Renate Krauss-Poetz

Eine afrikanische Wahl

Analphabetismus, Unterentwicklung und Demokratie

 

 

Freie Wahlen, ein grundlegender demokratischer Vorgang, sind in hiesigen Breiten heute ein alltäglicher Vorgang. Nicht so im westafrikanischen Benin, wo alles ganz anders ist. Dieses »Andere« einer afrikanischen postkolonialen Gesellschaft wird in den Beobachtungen der Präsidentschaftswahlen durch unsere Autorin, seit längerer Zeit vor Ort, transparent. Bei allem »kolonialen Erbe« scheint doch entscheidend zu sein, wie die Menschen im Land selbst zu den akuten Problemen stehen und sie zu bewältigen versuchen.

Zum vierten Mal nach der Ablösung des marxistisch-leninistischen Regimes 1989 wählten die BeninerInnen im Frühjahr 2006 in freien, demokratischen Wahlen einen Präsidenten, der zugleich Regierungschef ist. Dies war die erste Wahl ohne Kérékou als Kandidat, der 1972 mit einem Militärputsch sich und seine marxistisch-leninistische Organisation an die Macht gebracht und seitdem, mit einer Unterbrechung von fünf Jahren, immer das Land regiert hatte. Diese Wahl beendete die Epoche Kérékou, weil er nach den Regeln der Verfassung mit über 75 Jahren und nach drei Regierungsperioden nicht mehr kandidieren kann. Ebenso aus Altersgründen fiel sein Gegenspieler Soglo aus, der ihn 1990, nach der Erhebung des Volkes gegen das Abwirtschaften des Landes, einmal für eine Wahlperiode ausgestochen hatte. Seither ist Benin ein demokratisches Land. Ein kleines, mit – ähnlich wie Hessen – knapp 7 Millionen Einwohnern, aber in der Fläche vergleichbar mit den neuen Bundesländerb zusammen, an der Küste Westafrikas zwischen Togo und Nigeria gelegen. Zwischen 1900 und 1960 war es französische Kolonie, davor ein zergliederter Landstrich mit mehreren kleinen, autoritären, feudalen Königreichen, darunter das berühmt-berüchtigte Dahomey, und einigen wenigen Ethnien mit egalitärer Organisation im Norden. Verschiedene Ethnien bilden das Volk. Die Staatsgrenze wurde von den europäischen Kolonialmächten auf der Berliner Konferenz von 1884/85 festgelegt.

26 Kandidaten, darunter zwei Frauen, traten für den Präsidentenposten an. Es war sicher, dass es einen zweiten Wahlgang geben würde. Wer würde letztlich gegeneinander antreten? Der Ökonom und langjährige erfolgreiche Chef der westafrikanischen Entwicklungsbank Yayi Boni, aus dem Norden Benins stammend und seit Jahren mit der Bank im benachbarten Togo angesiedelt, der seinen Posten dort wegen des Wahlkampfs aufgegeben hat? Der frühere Parlamentspräsident, Houngbédji, Anwalt, ebenfalls lange Jahre im Ausland, in Gabun, tätig, der kurzzeitig einmal mit Kérékou liiert und Minister in seinem Kabinett war und aus dem Südosten stammt? Bruno Amoussou, bis vor einem Jahr ebenfalls Minister unter Kérékou, aus dem Südwesten Benins? Soglos Sohn Léhady, erst 45 Jahre alt, unerfahren, der immer nur unter der Anleitung seines Vaters in dessen Nähe gearbeitet hatte, der von der Partei RB (Renaissance du Benin), deren Vorsitzende seine Mutter ist, ins Feld geschickt wurde ohne Erfolgsaussichten in diesem Wahlkampf – aber als Statthalter für den Namen Soglo und für die Bevölkerungsgruppe der Fon (des Königreichs Dahomey), in der er traditionsgemäß eine Mehrheit hat, weil er aus ihr stammt und die Soglos seit der Staatsbildung Dahomeys (1645) zu den Ministern oder auch Putschisten zählten?

Kérékou ist »Nordist«. Manche sagen, das Volk wolle nicht länger von jemandem aus dem Norden regiert werden. Diese Argumentation weckt Befürchtungen bei anderen, die die ethnische Argumentation leid sind und ad acta legen wollen. Tatsächlich ist es aber eine der offensichtlichen Leistungen Kérékous, dass er während seiner Regierungszeiten regionale und ethnische Nationalismen immer auszugleichen vermochte. Seit 1972 herrscht Frieden im Land. Auch darauf sind die BeninerInnen stolz. Aber sie wollen nun endlich einen Wandel und auch einen Generationenwechsel. Yayi Boni ist 54, Houngbédji etwa 60; Amoussou über 60 und Soglo junior circa 45 Jahre alt.

