Renate Wiggershaus

 

Dem Schweigen des Universums einiges entwinden

 

Ein Porträt des israelischen Schriftstellers Amos Oz

 

 

 

Mehr als ein Dutzend Romane hat Amos Oz bisher veröffentlicht, in mehr als 25 Sprachen sind seine Bücher und Artikel übersetzt. So ist er zum Botschafter seines Landes, seiner Gesellschaft geworden. Was für ein Botschafter welches Landes, welcher Gesellschaft?

 

Von seinem vor drei Jahren erschienenen Roman Allein das Meer meinte Oz, dies Buch stehe ihm am nächsten. Acht Menschen reden miteinander – brieflich, telefonisch, gestisch, von Angesicht zu Angesicht. Die polyphone Kommunikation, die alltägliche Geschäftigkeit ist grundiert und durchbrochen von Scud-Raketen, bewaffneten Siedlern, dem Schrei einer Jüdin, als vor ihren Augen ihr Kind getroffen wird, dem Schrei einer Palästinenserin, als ihr Haus zerstört wird. Auf die gleiche Verschränkung von Zusammenleben und Katastrophe, Nähe und Kommunikationsblockaden zielt, was Oz in einem Interview sagte, das Talya Halkin von der israelischen Post letztes Jahr mit ihm führte. Hätte er nur ein Wort zur Charakterisierung seiner Romane und Erzählungen, so hieße es »Familien«, hätte er zwei Wörter, so lauteten sie: »unglückliche Familien«. Die Familie sei für ihn die aufregendste Institution in der Welt, die widersprüchlichste und paradoxeste, dabei von enormer Langlebigkeit. Da ist es nur konsequent, nach autobiographisch geprägten Romanen und Erzählungen schließlich die eigene Familiengeschichte als Roman zu schreiben. 2002 ist auf Hebräisch, zwei Jahre später ist auf Deutsch Eine Geschichte von Liebe und Finsternis erschienen.

Die eigene Geschichte als Roman zu erzählen erlaubt es Oz, Fakten und Erlebnisse, wie sie sich in seiner Erinnerung darstellen, wie sie ihm vom Hörensagen bekannt sind oder wie sie ihm bei seinen Erkundungen und Recherchen begegnen, zu vertiefen, zu verdichten, auszumalen, zu ergänzen. Was er nicht weiß, nicht in Erfahrung bringen kann, erfindet er: Gespräche seiner Großeltern etwa, die geführt wurden, als er noch gar nicht geboren war. Das – so Oz – habe nichts mit Fiktionalisierung zu tun. Vielmehr gehe es um Authentizität, auch wenn sie nicht unmittelbar, sondern erst auf einer zweiten Ebene zu haben ist. »Ist nicht alles, das Leben selber, eine Mischung aus Fakten, Fiktion und Imagination?«, fragte er bei einer Lesung im Frankfurter Literaturhaus. Mehr noch als die Schilderung des Erlebten verlockt die des Erfundenen zur Literarisierung, zur Verwendung rhetorischer Figuren wie Übertreibung, Sarkasmus, Groteske, Ironie und Humor, die seiner Erzählkunst das spezifisch ozsche Flair von Frische und Vitalität, Pathos und Spannung verleihen.

 

Geboren wurde Amos Oz am 4. Mai 1939 als Amos Klausner im Jerusalemer Stadtviertel Kerem Avraham, das hauptsächlich von Osteuropäern bewohnt war. Es war die Welt Tschechows, die Welt von Onkel Wanja und Doktor Samoilenko, in der der kleine Amos aufwuchs. In der Nachbarschaft wohnten Russen unterschiedlicher Provenienz, von seinen Eltern unterteilt in Tolstoijaner – das waren die Naturliebhaber und Weltverbesserer – und Dostojewskijaner – »redselige, von unterdrückten Leiden und Ideen verzehrte« Menschen. Die dreiköpfige Familie bewohnte eine niedrige, etwa 30 Quadratmeter kleine, dunkle und feuchte Erdgeschosswohnung. Doch gab es dort Bücher; Bücher über Bücher – an allen Wänden, auf jeder Fensterbank, sogar im Flur und in der Küche. Bücher erschienen dem Kind als etwas Unsterbliches. Er träumte davon, einmal ein Buch zu werden, nicht ein Schriftsteller, den man umbringen könnte, sondern ein Buch, von dem gewiss wenigstens ein Exemplar in irgendeinem Regal irgendwo auf der Welt überlebte.

