Dem Schweigen des Universums einiges entwinden
Mehr als ein Dutzend Romane hat Amos Oz bisher veröffentlicht, in mehr als 25 Sprachen sind seine Bücher und Artikel übersetzt. So ist er zum Botschafter seines Landes, seiner Gesellschaft geworden. Was für ein Botschafter welches Landes, welcher Gesellschaft?
Von seinem vor drei Jahren
erschienenen Roman Allein das Meer meinte Oz, dies Buch stehe ihm am
nächsten. Acht Menschen reden miteinander – brieflich, telefonisch, gestisch,
von Angesicht zu Angesicht. Die polyphone Kommunikation, die alltägliche
Geschäftigkeit ist grundiert und durchbrochen von Scud-Raketen, bewaffneten
Siedlern, dem Schrei einer Jüdin, als vor ihren Augen ihr Kind getroffen wird,
dem Schrei einer Palästinenserin, als ihr Haus zerstört wird. Auf die gleiche
Verschränkung von Zusammenleben und Katastrophe, Nähe und
Kommunikationsblockaden zielt, was Oz in einem Interview sagte, das Talya
Halkin von der israelischen Post letztes Jahr mit ihm führte. Hätte er
nur ein Wort zur Charakterisierung seiner Romane und Erzählungen, so hieße es
»Familien«, hätte er zwei Wörter, so lauteten sie: »unglückliche Familien«. Die
Familie sei für ihn die aufregendste Institution in der Welt, die
widersprüchlichste und paradoxeste, dabei von enormer Langlebigkeit. Da ist es
nur konsequent, nach autobiographisch geprägten Romanen und Erzählungen
schließlich die eigene Familiengeschichte als Roman zu schreiben. 2002 ist auf
Hebräisch, zwei Jahre später ist auf Deutsch Eine Geschichte von Liebe und
Finsternis erschienen.
Die eigene Geschichte als
Roman zu erzählen erlaubt es Oz, Fakten und Erlebnisse, wie sie sich in seiner
Erinnerung darstellen, wie sie ihm vom Hörensagen bekannt sind oder wie sie ihm
bei seinen Erkundungen und Recherchen begegnen, zu vertiefen, zu verdichten,
auszumalen, zu ergänzen. Was er nicht weiß, nicht in Erfahrung bringen kann,
erfindet er: Gespräche seiner Großeltern etwa, die geführt wurden, als er noch
gar nicht geboren war. Das – so Oz – habe nichts mit Fiktionalisierung zu tun.
Vielmehr gehe es um Authentizität, auch wenn sie nicht unmittelbar, sondern
erst auf einer zweiten Ebene zu haben ist. »Ist nicht alles, das Leben selber,
eine Mischung aus Fakten, Fiktion und Imagination?«, fragte er bei einer Lesung
im Frankfurter Literaturhaus. Mehr noch als die Schilderung des Erlebten
verlockt die des Erfundenen zur Literarisierung, zur Verwendung rhetorischer
Figuren wie Übertreibung, Sarkasmus, Groteske, Ironie und Humor, die seiner
Erzählkunst das spezifisch ozsche Flair von Frische und Vitalität, Pathos und
Spannung verleihen.
Geboren wurde Amos Oz am 4. Mai 1939 als Amos Klausner im Jerusalemer
Stadtviertel Kerem Avraham, das hauptsächlich von Osteuropäern bewohnt war. Es
war die Welt Tschechows, die Welt von Onkel Wanja und Doktor Samoilenko, in der
der kleine Amos aufwuchs. In der Nachbarschaft wohnten Russen unterschiedlicher
Provenienz, von seinen Eltern unterteilt in Tolstoijaner – das waren die
Naturliebhaber und Weltverbesserer – und Dostojewskijaner – »redselige, von
unterdrückten Leiden und Ideen verzehrte« Menschen. Die dreiköpfige Familie
bewohnte eine niedrige, etwa 30 Quadratmeter kleine, dunkle und feuchte
Erdgeschosswohnung. Doch gab es dort Bücher; Bücher über Bücher – an allen
Wänden, auf jeder Fensterbank, sogar im Flur und in der Küche. Bücher
erschienen dem Kind als etwas Unsterbliches. Er träumte davon, einmal ein Buch
zu werden, nicht ein Schriftsteller, den man umbringen könnte, sondern ein Buch,
von dem gewiss wenigstens ein Exemplar in irgendeinem Regal irgendwo auf der
Welt überlebte.