Parteien wie in Europa, also Programmparteien, gibt es in Benin nicht. Über 100 Organisationen, die sich Parteien nennen, sind hier – einem Land mit nur 4,2 Millionen WählerInnen – als solche registriert. Parteien gründet, wer an die Macht will, in der Regel als Minister, und wer das nötige Geld hat, um seine Anhänger und Wahlkämpfer zu bezahlen und Wahlvolk zu bestechen. Wer Präsident werden will, muss umso mehr Geld haben, um einen landesweiten Wahlkampf mit den entsprechenden Kosten finanzieren zu können. Quelle des Reichtums der Kandidaten ist meist die Korruption und/oder Wahlkampfhilfe aus dem Ausland. In den Ministerien, Stadtverwaltungen, Unternehmen, vor allem Staatsunternehmen, versickert das Geld, auch das der internationalen Gebergemeinschaft, in den privaten Taschen der Verantwortlichen und ihrer Getreuen. Kandidiert wird, um mit seinen Getreuen an diese Pfründe zu gelangen oder um dort bleiben zu können.

Die Vielzahl der Kandidaten im ersten Wahlgang bewirkte, dass ein zweiter notwendig wurde. Schon für den ersten, mehr noch für den zweiten Wahlgang wurden Koalitionen gebildet, bei denen Geld floss und Versprechungen auf Posten gemacht wurden. Diese Koalitionen wechseln oft kurzfristig, denn gedealt wird bis zum Tag der Regierungsbildung (und danach).

Es heißt, dass Yayi Boni von den Amerikanern und Houngbédji von den Franzosen finanziell und politisch unterstützt wird und dass Wahlkampfgeld aus dem benachbarten afrikanischen Ausland in die Taschen von Kandidaten floss.

Eine politische Konzeption zur Entwicklung des Landes gibt es seit der Unabhängigkeit nicht. Alle Aktivitäten waren und sind Stückwerk. Die Volkswirtschaft basiert auf der Landwirtschaft, die Vegetation ist üppig, aber ökonomische Chancen werden nicht genutzt. Das Land verharrt in weiten Teilen in Unwissenheit und Armut, im Großteil des Landes gibt es weder Strom noch Trinkwasserleitungen, nicht einmal ausreichend Brunnen. Nur eine Hand voll Nationalstraßen sind geteert. Während der Regenzeit sind Ernten auf den Feldern nicht erreichbar, verfaulen, weil die Transportfahrzeuge der Bauern oder Händler im Schlamm versinken würden. Kenntnisse über das Funktionieren der Marktwirtschaft sind fast nicht vorhanden. Eine Minderheit bereichert sich großenteils illegal, eine weitere Minderheit versucht sich im legalen Bereich und stößt auf Schwierigkeiten, Hindernisse von Seiten des Staates wie ungeklärte Bodenrechte, keine Rechtssicherheit, kontraproduktive Besteuerung im formellen, Laissez-faire gegenüber dem informellen Sektor, Korruption. Die meisten Menschen leben von der Hand in den Mund als Kleinstlandwirte, Kleinsthandwerker, Kleinsthändler in Kommunen mit geringer Kaufkraft.

Programmatische Aussagen der Kandidaten waren rar. Dennoch lebt die Hoffnung, dass ein neuer Präsident auch der Masse der Menschen zu besseren Lebensbedingungen verhilft.

Yayi Boni trat ohne Partei an, hat aber unzählige Unterstützergruppen und Sympathisanten, die für ihn die Kampagne in den Dörfern und Städten durchführten. Er war auch der Einzige mit einem Programm, das diesen Namen verdient. Er setzt auf ökonomische Entwicklung und auf Bildung, um das Land aus der Armutsfalle herauszuführen. Als langjähriger Chef der westafrikanischen Entwicklungsbank wird ihm diesbezüglich Kompetenz zuerkannt. Yayi Boni wurde vor allem von den gebildeteren Schichten, vielen jungen Menschen, Männern wie Frauen, als Hoffnungsfaktor favorisiert, aber auch weil er noch unverbraucht ist. Er hat noch nicht enttäuschen können wie alle anderen Kandidaten, die im Land schon Funktionen innehatten.

