr zu bekämpfen. Der etwas anders aussehende
Mensch in der U-Bahn ist keiner, der unter der Djellaba oder Galabeiya oder dem
Salwar Kameez einen Sprengstoffgürtel trägt, sondern einer, der vielleicht mit
einer ähnlichen Beklommenheit eingestiegen ist wie der »einheimische« Bürger.
Denn dieser etwas anders aussehende Bürger ist einer, der von der modernen
westlichen Gesellschaft, von ihren Technologien, ihrem Wohlstand beeindruckt
ist, der aber auch mit ihren Problemen zu kämpfen hat, mit Behördenwegen,
Wohnungssuche, Arbeit – gar nicht so anders wie jeder andere hier auch. Von
beiden hängt ab, ob die Gesellschaft eine gemeinsame ist. Nur in einer
Gesellschaft, in der die einzelnen Teile nicht mehr miteinander kommunizieren,
in der Partikularisierung und Ausgrenzung stattfinden, kann der radikale Islamismus
die Ränder abernten.
»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe
4/05.