Mit sechs bekam Amos
seinen eigenen Platz auf dem vom Vater für ihn leer geräumten untersten Brett
in einem der überquellenden Regale. Zum Entsetzen des Vaters ordnete er seine
Kinderbücher nach ihrer Größe ein. »Was«, rief der Vater, »sind Bücher denn
Soldaten?« Dann führte er seinen Sohn in die »Geheimnisse der
Bibliothekarskunst« ein. Der Junge ordnete seine 20, 30 Bücher nach allen
möglichen Kriterien immer wieder neu. »So lernte ich von den Büchern die Kunst
der Komposition.« Dieses »Ordnen und Durcheinanderbringen«, »Zusammenfügen und
Trennen« dehnte er auf Streichholzschachteln und Knöpfe, Dominosteine und
Spielkarten aus. So eignete er sich spielerisch jenen »epischen Rhythmus« an,
der später kennzeichnend für seine Romane und Erzählungen wurde.
Amos Vater, Jehuda Arie
Klausner, war ein hochgebildeter Bibliothekar. Er konnte 16, 17 Sprachen lesen,
11 sprechen. Als seine Eltern 1933 mit ihm von Wilna über Triest nach Haifa
flohen, hatte er gerade sein Studium der polnischen Literatur und allgemeinen
Literaturwissenschaften abgeschlossen und hoffte, in Jerusalem seinen Traum
verwirklichen zu können, »ein kühner Pionier bei der Erneuerung des hebräischen
Geistes« zu werden, Schtetl und Jiddisch, Verfolgung und Ohnmacht endgültig
hinter sich zu lassen und sich als Hebräer-Europäer gleichsam neu zu
erschaffen. Doch gab es zu jener Zeit nur eine einzige kleine Universität und
Dutzende von Professoren, die vor dem zunehmend gewalttätiger werdenden
Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung nach Palästina geflohen waren.
Statt als Forscher und Gelehrter seinen Lebensunterhalt zu verdienen, schlug
sich Amos’ Vater mühsam als Bibliothekar in der Zeitungsabteilung der
Nationalbibliothek durch und schrieb nachts seine Bücher über die Geschichte
der Novelle und die Geschichte der Weltliteratur.
Ein Onkel des Vaters, Joseph Gedalja Klausner, hatte eine der wenigen
Professuren inne, die es damals in Jerusalem gab. Er war, so Oz, ein
»aufgeklärter Nationalliberaler«, dessen Leitspruch »Judentum und Humanismus«
hieß. In seinem Standardwerk über die von 1917 bis 1948 währende britische
Mandatszeit in Palästina, Es war einmal ein Palästina, charakterisiert
der israelische Historiker Tom Segev Joseph Klausner als einen kämpferischen
Patrioten, »eine ungewöhnliche Mischung aus kultureller Weltoffenheit und
hebräischem Nationalismus«. Durch seine zahlreichen Schriften, darunter das
Furore machende Buch über Jesus von Nazareth und eine Geschichte der
neuhebräischen Literatur wurde Klausner weit über die Grenzen Palästinas hinaus
bekannt. Er war 1874 im litauischen Olkeniki zur Welt gekommen. Wegen
antisemitischer Schikanen war die Familie um die Jahrhundertwende nach Odessa
gezogen, wo Klausner 1917 eine Professur für hebräische Literatur übernahm.
1919 schiffte er sich mit seiner Frau und seiner Mutter auf der »Ruslan«, einer
Art jüdischer Mayflower, nach Jaffa ein und ließ sich im Jerusalemer
Bucharenviertel nieder. Er arbeitete am Institut für hebräische Literatur und
erhielt später noch den Lehrstuhl für die Erforschung der Geschichte des
Zweiten Tempels. Amos Oz besuchte gelegentlich mit seinen Eltern diesen in
strenger Askese lebenden Gelehrten. In seinem Haus, in dem die Buchregale mit
ihren 25000
Bänden bis zur Decke reichten, sprach man im Flüsterton, hielt sich mit eigenen
Äußerungen zurück, stimmte bei Tisch den Reden des Hausherrn zu, die Männer mit
Worten, die Frauen still lächelnd. Die treu ergebene Ehefrau förderte die
patriarchalische Haltung ihres Mannes, indem sie ihm jeden Wunsch von den
Lippen ablas, ihr Leben ganz seinen Studien und Forschungsarbeiten
unterordnete. Amos Oz schildert das lapidar, nicht ohne Ehrerbietung, nicht
ohne Ironie.