Kérékou schwieg und schwieg. Seit Jahren. Er schwieg, als Befürchtungen lanciert wurden, er könne zu seinen Gunsten die Verfassung ändern, um ein weiteres Mal zu kandidieren. Erst vor etwas mehr als einem halben Jahr vor der Wahl hatte er offiziell auf eine Kandidatur verzichtet. Aber das Misstrauen ihm gegenüber blieb. Er schwieg zu den jetzigen Kandidaten. Das setzte ihn dem Verdacht aus, er hoffe auf Unregelmäßigkeiten und Unruhen, um auf seinem Platz bleiben zu können. Es wurde gemunkelt, er habe seinen Verteidigungsminister vor wenigen Monaten nur im Hinblick auf diese beabsichtigte Revolte gewechselt. Der neue sei ein Kumpel aus der ML-Zeit.

Als er der unabhängigen nationalen Wahlleitung (CENA) das von ihr beantragte Budget nicht in voller Höhe genehmigte und darauf verwies, dass diese Summen dem armen Land nicht angemessen seien, wurde ihm der Versuch der Vereitelung der Wahlen unterstellt. Andere kritisierten die Bereicherungsversuche der nationalen Wahlkommission und ihrer Untergliederungen. Auch Teile der internationalen Gebergemeinschaft haben Barzahlungen an die CENA abgelehnt und nur Materialhilfe geleistet. Die seit über einem Jahr enorme Benzinknappheit wurde ihm als Wahlkampftaktik, mit dem Zweck, Unfrieden zu stiften, angelastet.

Gegen Kérékou richtete sich auch die Empörung, als er darauf drang, den zweiten Wahlgang dem Gesetz entsprechend spätestens 15 Tage nach dem ersten abzuhalten. Die nationale Wahlleitung und das Verfassungsgericht hatten diesen Tag, der von vornherein für den 19.3. vorgesehen war, kurzfristig um drei Tage auf den 22.3. verschoben, weil die endgültige Auszählung des ersten Wahlgangs über eine Woche gedauert hatte und sie den zwei Favoriten in der Endausscheidung noch ein paar Tage für eine zweite Kampagne geben wollten. Der 22. war am 15. oder 16. März landesweit als zweiter Wahltag verkündet worden. Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen wurden den zwei Kandidaten zugewiesen. Die Wahlkampfhits in den privaten Radiostationen liefen an. Allein 16 soll es für Yayi Boni in verschiedenen regionalen Sprachen gegeben haben.

Kérékou aber insistierte auf der Einhaltung des Gesetzes und eines früheren Urteils des Verfassungsgerichtes. Das Verfassungsgericht und die CENA gaben nach. So hieß es am Samstag, den 18.3., über Radiokanäle und private Telefonkontakte, über öffentliche Ausrufer in den Buschdörfern, dass die Wahl nun doch am 19.3. stattfände. Die Wut richtete sich einzig auf Kérékou und viele hielten den Atem an. Wie sollte es möglich sein, diesen Wahltag von heute auf morgen zu organisieren? Die Wahlbeteiligung werde extrem niedrig sein, wurde befürchtet. Würden denn die Wahlunterlagen rechtzeitig in den Norden kommen? Eine Fahrt dauert mindestens neun Stunden plus der Feinverteilung in den weit verstreuten Dörfern, die noch einmal Stunden dauert.

Doch die CENA und ihre Untergliederungen auf departementaler, lokaler und Stadtteilebene, vor allem aber das Wahlvolk hat alle erstaunt. Alles lief bestens. Es gab weniger Verspätungen bei der Eröffnung der Wahllokale als am ersten Wahlsonntag, das Material war da oder wurde schnellstens und kritiklos besorgt. In dem Ehrgeiz, Kérékou vorzuführen, strengten sich alle an. Die Menschen blieben ruhig. Keine politischen Debatten mehr am Wahltag. Nur leicht angespanntes Abwarten bis zur örtlichen öffentlichen Auszählung am Abend. Die Wahlbeteiligung, die im ersten Wahlgang bei etwas über 70 Prozent gelegen hatte, stieg noch auf 75 Prozent an – aber kaum wahrnehmbar. Wer durch die Städte und Dörfer fuhr, sah am Morgen keine Warteschlangen mehr wie am ersten Wahltag. Ruhig, tropfenweise schlenderten die WählerInnen über den ganzen Tag verteilt zu ihrer Urne.

Doch was heißt »freie« und »demokratische« Wahlen? 60 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten. Was weiß das nicht alphabetisierte Wahlvolk, vor allem im Busch, überhaupt über die Kandidaten und deren politische Vorhaben? Wie wird die Public Relation, die Wahlkampagne organisiert? Wie die Wahlen in einem Land, in dem höchstens die Hälfte der BürgerInnen formell als Einwohner registriert sind, es von daher keine Wählerlisten der Gemeinden geben kann, eine Vielzahl der Menschen keinen Personalausweis hat? Wo sollen die Menschen ihr Kreuz auf der Kandidatenliste machen, wenn sie nicht lesen können? Wie Wahlbetrug verhindern, wenn es keine Ausweispflicht gibt?