Mit sechs bekam Amos seinen eigenen Platz auf dem vom Vater für ihn leer geräumten untersten Brett in einem der überquellenden Regale. Zum Entsetzen des Vaters ordnete er seine Kinderbücher nach ihrer Größe ein. »Was«, rief der Vater, »sind Bücher denn Soldaten?« Dann führte er seinen Sohn in die »Geheimnisse der Bibliothekarskunst« ein. Der Junge ordnete seine 20, 30 Bücher nach allen möglichen Kriterien immer wieder neu. »So lernte ich von den Büchern die Kunst der Komposition.« Dieses »Ordnen und Durcheinanderbringen«, »Zusammenfügen und Trennen« dehnte er auf Streichholzschachteln und Knöpfe, Dominosteine und Spielkarten aus. So eignete er sich spielerisch jenen »epischen Rhythmus« an, der später kennzeichnend für seine Romane und Erzählungen wurde.

Amos Vater, Jehuda Arie Klausner, war ein hochgebildeter Bibliothekar. Er konnte 16, 17 Sprachen lesen, 11 sprechen. Als seine Eltern 1933 mit ihm von Wilna über Triest nach Haifa flohen, hatte er gerade sein Studium der polnischen Literatur und allgemeinen Literaturwissenschaften abgeschlossen und hoffte, in Jerusalem seinen Traum verwirklichen zu können, »ein kühner Pionier bei der Erneuerung des hebräischen Geistes« zu werden, Schtetl und Jiddisch, Verfolgung und Ohnmacht endgültig hinter sich zu lassen und sich als Hebräer-Europäer gleichsam neu zu erschaffen. Doch gab es zu jener Zeit nur eine einzige kleine Universität und Dutzende von Professoren, die vor dem zunehmend gewalttätiger werdenden Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung nach Palästina geflohen waren. Statt als Forscher und Gelehrter seinen Lebensunterhalt zu verdienen, schlug sich Amos’ Vater mühsam als Bibliothekar in der Zeitungsabteilung der Nationalbibliothek durch und schrieb nachts seine Bücher über die Geschichte der Novelle und die Geschichte der Weltliteratur.

 

Ein Onkel des Vaters, Joseph Gedalja Klausner, hatte eine der wenigen Professuren inne, die es damals in Jerusalem gab. Er war, so Oz, ein »aufgeklärter Nationalliberaler«, dessen Leitspruch »Judentum und Humanismus« hieß. In seinem Standardwerk über die von 1917 bis 1948 währende britische Mandatszeit in Palästina, Es war einmal ein Palästina, charakterisiert der israelische Historiker Tom Segev Joseph Klausner als einen kämpferischen Patrioten, »eine ungewöhnliche Mischung aus kultureller Weltoffenheit und hebräischem Nationalismus«. Durch seine zahlreichen Schriften, darunter das Furore machende Buch über Jesus von Nazareth und eine Geschichte der neuhebräischen Literatur wurde Klausner weit über die Grenzen Palästinas hinaus bekannt. Er war 1874 im litauischen Olkeniki zur Welt gekommen. Wegen antisemitischer Schikanen war die Familie um die Jahrhundertwende nach Odessa gezogen, wo Klausner 1917 eine Professur für hebräische Literatur übernahm. 1919 schiffte er sich mit seiner Frau und seiner Mutter auf der »Ruslan«, einer Art jüdischer Mayflower, nach Jaffa ein und ließ sich im Jerusalemer Bucharenviertel nieder. Er arbeitete am Institut für hebräische Literatur und erhielt später noch den Lehrstuhl für die Erforschung der Geschichte des Zweiten Tempels. Amos Oz besuchte gelegentlich mit seinen Eltern diesen in strenger Askese lebenden Gelehrten. In seinem Haus, in dem die Buchregale mit ihren 25000 Bänden bis zur Decke reichten, sprach man im Flüsterton, hielt sich mit eigenen Äußerungen zurück, stimmte bei Tisch den Reden des Hausherrn zu, die Männer mit Worten, die Frauen still lächelnd. Die treu ergebene Ehefrau förderte die patriarchalische Haltung ihres Mannes, indem sie ihm jeden Wunsch von den Lippen ablas, ihr Leben ganz seinen Studien und Forschungsarbeiten unterordnete. Amos Oz schildert das lapidar, nicht ohne Ehrerbietung, nicht ohne Ironie.