Amos’ Großvater war 1921
mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, Arie und David, von Odessa zurück
nach Wilna geflohen um nicht in den auf die Oktoberrevolution folgenden
blutigen Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen zu geraten. Doch auch in Wilna
machten Fremdenhass und Antisemitismus das Leben unerträglich. Von den damals
erlittenen Demütigungen erzählte Arie seinem Sohn nur ein einziges Mal:
flüsternd, nachts, unter der gemeinsamen Bettdecke am 29. November 1947. An
jenem Tag hatte die UN-Vollversammlung in Lake Success bei New York
beschlossen, auf dem britischen Mandatsgebiet zwei Staaten, einen arabischen
und einen jüdischen, zu errichten. Die Nachricht, die die in den Straßen
Jerusalems wartenden jüdischen Einwohner nachts übers Radio erreichte, wurde
mit großem Jubel, mit Tänzen, Fahnenschwenken, Autohupen, jüdischen Gesängen
und Schofarblasen in den Synagogen begrüßt. »Schau dir das sehr gut an«, hatte
Arie zu dem auf seinen Schultern sitzenden achtjährigen Amos gesagt, »diese
Nacht wirst du bis an dein Lebensende nicht vergessen, und von dieser Nacht
wirst du noch deinen Kindern, Enkeln und Urenkeln erzählen, wenn wir schon
lange nicht mehr da sind.« Später im Bett dann, als der Vater ihm unter Tränen
– nur dies einzige Mal erlebte Amos seinen Vater weinend – stockend von den
Demütigungen in Odessa und Wilna erzählte, fügte er hinzu: »In dem Augenblick,
in dem wir unseren eigenen Staat haben werden«, werde niemand mehr attackiert
werden, nur weil er Jude ist.
Der in Wilna gebliebene
Bruder des Vaters, David Klausner, ein Spezialist für vergleichende
Literaturwissenschaft, Dozent an der Wilnaer Universität, war nicht mit nach
Palästina geflohen. »Er blieb auf seinem Posten«, so Oz, »hielt die Fahne von
Fortschritt, Kultur, Kunst und Geist, der keine Grenzen kennt, hoch, bis die
Nazis nach Wilna kamen: Kulturliebende Juden, Intellektuelle und Kosmopoliten
waren nicht nach ihrem Geschmack, und deshalb ermordeten sie David, seine Frau
Malka und meinen kleinen Cousin Daniel.«
Amos Oz’ Mutter, Fania
Klausner, geb. Mußmann, war 1934 als
24-Jährige nach Palästina gekommen. Sie stammte aus Rowno in der Ukraine, hatte
in Prag an einer der wenigen Juden offen stehenden Universitäten Osteuropas
studiert, ihr Geschichts- und Philosophiestudium in Jerusalem fortgesetzt,
konnte acht Sprachen lesen, vier, fünf sprechen. Nach der Heirat und der Geburt
ihres Sohnes Amos lebte sie wie eingesperrt in der kellerartigen Wohnung,
kochte, wusch, putzte, versorgte das kränkliche Kind. Sie war von Sehnsucht
nach der europäischen Heimat erfüllt, war oft depressiv. Die Nachricht, dass am
7./8. November 1941 23000
Juden, darunter ihre einstigen Klassenkameradinnen und Freunde, innerhalb von
zwei Tagen im Sossenki-Wald bei Rowno von deutschen Soldaten ermordet worden
waren, und am 13. Juli 1942 noch einmal 5000, traumatisierte sie. Sie litt
unter Schlaflosigkeit, Migräneanfällen, Appetitlosigkeit. Oft saß sie
stundenlang am Fenster, starrte apathisch in die Nacht hinaus. Arie und Amos
übernahmen nach und nach die Hausarbeiten, die Einkäufe, schließlich ihre
Pflege. Zwischen Phasen sich verdunkelnden Lebens gab es jedoch auch immer
wieder Zeiten wacher Bewusstheit und liebevoller Zuwendung. Die Aufmerksamkeit
für die unscheinbaren Dinge, die sich überall in Amos Oz’ Werk findet, gründet
in der feinen Beobachtungsgabe seiner Mutter und ihrer Wertschätzung scheinbar
toter Gegenstände. »Mutter bestand immer darauf, dass es nicht genüge, die
Namen der Dinge zu kennen, sondern man solle sich auch mit ihnen durch
Schnuppern vertraut machen, durch leichtes Berühren mit der Zungenspitze, durch
Betasten, solle die Wärme und Glätte der Dinge kennen lernen, ihren Geruch,
ihre Rauheit, ihre Härte, die Klänge, die sie machten, wenn du mit dem Finger
auf sie klopftest, all das, was Mutter ›Erwidern‹ und ›Widersetzen‹ nannte. …
Auch in den Gegenständen und Pflanzen ist ein Wollen oder Nichtwollen, nicht
unsererseits, sondern ihrerseits, und nur wer es versteht, zu fühlen und zu
lauschen, zu schmecken und zu schnuppern, ohne Verlangen, der kann manchmal
auch etwas davon wahrnehmen.« Den Vater animierte das zu ironischen Scherzen.