Um sieben Uhr morgens am ersten Wahltag, dem 5. März, sollen die Wahllokale öffnen, um 16 Uhr schließen. Danach beginnt die öffentliche Auszählung in den Wahllokalen. Um sieben Uhr wird es hell in diesen Breitengraden, die Temperaturen sind angenehm, nur 25 Grad. Im Stadtteil Vidolé, Teil der Innenstadt von Abomey, sind zwar die Wahllokale zu entdecken, aber das Material, Wählerlisten und alles andere, ist noch nicht eingetroffen. Nur knapp zwei Kilometer weiter in einem eher ländlichen Stadtteil werfen die ersten BürgerInnen bereits ihren Wahlzettel in die Urne. »Frauen zuerst«, heißt es charmant in der kleinen Warteschlange. Frauen mokieren sich über ihren »schmutzigen« Daumen, denn statt mit einer Personalausweisnummer wird ihre Teilnahme mit einem Fingerabdruck in der Wählerliste, in die sie sich Wochen zuvor bereits hatten eintragen lassen, bestätigt. Wer an der Wahl teilnehmen möchte, muss diesen Gang zum Wahlbüro am selben Ort schon einige Wochen vorher einmal machen. Die Eintragung ist freiwillig. Die Anzahl der BürgerInnen, die sich haben eintragen lassen, ist sehr hoch. Eher zu hoch für die beninische Alterstruktur, denn 50 Prozent der Einwohner sollen unter 18 Jahre alt sein. In Grenzgebieten sollen junge Leute aus Togo zur Eintragung in die Wählerlisten herangekarrt worden sein. Auch junge Leute unter 18 sollen sich registriert haben lassen. Einige wenige Fälle sind aufgeflogen.

Wahllokal heißt in Benin, dass an einem Tisch unter einem schattigen Baum sich ein Wahlbüro etabliert: ein Präsident des Büros und seine zwei Helfer. Als Wahlkabine kann ein Pappgestell verwendet werden, das von der kommunalen Wahlleitung mit den anderen Utensilien wie Urnen, Stempel, Wählerlisten, Protokollvordrucke, Ergebnislisten, Tinte, Watte, Versiegelung für die Urnen und so weiter am Morgen verteilt wurde. Oder das Ganze findet in einem Klassenzimmer in einer Schule oder im Hof einer Stadtteilverwaltung statt.

Im Zentrum Bohicons, der Nachbarstadt von Abomey mit 120<|>000 Einwohnern, geht es gegen acht Uhr schon heiß her. Die Sonne steigt und mit ihr die Temperaturen. Lange Schlangen bilden sich in den Schulhöfen. Circa 300 WählerInnen sind schon eingetroffen. Auffallend viele Frauen, mindestens 50 Prozent. Nicht immer weiß Mann oder Frau, welcher der Tische unter den Bäumen für ihn oder sie zuständig ist. Eine Frau, Mitglied der Wahlleitung im Stadtteil, kreischt bereits etwas hysterisch über den Schulhof, rüffelt den jungen Wahlhelfer, der den linken Daumen eines/einer jeden nicht vorschriftsgemäß mit der nicht abwaschbaren Tinte bestreicht. Denn das ist das Zeichen, dass bereits gewählt wurde, das Zeichen, das verhindern soll, dass jemand zwei oder mehrmals wählen geht. Wind weht die Pappkabinen um, die Frau richtet sie wieder auf, sie verscheucht Kinder, die in die Kabinen gucken wollen.

Noch am Vorabend war in Bohicon in einem Saal eine Schulung, das heißt eine Massenveranstaltung mit einem Vorleser und Textexegeten, für die circa 360 Präsidenten der kleinen Wahllokale in der Stadt angesetzt. Etwa 200 waren anwesend. In den zwei Monaten vor den Wahlen haben etliche internationale Geber allerorten derartige Massenschulungen finanziert. Der Lerneffekt dieser Methode ist zweifelhaft. Gesetzestexte und Wahlordnungen wurden nicht ausgeteilt. Indoktrination ist noch immer die Lernmethode der Wahl, auch wenn es sich um alphabetisierte, gebildete, aufgeschlossene Menschen handelt.

Am Wahltag selbst müssen die Wahllokale und soll der öffentliche Raum gänzlich frei von Werbung für Kandidaten sein. So ist daher am Vortag der Wahl in Abomey ein Team der Stadtverwaltung unterwegs, um Wahlplakate abzureißen.