Amos’ Großvater war 1921 mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, Arie und David, von Odessa zurück nach Wilna geflohen um nicht in den auf die Oktoberrevolution folgenden blutigen Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen zu geraten. Doch auch in Wilna machten Fremdenhass und Antisemitismus das Leben unerträglich. Von den damals erlittenen Demütigungen erzählte Arie seinem Sohn nur ein einziges Mal: flüsternd, nachts, unter der gemeinsamen Bettdecke am 29. November 1947. An jenem Tag hatte die UN-Vollversammlung in Lake Success bei New York beschlossen, auf dem britischen Mandatsgebiet zwei Staaten, einen arabischen und einen jüdischen, zu errichten. Die Nachricht, die die in den Straßen Jerusalems wartenden jüdischen Einwohner nachts übers Radio erreichte, wurde mit großem Jubel, mit Tänzen, Fahnenschwenken, Autohupen, jüdischen Gesängen und Schofarblasen in den Synagogen begrüßt. »Schau dir das sehr gut an«, hatte Arie zu dem auf seinen Schultern sitzenden achtjährigen Amos gesagt, »diese Nacht wirst du bis an dein Lebensende nicht vergessen, und von dieser Nacht wirst du noch deinen Kindern, Enkeln und Urenkeln erzählen, wenn wir schon lange nicht mehr da sind.« Später im Bett dann, als der Vater ihm unter Tränen – nur dies einzige Mal erlebte Amos seinen Vater weinend – stockend von den Demütigungen in Odessa und Wilna erzählte, fügte er hinzu: »In dem Augenblick, in dem wir unseren eigenen Staat haben werden«, werde niemand mehr attackiert werden, nur weil er Jude ist.

Der in Wilna gebliebene Bruder des Vaters, David Klausner, ein Spezialist für vergleichende Literaturwissenschaft, Dozent an der Wilnaer Universität, war nicht mit nach Palästina geflohen. »Er blieb auf seinem Posten«, so Oz, »hielt die Fahne von Fortschritt, Kultur, Kunst und Geist, der keine Grenzen kennt, hoch, bis die Nazis nach Wilna kamen: Kulturliebende Juden, Intellektuelle und Kosmopoliten waren nicht nach ihrem Geschmack, und deshalb ermordeten sie David, seine Frau Malka und meinen kleinen Cousin Daniel.«

 

Amos Oz’ Mutter, Fania Klausner, geb. Mußmann, war 1934 als 24-Jährige nach Palästina gekommen. Sie stammte aus Rowno in der Ukraine, hatte in Prag an einer der wenigen Juden offen stehenden Universitäten Osteuropas studiert, ihr Geschichts- und Philosophiestudium in Jerusalem fortgesetzt, konnte acht Sprachen lesen, vier, fünf sprechen. Nach der Heirat und der Geburt ihres Sohnes Amos lebte sie wie eingesperrt in der kellerartigen Wohnung, kochte, wusch, putzte, versorgte das kränkliche Kind. Sie war von Sehnsucht nach der europäischen Heimat erfüllt, war oft depressiv. Die Nachricht, dass am 7./8. November 1941 23000 Juden, darunter ihre einstigen Klassenkameradinnen und Freunde, innerhalb von zwei Tagen im Sossenki-Wald bei Rowno von deutschen Soldaten ermordet worden waren, und am 13. Juli 1942 noch einmal 5000, traumatisierte sie. Sie litt unter Schlaflosigkeit, Migräneanfällen, Appetitlosigkeit. Oft saß sie stundenlang am Fenster, starrte apathisch in die Nacht hinaus. Arie und Amos übernahmen nach und nach die Hausarbeiten, die Einkäufe, schließlich ihre Pflege. Zwischen Phasen sich verdunkelnden Lebens gab es jedoch auch immer wieder Zeiten wacher Bewusstheit und liebevoller Zuwendung. Die Aufmerksamkeit für die unscheinbaren Dinge, die sich überall in Amos Oz’ Werk findet, gründet in der feinen Beobachtungsgabe seiner Mutter und ihrer Wertschätzung scheinbar toter Gegenstände. »Mutter bestand immer darauf, dass es nicht genüge, die Namen der Dinge zu kennen, sondern man solle sich auch mit ihnen durch Schnuppern vertraut machen, durch leichtes Berühren mit der Zungenspitze, durch Betasten, solle die Wärme und Glätte der Dinge kennen lernen, ihren Geruch, ihre Rauheit, ihre Härte, die Klänge, die sie machten, wenn du mit dem Finger auf sie klopftest, all das, was Mutter ›Erwidern‹ und ›Widersetzen‹ nannte. … Auch in den Gegenständen und Pflanzen ist ein Wollen oder Nichtwollen, nicht unsererseits, sondern ihrerseits, und nur wer es versteht, zu fühlen und zu lauschen, zu schmecken und zu schnuppern, ohne Verlangen, der kann manchmal auch etwas davon wahrnehmen.« Den Vater animierte das zu ironischen Scherzen. Er spöttelte: Von König Salomo heiße es, er habe die Sprache der Tiere und Vögel gekannt, die Mutter überträfe ihn noch. »Sie ist sogar in den Sprachen des Handtuchs, des Topfes und der Bürste bewandert.«