Er spöttelte: Von König Salomo heiße es, er habe die Sprache der Tiere und
Vögel gekannt, die Mutter überträfe ihn noch. »Sie ist sogar in den Sprachen
des Handtuchs, des Topfes und der Bürste bewandert.«
Beides, die mütterliche
Fähigkeit zu intensiver Wahrnehmung und Versenkung und die väterliche zu
ironischem Witz und humorvoller Lässigkeit im Umgang mit ernsten Dingen,
spiegelt sich im Werk des Sohnes auf vielfältige Weise. In einer seiner Reden
zum israelisch-palästinensischen Konflikt (»How to Cure a Fanatic«) weist Oz
dem Humor eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung des Fanatismus zu. Humor sei
die Fähigkeit, sich selbst zu sehen, wie andere einen sehen; Humor sei die
Fähigkeit zu erkennen, dass alles im Leben eine komische Seite hat –
gleichgültig, wie sehr man im Recht ist und wie sehr einem Unrecht zugefügt
würde.
Auch in Zeiten, als seine
Eltern sich liebevoll um ihn kümmerten, war Amos, der ohne Geschwister, ohne
gleichaltrige Nachbarskinder aufwuchs, viel allein und auf sich gestellt. Er
wusste sich mit von ihm erfundenen Spielen zu helfen und las alles, was ihm in
die Hand kam. Trafen sich seine Eltern mit Freunden im Kaffeehaus, saß er zwar
still, wie es die Erwachsenen wünschten, beobachtete aber intensiv die anderen
Gäste, lauschte ihren Gesprächen, verstrickte sie in abenteuerliche
Geschichten, spann sie weiter und weiter aus, wobei er sich selber eine hehre
Rolle zu geben pflegte. So habe sein Schriftstellerleben angefangen: in
Kaffeehäusern, meinte Amos Oz einmal. »Bis zum heutigen Tag stehle ich so.
Vornehmlich bei Fremden. Vornehmlich an belebten öffentlichen Orten.« Beim
Warten in einer Klinik, auf Bahnhöfen und Flughäfen, im Stau: »Ich spähe und
erfinde Geschichten. Erfinde, spähe und erfinde weiter. … Ein kurzer Moment und
die Gelegenheitshelden meiner Geschichten sind von meiner unsichtbaren
Paparazzikamera eingefangen.«
Es kam eine Zeit, in der
die Mutter immer seltener das Haus verließ. Mit zunehmender Apathie und
nachlassender Aufmerksamkeit des müder werdenden Vaters, schließlich der
einsetzenden Pubertät des Jungen wuchs die Einsamkeit eines jeden von ihnen.
»Was wusste mein Vater von ihrer Qual? Was verstand meine Mutter von seinem
Leid? … Was konnten sie und er über die Widerwärtigkeit meiner Nächte wissen? …
Nichts ahnten meine Eltern. ... Tausend Jahre der Finsternis lagen zwischen
ihnen und mir. … Tausend Jahre der Finsternis zwischen jedem und jedem.« Im
Januar 1952 nahm sich die Mutter mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.
Kein einziges Mal, so Oz, habe er während der zwanzig Jahre, die sein Vater
noch lebte, über die Mutter gesprochen. »Bis jetzt, bis zum Schreiben dieser
Seiten«, habe er auch mit niemandem sonst über sie gesprochen. Auch über seinen
Vater kaum. »Als wäre ich ein Findelkind.«
Er erschuf sich
gleichsam neu. Nach dem Tod der
Mutter hatten sich seine Schulnoten verschlechtert. Mit dem Vater sprach er
über alltägliche Dinge, wer wann was einkaufte, nie über sich selbst,
allenfalls über Politik. Doch da drifteten ihre Meinungen im Laufe der Zeit
immer mehr auseinander. Während Amos sich für den Sozialismus als eine viel
versprechende Gesellschaftsform begeisterte, sah Arie darin eine »rote
Epidemie«. Nach der Wiederverheiratung des Vaters entschloss er sich zu einem
Neuanfang außerhalb der Mauern Jerusalems. »Im Alter von vierzehneinhalb
Jahren, rund zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter, erhob ich mich und brachte
Vater um, brachte ganz Jerusalem um, änderte meinen Namen und zog allein in den
Kibbuz Hulda, um dort auf den Ruinen zu leben.«
Auf den Ruinen ist der Titel eines Buches von Zvi Liebermann-Livne,
das Amos wieder und wieder gelesen hatte. Es handelt von einem abgelegenen
jüdischen Dorf inmitten schöner Hügellandschaft zur Zeit des Zweiten Tempels,
das von römischen Legionären überfallen und verwüstet wird. Die Erwachsenen
hatten die Kinder, die zu klein waren, um bei der Verteidigung des Dorfes
mitzuwirken, in einer Höhle versteckt. Die Erwachsenen wurden niedergemetzelt.