Auf etwa 300 WählerInnen kommt ein Wahllokal. In Abomey – einer Stadt mit etwa 85.000 Einwohnern – sind 212 Wahllokale etabliert, mit Personal und Material ausgestattet worden. Landesweit 17.480 für etwas mehr als vier Millionen Wählerinnen. In jedem Büro sitzen außerdem drei lokale, ebenfalls von der zentralen Wahlleitung legitimierte »Beobachter«, das sind Vertreter der Parteien oder der Kandidaten, die nach einem bestimmten Verhältnis über das Land verteilt werden. Offizielle, nationale Beobachter werden von renommierten Menschenrechtsorganisationen und der CENA, der nationalen Wahlleitung, selbst entsandt. Gegen neun Uhr tauchen die ersten Beobachter in Bohicon-Saclo auf. Polizei in Zivil soll sich unter das Volk gemischt haben. Uniformierte sieht man am Morgen nur als Wähler in den Warteschlangen.

Wo der Beginn der Wahl um sieben Uhr nicht möglich war, verschiebt sich auch das Ende. In einem Wahlbüro im Südwesten Bohicons ist die neue Öffnungszeit bereits mit Kreide an die Wand geschrieben: 8.10 Uhr bis 17.10 Uhr. In Abomey-Vidolé, im Hof der Stadtteilverwaltung, fluchen die BürgerInnen, sie warten seit sieben Uhr, Material fehlt. Die Wahlleitung des Stadtteils ist schuld daran. Misstrauen bricht auf, denn deren Vorsitzender ist nicht Anhänger des Kandidaten, der in der Region eine Mehrheit hat (Soglo jun.). Hat die Verzögerung damit zu tun? Erst gegen zehn Uhr taucht die Tinte auf und es kann losgehen. Die Auszählung endet hier erst gegen Mitternacht.

Auf dem großformatigen Wahlzettel sind alle 26 Kandidaten mit ihren Köpfen und Parteiemblemen oder Logos abgedruckt. Der Wähler, die Wählerin bekommt vom Wahlbüro einen Stempel in die Hand gedrückt, den er/sie in der Kabine auf einen der Köpfe aufdrückt, um den Zettel dann gefaltet in die Plastikurne vor dem Tisch der Wahlhelfer zu werfen und den Stempel zurückzugeben. Rutscht der Stempel über das Foto hinaus in das Feld eines anderen Kandidaten, ist der Wahlzettel ungültig.

Die Auszählung am Abend ist in allen Wahlbezirken öffentlich. Unter den Bäumen oder im Schulsaal wird es eng, manche haben schon den ganzen Tag auf diesen Moment gewartet. Jung und Alt, Männer und Frauen drängen sich zusammen. BürgerInnen, hier ein Mann und eine Frau, junge Leute, übernehmen das Öffnen der Urne – dieses Verfahren ist vom Gesetz vorgegeben –, sie zählen zuerst laut die Gesamtzahl der abgegebenen Wahlzettel. Ein Wahlhelfer führt Protokoll. Dann wird von beiden jeder der abgegebenen Zettel einzeln aufgefaltet, gelesen, für die Zuschauer sichtbar hochgehalten und das Votum laut ausgerufen. »Yayi Boni« oder »Adrien Houngbédji«. Jeweils von beiden nacheinander erfolgt der Ausruf. Zweimal zweihundert bis dreihundert Mal ertönen die Namen, pro Wahllokal. Die Ausrufer erfinden verschiedene Sprachmelodien, um nicht zu ermüden. Ein dritter Bürger (oder eine Bürgerin) zeichnet auf einer Tafel für jede gültige Stimme hinter dem Namen des Kandidaten einen Kreidestrich. Ungültige Stimmen werden ebenfalls notiert. All das sorgfältig beäugt von der Öffentlichkeit, die laut aufmurrt, wenn etwas nicht ordentlich vor sich zu gehen scheint, zum Beispiel der Wahlzettel zu kurz hochgehalten wurde, so dass der Stempel nicht identifiziert werden konnte. Zum Schluss werden Kontrollrechnungen angestellt, Protokolle geschrieben und unterzeichnet, die Zettel wieder in den Urnen verstaut und verschlossen, die Urnen in das lokale Wahlbüro transportiert und von dort in die Hauptstadt. Das vorletzte Wort hat die nationale Wahlleitung, dort werden alle Urnen noch einmal geöffnet und ausgezählt. Und das letzte Wort hat das Verfassungsgericht, das noch einmal prüft. Dann erst wird von der Präsidentin der CENA das amtliche Endergebnis verkündet. Dieser Auszählungsprozess dauert fünf bis sechs Tage.