Beides, die mütterliche Fähigkeit zu intensiver Wahrnehmung und Versenkung und die väterliche zu ironischem Witz und humorvoller Lässigkeit im Umgang mit ernsten Dingen, spiegelt sich im Werk des Sohnes auf vielfältige Weise. In einer seiner Reden zum israelisch-palästinensischen Konflikt (»How to Cure a Fanatic«) weist Oz dem Humor eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung des Fanatismus zu. Humor sei die Fähigkeit, sich selbst zu sehen, wie andere einen sehen; Humor sei die Fähigkeit zu erkennen, dass alles im Leben eine komische Seite hat – gleichgültig, wie sehr man im Recht ist und wie sehr einem Unrecht zugefügt würde.

Auch in Zeiten, als seine Eltern sich liebevoll um ihn kümmerten, war Amos, der ohne Geschwister, ohne gleichaltrige Nachbarskinder aufwuchs, viel allein und auf sich gestellt. Er wusste sich mit von ihm erfundenen Spielen zu helfen und las alles, was ihm in die Hand kam. Trafen sich seine Eltern mit Freunden im Kaffeehaus, saß er zwar still, wie es die Erwachsenen wünschten, beobachtete aber intensiv die anderen Gäste, lauschte ihren Gesprächen, verstrickte sie in abenteuerliche Geschichten, spann sie weiter und weiter aus, wobei er sich selber eine hehre Rolle zu geben pflegte. So habe sein Schriftstellerleben angefangen: in Kaffeehäusern, meinte Amos Oz einmal. »Bis zum heutigen Tag stehle ich so. Vornehmlich bei Fremden. Vornehmlich an belebten öffentlichen Orten.« Beim Warten in einer Klinik, auf Bahnhöfen und Flughäfen, im Stau: »Ich spähe und erfinde Geschichten. Erfinde, spähe und erfinde weiter. … Ein kurzer Moment und die Gelegenheitshelden meiner Geschichten sind von meiner unsichtbaren Paparazzikamera eingefangen.«

Es kam eine Zeit, in der die Mutter immer seltener das Haus verließ. Mit zunehmender Apathie und nachlassender Aufmerksamkeit des müder werdenden Vaters, schließlich der einsetzenden Pubertät des Jungen wuchs die Einsamkeit eines jeden von ihnen. »Was wusste mein Vater von ihrer Qual? Was verstand meine Mutter von seinem Leid? … Was konnten sie und er über die Widerwärtigkeit meiner Nächte wissen? … Nichts ahnten meine Eltern. ... Tausend Jahre der Finsternis lagen zwischen ihnen und mir. … Tausend Jahre der Finsternis zwischen jedem und jedem.« Im Januar 1952 nahm sich die Mutter mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Kein einziges Mal, so Oz, habe er während der zwanzig Jahre, die sein Vater noch lebte, über die Mutter gesprochen. »Bis jetzt, bis zum Schreiben dieser Seiten«, habe er auch mit niemandem sonst über sie gesprochen. Auch über seinen Vater kaum. »Als wäre ich ein Findelkind.«

 

Er erschuf sich gleichsam neu. Nach dem Tod der Mutter hatten sich seine Schulnoten verschlechtert. Mit dem Vater sprach er über alltägliche Dinge, wer wann was einkaufte, nie über sich selbst, allenfalls über Politik. Doch da drifteten ihre Meinungen im Laufe der Zeit immer mehr auseinander. Während Amos sich für den Sozialismus als eine viel versprechende Gesellschaftsform begeisterte, sah Arie darin eine »rote Epidemie«. Nach der Wiederverheiratung des Vaters entschloss er sich zu einem Neuanfang außerhalb der Mauern Jerusalems. »Im Alter von vierzehneinhalb Jahren, rund zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter, erhob ich mich und brachte Vater um, brachte ganz Jerusalem um, änderte meinen Namen und zog allein in den Kibbuz Hulda, um dort auf den Ruinen zu leben.«

Auf den Ruinen ist der Titel eines Buches von Zvi Liebermann-Livne, das Amos wieder und wieder gelesen hatte. Es handelt von einem abgelegenen jüdischen Dorf inmitten schöner Hügellandschaft zur Zeit des Zweiten Tempels, das von römischen Legionären überfallen und verwüstet wird. Die Erwachsenen hatten die Kinder, die zu klein waren, um bei der Verteidigung des Dorfes mitzuwirken, in einer Höhle versteckt. Die Erwachsenen wurden niedergemetzelt. Die Kinder beschlossen, eine Gemeinschaft Gleichberechtigter zu bilden und das Dorf wieder aufzubauen. Es entsteht eine Art idyllischer Kibbuz, in dem eine starke und heldenhafte Generation »aus eigener Kraft von der ›Shoah zum Heldentum‹ und aus der Finsternis zu großem Licht aufsteigt«.