Die Kinder beschlossen, eine Gemeinschaft Gleichberechtigter zu bilden und das
Dorf wieder aufzubauen. Es entsteht eine Art idyllischer Kibbuz, in dem eine
starke und heldenhafte Generation »aus eigener Kraft von der ›Shoah zum
Heldentum‹ und aus der Finsternis zu großem Licht aufsteigt«.
Indem Amos seinen
europäischen Familiennamen Klausner ablegte und sich fortan Oz – hebräisch für:
Kraft, Stärke – nannte, versuchte er das Diaspora-Judentum, »das Knäuel aus
Trauer, unterdrückten Ängsten, Hilflosigkeit und Resignation« hinter sich zu
lassen und zu einem jener »stämmigen, von Staub und Sonne gegerbten Jungen«,
einem jener tatkräftigen, vorwärtsstrebenden Pioniere zu werden, die das Land
auf- und bebauten und in Besitz nahmen. Die Änderung seines Namens stand ganz
in der Tradition der zionistischen Bewegung. Klassische Autoren hebräischer
Literatur, wie zum Beispiel Chajm Nachman Bialek und Scha’ul Tschernichowsky,
wurden von der zionistischen Kommission angegriffen, weil sie ihre Namen nicht
hebräisierten. Paradoxerweise sprachen die meisten Mitglieder dieser Kommission
gar kein Hebräisch; ihre Sitzungen fanden auf Englisch, manchmal sogar auf
Deutsch statt. »Wer von uns«, hatte Theodor Herzl in Der Judenstaat
gefragt, »weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen?«
Für die meisten in Palästina beziehungsweise in Israel geborenen Kinder der
Diasporajuden war Hebräisch dann aber, wie für Amos Oz selber, die
Muttersprache, und politisch engagierte international bekannte israelische
Gegenwartsautoren wie Uri Avnery, David Grossman, Abraham B. Yehoshua,
Jehoschua Kenaz, Eleonora Lev oder Betya Gur schrieben und schreiben auf
Hebräisch. Flüchtlinge, die vor antisemitischen Ausschreitungen, vor
Entrechtung, Beraubung und Tod aus Europa geflohen waren, erlebten das Hebräische
zunächst allerdings als eine abweisende Barriere. Aharon Appelfeld aus
Czernowitz beispielsweise, sieben Jahre älter als Oz, fiel es nach
verzweiflungsvoller, ermüdender Flucht schwer, die deutsche Muttersprache
zugunsten der erst mühsam zu erlernenden hebräischen Sprache aufzugeben, ja,
überhaupt sich mit den israelischen Aufbauprojekten zu identifizieren. In den
Kibbuzim sah er »die besten Gewächshäuser für die Aufzucht des Vergessens«.
»Als ich 1946 ins Land kam«, so Aharon Appelfeld in einem Interview mit Gisela
Dachs in der Zeit (17.3.05), »sollte ein neuer Jude geschaffen werden.
Er sollte größer, blonder sein. Er sollte Bauer sein und Soldat. Er sollte die
Vergangenheit hinter sich lassen.«
Als Amos Oz 1954 in den
Kibbuz Hulda, benannt nach einer Prophetin, eintrat, erlebte er bald zu seinem
Erstaunen, dass es auch dort ein reiches kulturelles Leben gab. In dem seiner
Mutter gewidmeten Kibbuz-Roman Ein anderer Ort etwa spielt Herbert
Segal, seit 27 Jahren Melker im Kibbuz Mezudat Ram, nach Feierabend Geige,
liest Hegel und Marx, Luxemburg und Saint-Simon. Die zunächst verdrängte und
überwunden geglaubte Leseleidenschaft erwachte neu.