Die heiße Phase des Wahlkampfs dauerte in Benin nur etwa drei Wochen. Überall im Land tauchten Kampagnenbüros der chancenreichsten landesweiten und der regionalen Kandidaten auf. Überwiegend junge Leute fuhren in mit Plakaten geschmückten Autokonvois und Lautsprechern, aus denen Wahlkampflieder des Kandidaten oder der Kandidatin dröhnen, durch die Straßen, aus Plakaten ihres Kandidaten gefaltete Hüte schmückten ihre Köpfe. Die Plakate haben immer den Kopf des Kandidaten als Aufdruck, denn diesen Kopf gilt es am Wahltag zu stempeln. Der Kopf des Kandidaten muss in die Köpfe. In den Stadtteilen und Dörfern im Busch wird »Sensibilisierung« gemacht. Das heißt, Trupps von jungen Anhängern strömen aus, um dort bereits mit einem Abdruck der Wahlzettel die Vorzüge ihres Kandidaten, ihres »Kopfes« herauszustellen: Was ist er für ein Mensch, welche Posten hat er schon innegehabt, wofür tritt er ein, was unterscheidet ihn von den anderen? Wo ist er auf dem Wahlzettel? Unten rechts? Oben links?

»Und dann wird auch gelogen«, gibt Jacques, einer der Agitatoren zu. Denn die BürgerInnen interessiere häufig nur, was der Kandidat für sie in ihrem Dorf zu tun beabsichtige. »Baut er uns eine Schule, eine Krankenstation?« – »Ja«, heißt es dann, obwohl der Kandidat den Ort wahrscheinlich nicht einmal kennt. Der Kandidat selbst bereist das Land. Drei Wochen lang ist er Tag und Nacht unterwegs, tritt auf, möglichst ein Mal in jeder der 77 Kommunen. Die WahlkämpferInnen, überwiegend junge Leute, sind vom Kandidaten bezahlt. In Wahlkampfzeiten sinkt die hohe Arbeitslosigkeit kurzfristig erheblich, wird ironisch bemerkt.

Houngbédji, einer der drei aussichtsreichsten Kandidaten, ist für elf Uhr am 1. März in Bohicon angesagt. Aus den Buschstadtteilen werden Menschen in LKWs herangekarrt. Bis zu 100 auf einem Laster. Sie werden bezahlt dafür. Schon bei der »Sensibilisierung« kann man sich gegen Bezahlung in eine Liste für die Teilnahme an dieser Werbeveranstaltung eintragen lassen. Gegen 13 Uhr taucht der Kandidat mit einem kleinen Konvoi auf. Er ist müde, angespannt. Sein Lächeln ist maskenhaft. Schüler stehen Spalier, Trommeln und Tanz heizen die Stimmung an. Seine Rede in der regionalen Sprache ist kurz und reißt niemanden mit. Der Applaus bleibt verhalten. Die Übertragungstechnik ist schlecht. Nach 20 Minuten ist der Spuk vorüber und der Kandidat reist in den nächsten Ort. Die Besucher steigen wieder in die LKWs. Es geht zurück in den Alltag.

An die Programme der Kandidaten heranzukommen ist fast aussichtslos. Misstrauisch wird man in den Kampagnenbüros beäugt: »Willst du Houngbédji wählen oder willst du nur das Programm«, fragt der Angestellte. »Nur das Programm«, sagt der beninische Kollege. Das will dem Menschen nicht in den Kopf. Er habe keines. In den letzten Tagen vor dem Wahltag beginnt die Presse Ausschnitte aus den Programmen zu dokumentieren.

Die Parolen bleiben allgemein: »Das wird sich ändern« (Yayi Boni), »Ein Mann des Friedens und des Dialogs« (Houngbédji), »Um besser zu leben« (Léhady Soglo), »Unsere Zukunft ist in unseren Händen« (Bruno Amoussou). Letzterer setzt mit seinen zahlreichen Parolen insgesamt mehr auf die Verantwortung der Bürger. Nur er und Soglo junior setzen aber auch an aktuellem Ärger an und machen – sehr unwahrscheinliche – Versprechungen: »Das Benzin für nur 200 F pro Liter« (30 Cent Euro) oder »Erste Versorgung für Kranke gratis«, »Grundschulbildung gratis«.