Indem Amos seinen europäischen Familiennamen Klausner ablegte und sich fortan Oz – hebräisch für: Kraft, Stärke – nannte, versuchte er das Diaspora-Judentum, »das Knäuel aus Trauer, unterdrückten Ängsten, Hilflosigkeit und Resignation« hinter sich zu lassen und zu einem jener »stämmigen, von Staub und Sonne gegerbten Jungen«, einem jener tatkräftigen, vorwärtsstrebenden Pioniere zu werden, die das Land auf- und bebauten und in Besitz nahmen. Die Änderung seines Namens stand ganz in der Tradition der zionistischen Bewegung. Klassische Autoren hebräischer Literatur, wie zum Beispiel Chajm Nachman Bialek und Scha’ul Tschernichowsky, wurden von der zionistischen Kommission angegriffen, weil sie ihre Namen nicht hebräisierten. Paradoxerweise sprachen die meisten Mitglieder dieser Kommission gar kein Hebräisch; ihre Sitzungen fanden auf Englisch, manchmal sogar auf Deutsch statt. »Wer von uns«, hatte Theodor Herzl in Der Judenstaat gefragt, »weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen?« Für die meisten in Palästina beziehungsweise in Israel geborenen Kinder der Diasporajuden war Hebräisch dann aber, wie für Amos Oz selber, die Muttersprache, und politisch engagierte international bekannte israelische Gegenwartsautoren wie Uri Avnery, David Grossman, Abraham B. Yehoshua, Jehoschua Kenaz, Eleonora Lev oder Betya Gur schrieben und schreiben auf Hebräisch. Flüchtlinge, die vor antisemitischen Ausschreitungen, vor Entrechtung, Beraubung und Tod aus Europa geflohen waren, erlebten das Hebräische zunächst allerdings als eine abweisende Barriere. Aharon Appelfeld aus Czernowitz beispielsweise, sieben Jahre älter als Oz, fiel es nach verzweiflungsvoller, ermüdender Flucht schwer, die deutsche Muttersprache zugunsten der erst mühsam zu erlernenden hebräischen Sprache aufzugeben, ja, überhaupt sich mit den israelischen Aufbauprojekten zu identifizieren. In den Kibbuzim sah er »die besten Gewächshäuser für die Aufzucht des Vergessens«. »Als ich 1946 ins Land kam«, so Aharon Appelfeld in einem Interview mit Gisela Dachs in der Zeit (17.3.05), »sollte ein neuer Jude geschaffen werden. Er sollte größer, blonder sein. Er sollte Bauer sein und Soldat. Er sollte die Vergangenheit hinter sich lassen.«

Als Amos Oz 1954 in den Kibbuz Hulda, benannt nach einer Prophetin, eintrat, erlebte er bald zu seinem Erstaunen, dass es auch dort ein reiches kulturelles Leben gab. In dem seiner Mutter gewidmeten Kibbuz-Roman Ein anderer Ort etwa spielt Herbert Segal, seit 27 Jahren Melker im Kibbuz Mezudat Ram, nach Feierabend Geige, liest Hegel und Marx, Luxemburg und Saint-Simon. Die zunächst verdrängte und überwunden geglaubte Leseleidenschaft erwachte neu.

 