In der Geschichte
von Liebe und Finsternis bekennt
Oz, dass er bei seinem Eintritt ein glühender Nationalist und zionistischer
Propagandist gewesen sei, der alles aus jüdischer Perspektive gesehen habe. An
anderer Stelle spricht er von sich als einem selbstgerechten, chauvinistischen
kleinen Fanatiker, den man als Kind einer Gehirnwäsche unterzogen habe. Wie die
rechtskonservativen Kreise seiner Herkunft war auch er der Auffassung, während
ihrer dreißigjährigen Mandatsherrschaft seien die Briten eher proarabisch als
prozionistisch gewesen. Genau das Gegenteil war aber der Fall. Mit den
Vertretern der zionistischen Bewegung verhandelten sie auf höchster Ebene,
während sie die Araber eher wie die Völker ihrer einstigen Kolonien
behandelten. Wenn man die arabischen Landbewohner in ihrer Unwissenheit
belasse, so meinten sie, erspare man sich Unkosten und Unruhen. Statt auf
Bildung wurde auf Überwachung Wert gelegt und beispielsweise überprüft, ob
Kinder, die am Balfour-Gedenktag die Schule geschwänzt hatten, auch
ordnungsgemäß ausgepeitscht worden seien. Tom Segev, einer der bekanntesten
Vertreter einer »neuen Geschichtsschreibung« in Israel, schöpft zur Schilderung
dieser Geschehnisse in seinem jüngst erschienenen Buch Es war einmal ein
Palästina aus einer Vielzahl von Quellen und lässt die in Tagebüchern,
Briefen, Memoiren, Dokumenten und Protokollen, Zeitungsartikeln und Büchern
vernehmlichen Stimmen berühmter und unbekannter Menschen gleichermaßen zu Wort
kommen. Auch des Terrors verdächtige Juden wurden verhaftet, gefoltert, nach
Afrika deportiert, hingerichtet. Doch Kollektivbestrafungen ganzer Dörfer, etwa
wegen eines Attentats in der Nachbarschaft, seien nur in arabischen Gemeinden
gängige Praxis gewesen. Der schwer wiegende Irrtum der Briten seit Beginn ihrer
Mandatsherrschaft 1917 – so die zentrale These von Segevs Buch – sei die
Überzeugung gewesen, die Errichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden
sei durchführbar, »ohne den Arabern zu schaden«. In Wahrheit jedoch bildeten
sich in Palästina »zwei rivalisierende nationalistische Bewegungen heraus, die
unweigerlich auf eine Konfrontation zusteuerten«.
Der Amos Oz der
Fünfzigerjahre war von der Legitimität jüdischer Landnahme überzeugt und
identifizierte sich voll mit dem jüdischen Aufbauprojekt. Er wollte
dazugehören, verrichtete schwere Feld- und Erntearbeit, versuchte einer dieser
kräftigen, sozialistisch argumentierenden Pioniere zu werden. Von 1957 bis 1960
leistete er seinen Wehrdienst. Danach schickte ihn der Kibbuz an die Hebräische
Universität in Jerusalem, weil es an Lehrern für Hebräische Literatur mangelte.
Oz studierte Philosophie und Literaturwissenschaften, publizierte 1965 sein
erstes Buch, eine Sammlung von Kurzgeschichten Where the Jackals Howl,
arbeitete weiter in der Landwirtschaft, unterrichtete und schrieb Gedichte,
politische Aufsätze, Romane. Bereits in seinem ersten Roman Elsewhere
perhaps von 1966 entwirft Oz ein multiperspektivisches, vielstimmiges Bild
vom Leben in einem Kibbuz; von den Spannungen, ideologischen Differenzen, den
Leidenschaften und Tröstungen des Gemeinschaftslebens von Menschen, »die eifrig
die Welt verbessern wollen und die menschlichen Schwächen dadurch bekämpfen,
dass die Gemeinde als ganze gegen ihre Schwächen vorgeht und jeder Einzelne
gegen die leichten Anfechtungen seiner eigenen Seele zu Felde zieht«.
Sein zweiter Roman Mein
Michael von 1968, eine Ehe- und Trennungsgeschichte vor dem
historisch-politischen Hintergrund der Fünfzigerjahre, machte ihn bereits weit
über Israel hinaus bekannt. Zwar lernte Oz, der sich im Rückblick einmal als
verblendetes »Jewish Intifada Kid« bezeichnete, im Kibbuz auch den israelisch-palästinensischen
Konflikt aus der Sicht der Araber sehen, ihr Anrecht auf eigenes Land als
gleichberechtigt mit dem der Juden anzuerkennen. Doch obgleich der Kibbuz mehr
als dreißig Jahre sein Zuhause war – bis 1986, als er mit seiner Frau, die er
im Kibbuz kennen lernte, und mit seinen beiden Töchtern und seinem Sohn nach
Arad am Rand der Negev-Wüste zog –, fühlte er sich dort nie ganz heimisch.
Das Gefühl des
Andersseins – so Oz einmal über sein
Außenseitertum – habe er an Asarja Gitlin in dem Roman Der perfekte Frieden
von 1982 weitergegeben. Wichtiger aber noch ist die Erfahrung, die in der
Gestalt des Jonathan Lifschitz vergegenwärtigt wird – ein Kibbuznik von Geburt
an, der eines Tages beschließt, seine Frau, seine Eltern und die ganze
Gemeinschaft ohne Ankündigung zu verlassen. Ein Mann, dessen Zynismus, Zorn und
Gewaltfantasien teils in seinem Wehrdienst begründet liegen, teils dadurch
entfesselt wurden. »Weißt du noch«, fragt er einen Kriegskameraden, »wie wir
bei der Kommandoaktion gegen die Syrer in Nukeib einen toten syrischen
Soldaten, dem’s den ganzen Unterleib weggerissen hatte, in den Jeep gesetzt
haben, mit seinen Händen am Steuerrad, und ihm eine brennende Zigarette in den
Mund gesteckt haben und dann abgehauen sind?« Von der Authentizität solcher
Fiktionen zeugt beispielsweise ein Bericht der israelischen Zeitung Jediot
Achronot vom 17.11.2004. Mitglieder einer streng religiösen Armee-Einheit
hätten mit der Leiche eines bei der Explosion eines Sprengsatzes getöteten
Palästinensers gespielt. Ein Kommandeur habe sich mit einem abgetrennten
Kopf abbilden lassen, der auf einen
Eisenpfahl gesteckt worden sei und mit einer Zigarette im Mund »wie eine
Vogelscheuche« ausgesehen habe. Wo Krieg herrscht, herrscht Gewalt. Aber nicht
um deren Darstellung geht es bei Oz, sondern darum, was dadurch in Menschen
angerichtet wird, wie sie dadurch deformiert oder zugrunde gerichtet werden.