Die Zeitungen – dünne Blätter von 12 Seiten DIN-A 3 inklusive Werbung, Horoskop, Kreuzworträtsel –, circa 20 an der Zahl, sind überwiegend nur in der Hauptstadt erhältlich, erscheinen nur montags bis freitags. Das Hauptmedium für die Massenkommunikation in einer oralen Gesellschaft mit hoher Analphabetenrate, mit einer regionalen Sprachvielfalt, mit Kommunen, die weitgehend nicht elektrifiziert sind, ist das batteriebetriebene Radio, das in den verschiedenen regionalen Sprachen sendet. Radios, Presse und die wenigen Fernsehstationen, die neben den staatlichen Medien (eine Zeitung, ein Radio, ein Fernsehen) existieren, sind Privatbesitz. Radios im wenig bevölkerten Norden sind wegen der geringen Kaufkraft auch gemeinnützig mit Beteiligung der Kommunen, lokaler NGOs und ethnischer Gruppen. Alle Medien verkaufen Sendezeit sowie -platz. Meinungen werden von den Medien eingekauft. Alles kann publiziert werden, wenn man bezahlt. Auch die Kommunen, Ministerien, Politiker, NGOs, Geber, Privatleute bezahlen. Journalisten, die zu einer Pressekonferenz eingeladen werden, erwarten dort bereits eine Bezahlung. In diesem Sinne ist die hiesige Presse frei und unabhängig. Es sei denn, der Besitzer hat sein Blatt gegründet, um Politik für einen Kandidaten, eine Partei (und damit gegen andere) zu machen, oder er favorisiert während der Kampagne einen oder zwei, drei Kandidaten. Eine unabhängige Medienlandschaft in europäischem Sinne existiert nicht. Dass angestellte Journalisten eigenständige qualifizierte Recherchen machen, ist die Ausnahme.

In Benin ist die Kultur des Handaufhaltens vorherrschend, jeder will für alles bezahlt werden, neben seinem Salär: Politiker, Parlamentarier, Angestellte in den staatlichen Verwaltungen, Wahlhelfer, Parteimitglieder und Sympathisanten der Kandidaten im Wahlkampf sowie die Wähler für den Urnengang und die von internationalen Gebern bezahlten beninischen Wahlbeobachter. Ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement ist äußerst selten und wird sogar beschimpft. 3000 bis 10000 CFA-Franc pro Tag gibt es für die verschiedenen Kategorien von Wahlleitern und Wahlhelfern auf lokaler Ebene. Zum Vergleich: Ein einfacher Angestellter in der Stadtverwaltung bekommt 27000 CFA-Franc im Monat, ein Abteilungsleiter 65000. Das heißt, es werden Tages- bis Wochengehälter für einen Tag Arbeit bezahlt. Einigen Helfern war das zu wenig, und so boykottierten sie nach dem ersten Wahlgang den Versand der Urnen in die Hauptstadt. Bei anderen ist die volle Summe bis heute nicht eingegangen. Lokale Wahlleiter werden beschuldigt nicht auszuzahlen, andere lasten der CENA Versagen an. Die Kritik daran, dass es vor dem zweiten Wahlgang keine Kampagne mehr gab, hatte auch damit zu tun, dass infolgedessen kein Geld mehr fließen konnte. Wähler rechnen ebenfalls mit 5<|>000 bis 10000 CFA-Franc von mindestens einem der Kandidaten. Das sei zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein der Armut, aber es sei eben so üblich bei ihnen, verteidigen selbst ansonsten kritische und aufgeschlossene junge Menschen diese Praxis.

Yayi Boni mit 35 Prozent und Adrien Houngbédji mit 25 Prozent waren als Sieger des ersten Wahlgangs hervorgegangen. In weiten Teilen des Landes wurde aufgeatmet. Ein wirklicher Politikwandel mit Yayi Boni schien greifbar zu werden. Überall wurde täglich über Politik diskutiert, gefragt, wer etwas Neues gehört habe, wie es um die Wahl-Koalitionsverhandlungen stehe, in den Stadtverwaltungen, an der Tankstelle, in den Krankenhäusern, in Kneipen, bei privaten Treffen. Soglo und Amoussou, die auch mit Houngbédji in Gespräche eintraten, wurden von ihren WählerInnen sorgenvoll beäugt. »Die werden doch wohl nicht mit dem zusammengehen, dann bleibt doch alles beim Alten.« Dass die beiden sich letztlich für Yayi Boni ausgesprochen haben, hat ihre Parteien vor einer Spaltung bewahrt. Kérékou soll noch wenige Tage vor dem zweiten Wahlgang vor verschiedenen Botschaftern mit Leidenschaft verkündet haben, dass er nicht daran denke, an einen Yayi Boni die Macht abzugeben. Deshalb misstrauten ihm fast alle – BeninerInnen wie Geber – bis zur Stunde der feierlichen Amtsübernahme seines Nachfolgers. Misstrauen und negative Fantasien sind aber auch Begleiterscheinung des bis in intellektuelle Kreise verbreiteten magischen Weltbildes und beherrschen das Denken vieler.