In der Geschichte von Liebe und Finsternis bekennt Oz, dass er bei seinem Eintritt ein glühender Nationalist und zionistischer Propagandist gewesen sei, der alles aus jüdischer Perspektive gesehen habe. An anderer Stelle spricht er von sich als einem selbstgerechten, chauvinistischen kleinen Fanatiker, den man als Kind einer Gehirnwäsche unterzogen habe. Wie die rechtskonservativen Kreise seiner Herkunft war auch er der Auffassung, während ihrer dreißigjährigen Mandatsherrschaft seien die Briten eher proarabisch als prozionistisch gewesen. Genau das Gegenteil war aber der Fall. Mit den Vertretern der zionistischen Bewegung verhandelten sie auf höchster Ebene, während sie die Araber eher wie die Völker ihrer einstigen Kolonien behandelten. Wenn man die arabischen Landbewohner in ihrer Unwissenheit belasse, so meinten sie, erspare man sich Unkosten und Unruhen. Statt auf Bildung wurde auf Überwachung Wert gelegt und beispielsweise überprüft, ob Kinder, die am Balfour-Gedenktag die Schule geschwänzt hatten, auch ordnungsgemäß ausgepeitscht worden seien. Tom Segev, einer der bekanntesten Vertreter einer »neuen Geschichtsschreibung« in Israel, schöpft zur Schilderung dieser Geschehnisse in seinem jüngst erschienenen Buch Es war einmal ein Palästina aus einer Vielzahl von Quellen und lässt die in Tagebüchern, Briefen, Memoiren, Dokumenten und Protokollen, Zeitungsartikeln und Büchern vernehmlichen Stimmen berühmter und unbekannter Menschen gleichermaßen zu Wort kommen. Auch des Terrors verdächtige Juden wurden verhaftet, gefoltert, nach Afrika deportiert, hingerichtet. Doch Kollektivbestrafungen ganzer Dörfer, etwa wegen eines Attentats in der Nachbarschaft, seien nur in arabischen Gemeinden gängige Praxis gewesen. Der schwer wiegende Irrtum der Briten seit Beginn ihrer Mandatsherrschaft 1917 – so die zentrale These von Segevs Buch – sei die Überzeugung gewesen, die Errichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden sei durchführbar, »ohne den Arabern zu schaden«. In Wahrheit jedoch bildeten sich in Palästina »zwei rivalisierende nationalistische Bewegungen heraus, die unweigerlich auf eine Konfrontation zusteuerten«.

Der Amos Oz der Fünfzigerjahre war von der Legitimität jüdischer Landnahme überzeugt und identifizierte sich voll mit dem jüdischen Aufbauprojekt. Er wollte dazugehören, verrichtete schwere Feld- und Erntearbeit, versuchte einer dieser kräftigen, sozialistisch argumentierenden Pioniere zu werden. Von 1957 bis 1960 leistete er seinen Wehrdienst. Danach schickte ihn der Kibbuz an die Hebräische Universität in Jerusalem, weil es an Lehrern für Hebräische Literatur mangelte. Oz studierte Philosophie und Literaturwissenschaften, publizierte 1965 sein erstes Buch, eine Sammlung von Kurzgeschichten Where the Jackals Howl, arbeitete weiter in der Landwirtschaft, unterrichtete und schrieb Gedichte, politische Aufsätze, Romane. Bereits in seinem ersten Roman Elsewhere perhaps von 1966 entwirft Oz ein multiperspektivisches, vielstimmiges Bild vom Leben in einem Kibbuz; von den Spannungen, ideologischen Differenzen, den Leidenschaften und Tröstungen des Gemeinschaftslebens von Menschen, »die eifrig die Welt verbessern wollen und die menschlichen Schwächen dadurch bekämpfen, dass die Gemeinde als ganze gegen ihre Schwächen vorgeht und jeder Einzelne gegen die leichten Anfechtungen seiner eigenen Seele zu Felde zieht«.

Sein zweiter Roman Mein Michael von 1968, eine Ehe- und Trennungsgeschichte vor dem historisch-politischen Hintergrund der Fünfzigerjahre, machte ihn bereits weit über Israel hinaus bekannt. Zwar lernte Oz, der sich im Rückblick einmal als verblendetes »Jewish Intifada Kid« bezeichnete, im Kibbuz auch den israelisch-palästinensischen Konflikt aus der Sicht der Araber sehen, ihr Anrecht auf eigenes Land als gleichberechtigt mit dem der Juden anzuerkennen. Doch obgleich der Kibbuz mehr als dreißig Jahre sein Zuhause war – bis 1986, als er mit seiner Frau, die er im Kibbuz kennen lernte, und mit seinen beiden Töchtern und seinem Sohn nach Arad am Rand der Negev-Wüste zog –, fühlte er sich dort nie ganz heimisch.

 