Amos Oz selbst nahm 1967,
28-jährig, als Reservist einer Panzer-Einheit an der ägyptischen Front auf
Sinai am Sechstagekrieg teil. 1973, im Yom-Kippur-Krieg, kämpfte er an der
syrischen Front. Im Rückblick bezeichnete er seine Zeit als Soldat als »die
schrecklichste Erfahrung meines ganzen Lebens«. Doch schäme er sich nicht, in
diesen beiden Kriegen gekämpft zu haben. Er würde jederzeit wieder kämpfen,
wenn sein Land von der Landkarte gelöscht oder sein Volk vernichtet werden
sollte – niemals aber für Extraterritorien oder heilige Stätten, für Reichtum,
Macht oder Prestige.
Heute ist das Problem, das
die Briten vor fast sechzig Jahren mit ihrem zwiefach vergebenen Versprechen
zur Nationenbildung hinterließen, wieder Verhandlungssache. Als Mitbegründer
der israelischen Friedensbewegung »Peace Now« (1978) und Mitverfasser der
Genfer Initiative für ein Friedensabkommen im Nahen Osten (2003) ist Amos Oz in
diesen Prozess als eine auf Ausgleich, Versöhnung und Frieden bedachte Instanz
involviert. Die Palästinenser, sagt er, sind in Palästina, weil Palästina das
einzige Heimatland des palästinensischen Volkes ist. Und die israelischen Juden
sind in Israel, weil es kein anderes Land auf der Welt gibt, das das jüdische
Volk als seine Heimat bezeichnen könnte. Die Tragödie des
israelisch-palästinensischen Konflikts liege darin, dass hier die berechtigten
Ansprüche zweier Völker auf dasselbe kleine Land aufeinander prallen. Beide
Völker seien Opfer desselben Unterdrückers, nämlich Europas. Europa habe die
arabische Welt kolonisiert, ausgebeutet, gedemütigt und als imperialistische
Spielwiese benutzt. Und Europa war es, das Juden diskriminierte, verfolgte und
millionenfach in einem beispiellosen Genozid ermordete. Dennoch fände sich der
israelische Jude in der arabischen Literatur als Verlängerung des weißen,
tyrannischen, grausamen Europas der Kolonialzeit wieder. Obgleich Israel in
Wirklichkeit nur ein großes Flüchtlingslager mit traumatisierten Überlebenden
und Flüchtlingen sei, die zudem zur Hälfte aus arabischen und islamischen
Ländern stammten. Israelische Juden ihrerseits sähen in Palästinensern nicht
die Opfer jahrhundertealter Unterdrückung, sondern »pogrom-makers« und Nazis,
die den Juden aus Spaß die Kehle durchschnitten. Die einzige Lösung sieht Oz in
der Schaffung zweier durch eine Grenze getrennter Staaten. Wie schmerzlich der
Verlust von Gebieten auch für beide Seiten sein werde, nur so ließe sich nach
hundertjährigem Krieg zwischen Juden und Palästinensern Frieden schließen. In
diesem Zusammenhang zitiert Oz Robert Frosts Einsicht: »Good fences make good
neighbours.«
Der zur Debatte stehende
und im Wesentlichen von Oz befürwortete Teilungsplan ähnelt in vielem dem
Beschluss der UN vom 29.11.1947, Palästina in einen jüdischen und in einen
arabischen Staat zu teilen und Jerusalem unter internationale Aufsicht zu
stellen. Damals – vor 58 Jahren und fünf Kriegen – lehnten nicht nur die Araber
die UN-Resolution ab und hielten an ihrer Forderung nach der Unabhängigkeit
ganz Palästinas fest, mit dem Versprechen übrigens, die jüdische Minderheit zu
respektieren. Auch revisionistische jüdische »Falken« waren nicht bereit, auf
bestimmte, den Arabern zugedachte Territorien zu verzichten, und binationale
»Tauben« sprachen sich gegen eine Trennung und für eine Form der Koexistenz
aus. Der Krieg und die einsetzende Massenflucht sowie die Vertreibung von etwa
750000
Arabern führte zur Errichtung der heute noch bestehenden zahlreichen
Flüchtlingslager im Mittleren Osten. In einem »Postscript« zum Genfer
Friedensabkommen, das er zusammen mit seinen Kollegen Grossman und Yehoshua
unterzeichnete, betonte Oz ausdrücklich, dass kein einziges der Flüchtlingslager
der 1948 vertriebenen Palästinenser bestehen bleiben dürfe.