Für die wahren Yayi-AnhängerInnen begannen, nachdem er am Sonntag, den 19. März, in der Endausscheidung eine satte Mehrheit von 64 Prozent eingefahren hatte, die Sorgen: Kann er seine politische Linie in einer Regierung durchsetzen, die eine Vielzahl von Altvorderen als Minister einschließt? Drei Ministersitze für Soglo, vier für Amoussou und einen für den Dritten im Bunde seien ausgehandelt worden. Namen kursierten. Unter anderem rechnete sich der Bürgermeister von Abomey Chancen aus, und seine potenziellen Nachfolger standen schon in den Startlöchern. Die Stimmung im Land blieb verhalten, von Freudentänzen und Festen keine Spur bis zum Vorabend der Amtseinführung. Dieser Akt mit historischen Rückblicken, in allen Sendern übertragen, wurde in allen Winkeln des Landes an den Radios verfolgt.

Acht beziehungsweise zwölf Milliarden CFA-Franc (12 bzw. 18 Millionen Euro), geht das Gerücht, hätten Amoussou, Soglo und ein Dritter im Bunde sich für die Wahlkoalition von Yayi Boni zahlen lassen und das Versprechen, zusammen acht Ministerposten besetzen zu können. Das Geld käme von den Amerikanern und sei eine Wahlkampfkostenrückerstattung, denn schließlich hätten die beiden mit der Mobilisierung ihrer Wähler Yayi Boni zum Sieg verholfen. Am Tag nach der Wahl machte um 16 Uhr der amerikanische und um 17 Uhr der französische Botschafter seinen Antrittsbesuch bei dem zukünftigen Präsidenten.

Der Dritte im Bunde dementiert auf einer Pressekonferenz, keinen Franc hätten sie von Yayi Boni bekommen. Und das scheint wahrscheinlich, schaut man die endgültige Zusammensetzung der Regierung an. Nur zwei Ministerposten hat er an Amoussous Sozialdemokraten und nur einen an Soglos Partei Renaissance du Benin gegeben. Fünf Frauen hat er an die Spitze von Ministerien berufen. Und keiner der Altvorderen ist im Kabinett. Yayi hat sein Versprechen gehalten. Kompetente Leute, die bis heute unumstritten sind, bilden die Regierung.

Nationale wie internationale Wahlbeobachter sind beeindruckt von dem Wahlprozess. Gelobt wird insbesondere das Volk, das mit seiner Ruhe und Besonnenheit, mit seiner hohen Wahlbeteiligung einen hohen Grad an zivilem Bewusstsein gezeigt habe. Für die nächste Wahl werden Konsequenzen gefordert: Ausstattung der nationalen Wahlkommission mit ausreichend Geld, Digitalisierung der Wählerlisten und Verbesserung der Schulung der Wahlhelfer.

Wahlausschreitungen gab es nur am Tag des zweiten Wahlgangs und dem Tag darauf in der Stadt des Verlierers Houngbédji von Seiten seiner Anhänger. Ein Wahllokal wurde gestürmt, in Porto Novo und Cotonou demonstriert, für eine Annullierung und Wiederholung der Wahl. Ein fliehender Demonstrant hat sich von einer Mauer zu Tode gestürzt, fünf Störer saßen in Haft. Als schlechte Verliererinnen hatten sich zuvor schon Léhady Soglos Mutter und Parteivorsitzende gezeigt sowie eine weitere Kandidatin mit nur Null Komma X Stimmenanteil; auch sie forderten die Annullierung des ersten Wahlgangs. In Abomey waren der Bürgermeister, der zugleich Soglos Kampagnenchef im Departement Zou war, und einer seiner Mitarbeiter für zehn Tage in Untersuchungshaft gesteckt worden. In seinem Privatauto war am ersten Wahltag eine Urne gefunden worden. Hatte er nur beim Transport helfen wollen, wie er aussagte und der lokale Wahlleiter bestätigte?

Passend kommentierte der Sprecher der CENA wenige Tage nach der Wahl das Ergebnis: »Wir wünschen Kérékou einen guten Ruhestand und ein langes Leben.« Und »ça va changer« (das wird sich ändern), der Wahlspruch von Yayi Boni, ist zum geflügelten Wort im Lande geworden. Wenn wieder mal der bekannte Schlendrian genervt beobachtet wird, hausgemachte Hindernisse auftauchen, heißt es, »das muss sich ändern« – und dann wird gelacht.

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 4/2006