Das Gefühl des Andersseins – so Oz einmal über sein Außenseitertum – habe er an Asarja Gitlin in dem Roman Der perfekte Frieden von 1982 weitergegeben. Wichtiger aber noch ist die Erfahrung, die in der Gestalt des Jonathan Lifschitz vergegenwärtigt wird – ein Kibbuznik von Geburt an, der eines Tages beschließt, seine Frau, seine Eltern und die ganze Gemeinschaft ohne Ankündigung zu verlassen. Ein Mann, dessen Zynismus, Zorn und Gewaltfantasien teils in seinem Wehrdienst begründet liegen, teils dadurch entfesselt wurden. »Weißt du noch«, fragt er einen Kriegskameraden, »wie wir bei der Kommandoaktion gegen die Syrer in Nukeib einen toten syrischen Soldaten, dem’s den ganzen Unterleib weggerissen hatte, in den Jeep gesetzt haben, mit seinen Händen am Steuerrad, und ihm eine brennende Zigarette in den Mund gesteckt haben und dann abgehauen sind?« Von der Authentizität solcher Fiktionen zeugt beispielsweise ein Bericht der israelischen Zeitung Jediot Achronot vom 17.11.2004. Mitglieder einer streng religiösen Armee-Einheit hätten mit der Leiche eines bei der Explosion eines Sprengsatzes getöteten Palästinensers gespielt. Ein Kommandeur habe sich mit einem abgetrennten Kopf  abbilden lassen, der auf einen Eisenpfahl gesteckt worden sei und mit einer Zigarette im Mund »wie eine Vogelscheuche« ausgesehen habe. Wo Krieg herrscht, herrscht Gewalt. Aber nicht um deren Darstellung geht es bei Oz, sondern darum, was dadurch in Menschen angerichtet wird, wie sie dadurch deformiert oder zugrunde gerichtet werden.

Amos Oz selbst nahm 1967, 28-jährig, als Reservist einer Panzer-Einheit an der ägyptischen Front auf Sinai am Sechstagekrieg teil. 1973, im Yom-Kippur-Krieg, kämpfte er an der syrischen Front. Im Rückblick bezeichnete er seine Zeit als Soldat als »die schrecklichste Erfahrung meines ganzen Lebens«. Doch schäme er sich nicht, in diesen beiden Kriegen gekämpft zu haben. Er würde jederzeit wieder kämpfen, wenn sein Land von der Landkarte gelöscht oder sein Volk vernichtet werden sollte – niemals aber für Extraterritorien oder heilige Stätten, für Reichtum, Macht oder Prestige.

Heute ist das Problem, das die Briten vor fast sechzig Jahren mit ihrem zwiefach vergebenen Versprechen zur Nationenbildung hinterließen, wieder Verhandlungssache. Als Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung »Peace Now« (1978) und Mitverfasser der Genfer Initiative für ein Friedensabkommen im Nahen Osten (2003) ist Amos Oz in diesen Prozess als eine auf Ausgleich, Versöhnung und Frieden bedachte Instanz involviert. Die Palästinenser, sagt er, sind in Palästina, weil Palästina das einzige Heimatland des palästinensischen Volkes ist. Und die israelischen Juden sind in Israel, weil es kein anderes Land auf der Welt gibt, das das jüdische Volk als seine Heimat bezeichnen könnte. Die Tragödie des israelisch-palästinensischen Konflikts liege darin, dass hier die berechtigten Ansprüche zweier Völker auf dasselbe kleine Land aufeinander prallen. Beide Völker seien Opfer desselben Unterdrückers, nämlich Europas. Europa habe die arabische Welt kolonisiert, ausgebeutet, gedemütigt und als imperialistische Spielwiese benutzt. Und Europa war es, das Juden diskriminierte, verfolgte und millionenfach in einem beispiellosen Genozid ermordete. Dennoch fände sich der israelische Jude in der arabischen Literatur als Verlängerung des weißen, tyrannischen, grausamen Europas der Kolonialzeit wieder. Obgleich Israel in Wirklichkeit nur ein großes Flüchtlingslager mit traumatisierten Überlebenden und Flüchtlingen sei, die zudem zur Hälfte aus arabischen und islamischen Ländern stammten. Israelische Juden ihrerseits sähen in Palästinensern nicht die Opfer jahrhundertealter Unterdrückung, sondern »pogrom-makers« und Nazis, die den Juden aus Spaß die Kehle durchschnitten. Die einzige Lösung sieht Oz in der Schaffung zweier durch eine Grenze getrennter Staaten. Wie schmerzlich der Verlust von Gebieten auch für beide Seiten sein werde, nur so ließe sich nach hundertjährigem Krieg zwischen Juden und Palästinensern Frieden schließen. In diesem Zusammenhang zitiert Oz Robert Frosts Einsicht: »Good fences make good neighbours.«