Amos Oz’ Erzählungen
und Romane sind Schauplätze
extensiven, polyphonen Kommunizierens. Ob es um die Einbeziehung des Lesers
geht, wie sie sich in dem Roman Keiner bleibt allein bereits im ersten
Satz : »Vor Ihnen liegt der Kibbuz …« ankündigt, oder um Auseinandersetzungen
zwischen den Generationen (Der perfekte Frieden), zwischen den
Geschlechtern (Mein Michael; Blackbox), um das Heraufbeschwören
der Vergangenheit (Eine Frau erkennen) oder um Konfrontationen zwischen Kibbuzbewohnern (Elsewhere,
Perhaps) – immer geht es um eine durch Diskussionen vorangetriebene Suche
nach dem Standort des Einzelnen und dem des jüdischen Volkes im nationalen und
internationalen Kontext.
Der dritte Zustand, einer der erfolgreichsten Romane von Oz, ist
erfüllt von einem an- und abschwellenden, inneren und äußeren, ein- und
vielstimmigen Reden, in dem profane Alltagserfahrungen, historische,
politische, geschlechts- und generationsspezifische Probleme mit einer Vielfalt
formaler Mittel – in Dialogen und Briefen, Visionen und Träumen – und in
vielfältiger Färbung – lakonisch, lyrisch, schwelgerisch, ironisch, salopp –
thematisiert werden. Der Protagonist Ephraim Nissan, Sekretär in einer
Arztpraxis, von seinen Freunden Fima genannt, ist geradezu ein Rede- und
Kommunikationsfanatiker, dem sich die Kette alltäglicher Erlebnisse sogleich in
erfrischend selbstironische oder auch erbarmungslos selbstkritische
Selbstgespräche verwandelt; jemand, dessen rhetorisches Talent sich in
Wortgefechten, in Kaskaden von Fragen, in endlosen Monologen entfaltet.
Untergründig ist immer die Erinnerung an ein ihn mit Trauer erfüllendes
Erlebnis da: Während er mit dem Fahrrad die ausgestorbene Straße entlangfährt,
stehen Vater und Mutter auf dem Balkon über ihm, streng und aufrecht, dunkel
gekleidet, schweigend, einander nicht berührend. Was zwischen Anfang und Ende
des Romans ausgebreitet wird, nimmt sich aus wie das von ununterbrochenem Reden
erfüllte Anleben gegen »die tiefe Schmach jenes Schweigens, das seine Kindheit
über zwischen ihnen herrschte«. Die Gewissheit, dass es »etwas Grundwichtiges
gibt«, zu dem er »gewissermaßen dauernd unterwegs« ist und das es zu erkämpfen
gilt, »solange man fähig ist, Worte aneinander zu fügen«, gibt dem
Protagonisten Kraft und treibt ihn voran.
Im eingangs erwähnten
Roman Allein das Meer wird dies Motiv noch einmal radikalisiert und
poetisiert. Der Erzähler schreibt auf einem massiven Tisch. Der Tischler aus
Sarajewo, der ihn herstellte, nahm sich in Israel, für alle unerwartet, das
Leben. Der Erzähler ist sich klar darüber, dass der Tisch, wie alle anderen
Dinge auch, zerfallen wird, dass die Natur, die Berge, die Nächte vergehen
werden. »Allein das Meer«, heißt es einmal, »ist da«, das Meer, in das alles
strömt, aus dem alles kommt, das Meer, das in der Vorstellung des Erzählers
letzten Endes freilich nichts anderes ist als »Stille. Stille. Stille«. Ein
Blick auf die Uhr, das Bellen von Hunden in der Dunkelheit mahnen ihn nun, sein
eigenes Werk voranzutreiben, dem Schweigen des Universums einiges zu entwinden.
So ergänzen und
sekundieren der politische und der literarische Oz einander. Der
»Sprachfeuermann« – wie er sich selber nennt – arbeitet mit allen ihm zur
Verfügung stehenden Mitteln daran, dass aus einer Kommunikation entstellenden
Nähe ein von Toleranz und Humor geprägtes kommunikatives Nebeneinander wird.