Der zur Debatte stehende und im Wesentlichen von Oz befürwortete Teilungsplan ähnelt in vielem dem Beschluss der UN vom 29.11.1947, Palästina in einen jüdischen und in einen arabischen Staat zu teilen und Jerusalem unter internationale Aufsicht zu stellen. Damals – vor 58 Jahren und fünf Kriegen – lehnten nicht nur die Araber die UN-Resolution ab und hielten an ihrer Forderung nach der Unabhängigkeit ganz Palästinas fest, mit dem Versprechen übrigens, die jüdische Minderheit zu respektieren. Auch revisionistische jüdische »Falken« waren nicht bereit, auf bestimmte, den Arabern zugedachte Territorien zu verzichten, und binationale »Tauben« sprachen sich gegen eine Trennung und für eine Form der Koexistenz aus. Der Krieg und die einsetzende Massenflucht sowie die Vertreibung von etwa 750000 Arabern führte zur Errichtung der heute noch bestehenden zahlreichen Flüchtlingslager im Mittleren Osten. In einem »Postscript« zum Genfer Friedensabkommen, das er zusammen mit seinen Kollegen Grossman und Yehoshua unterzeichnete, betonte Oz ausdrücklich, dass kein einziges der Flüchtlingslager der 1948 vertriebenen Palästinenser bestehen bleiben dürfe.

 

Amos Oz’ Erzählungen und Romane sind Schauplätze extensiven, polyphonen Kommunizierens. Ob es um die Einbeziehung des Lesers geht, wie sie sich in dem Roman Keiner bleibt allein bereits im ersten Satz : »Vor Ihnen liegt der Kibbuz …« ankündigt, oder um Auseinandersetzungen zwischen den Generationen (Der perfekte Frieden), zwischen den Geschlechtern (Mein Michael; Blackbox), um das Heraufbeschwören der Vergangenheit (Eine Frau erkennen) oder  um Konfrontationen zwischen Kibbuzbewohnern (Elsewhere, Perhaps) – immer geht es um eine durch Diskussionen vorangetriebene Suche nach dem Standort des Einzelnen und dem des jüdischen Volkes im nationalen und internationalen Kontext.

Der dritte Zustand, einer der erfolgreichsten Romane von Oz, ist erfüllt von einem an- und abschwellenden, inneren und äußeren, ein- und vielstimmigen Reden, in dem profane Alltagserfahrungen, historische, politische, geschlechts- und generationsspezifische Probleme mit einer Vielfalt formaler Mittel – in Dialogen und Briefen, Visionen und Träumen – und in vielfältiger Färbung – lakonisch, lyrisch, schwelgerisch, ironisch, salopp – thematisiert werden. Der Protagonist Ephraim Nissan, Sekretär in einer Arztpraxis, von seinen Freunden Fima genannt, ist geradezu ein Rede- und Kommunikationsfanatiker, dem sich die Kette alltäglicher Erlebnisse sogleich in erfrischend selbstironische oder auch erbarmungslos selbstkritische Selbstgespräche verwandelt; jemand, dessen rhetorisches Talent sich in Wortgefechten, in Kaskaden von Fragen, in endlosen Monologen entfaltet. Untergründig ist immer die Erinnerung an ein ihn mit Trauer erfüllendes Erlebnis da: Während er mit dem Fahrrad die ausgestorbene Straße entlangfährt, stehen Vater und Mutter auf dem Balkon über ihm, streng und aufrecht, dunkel gekleidet, schweigend, einander nicht berührend. Was zwischen Anfang und Ende des Romans ausgebreitet wird, nimmt sich aus wie das von ununterbrochenem Reden erfüllte Anleben gegen »die tiefe Schmach jenes Schweigens, das seine Kindheit über zwischen ihnen herrschte«. Die Gewissheit, dass es »etwas Grundwichtiges gibt«, zu dem er »gewissermaßen dauernd unterwegs« ist und das es zu erkämpfen gilt, »solange man fähig ist, Worte aneinander zu fügen«, gibt dem Protagonisten Kraft und treibt ihn voran.

Im eingangs erwähnten Roman Allein das Meer wird dies Motiv noch einmal radikalisiert und poetisiert. Der Erzähler schreibt auf einem massiven Tisch. Der Tischler aus Sarajewo, der ihn herstellte, nahm sich in Israel, für alle unerwartet, das Leben. Der Erzähler ist sich klar darüber, dass der Tisch, wie alle anderen Dinge auch, zerfallen wird, dass die Natur, die Berge, die Nächte vergehen werden. »Allein das Meer«, heißt es einmal, »ist da«, das Meer, in das alles strömt, aus dem alles kommt, das Meer, das in der Vorstellung des Erzählers letzten Endes freilich nichts anderes ist als »Stille. Stille. Stille«. Ein Blick auf die Uhr, das Bellen von Hunden in der Dunkelheit mahnen ihn nun, sein eigenes Werk voranzutreiben, dem Schweigen des Universums einiges zu entwinden.

So ergänzen und sekundieren der politische und der literarische Oz einander. Der »Sprachfeuermann« – wie er sich selber nennt – arbeitet mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln daran, dass aus einer Kommunikation entstellenden Nähe ein von Toleranz und Humor geprägtes kommunikatives Nebeneinander wird.