Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

Völkerverständiger Handke?

 

 

Von der Kontroverse um den Heinrich-Heine-Preis – dokumentiert im Perlentaucher (www.perlentaucher.de/artikel/3135.html) – bleibt essenziell der Reformvorschlag von Julian Nida-Rümelin (SZ, 7.6.) erwähnenswert. Er fordert reine Fachjurys ohne politische Beteiligung, »Jurys als Berater, nicht als Entscheider«, und Listenvorschläge für den Fall eines überzeugenden Minderheitenvotums. »Denn ob Handke als Schriftsteller preiswürdig ist, kann und sollte nicht von einer Stadtratsvollversammlung beurteilt werden; während Politikern eine zumindest gleichrangige Kompetenz etwa für Fragen der Völkerverständigung wie Literaturkritikern zugebilligt werden sollte.« Gerade um den Charakter des Preises rankten sich Unkenntnis und Missverständnisse: »Der Heine-Preis wird an Persönlichkeiten verliehen, die durch ihr geistiges Schaffen im Sinne der Grundrechte des Menschen, für die sich Heine eingesetzt hat, den sozialen und politischen Fortschritt fördern, der Völkerverständigung dienen oder die Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit der Menschen verbreiten.« (Bestimmungen über die Verleihung des Heine-Preises der Landeshauptstadt Düsseldorf vom 24. Juni 1971)

Dient Peter Handkes Werk der Völkerverständigung? Wie jeder Streit hatte auch dieser seine Metaebenen, etwa die Ereiferungen Claus Peymanns, »dass Meinungsfreiheit auch im Westen nicht mehr besteht«, oder die Zensurvorwürfe österreichischer Schriftsteller. Handkes Werk erscheint unzensuriert, was sonst, in diesen Wochen wurde ihm eine enorme Publizität zuteil, er konnte aussuchen, in welchem Medium er seine politischen Meinungen äußern wollte. Er nutzte dies weidlich und beteiligte sich am Medien-Event, das er zuvor oft genug mit starken Worten verachtet hat. Doch wie Frank Schirrmacher bemerkt, »klingen die Statements von Handke zunehmend verzweifelter; er bemüht sich um eindeutige Aussagen, aber gerade solche kann er nicht, wollte er nie machen« (FAZ, 2.6.). Völlig in die Irre des Heldenkults führt Botho Strauß’ zweifelhafter B-Gesang – vielleicht mit Orientierungshilfen bei Ronald Pohls Glosse im Standard (30.5.) –, als er in der FAZ (1.6.) Handke zum »sprachgeladensten Dichter seiner Generation« in die Genie(?)höhen und Untiefen eines Ezra Pound, Gottfried Benn, Carl Schmitt und Martin Heidegger hoch(?)jubelte. Natürlich, die Wahlverwandtschaften zwischen Strauß und Handke zu untersuchen, sind eine Arbeit wert.

Man muss zugeben, in dieser Erregung war es Handke, der am meisten von Jugoslawien gesprochen hat, wie Richard Herzinger in der Welt (10.6.) bemerkt: »Eigenartigerweise will in den deutschen Feuilletons kaum jemand über die Sache selbst reden, auf die uns Handke mit seinen ›Provokationen‹ doch angeblich aufmerksam machen wollte: über die Ursachen, Fakten und Folgewirkungen des Balkankriegs. … Weil der serbische Nationalismus aus dem Balkankrieg als Verlierer hervorgegangen ist, scheint es manchem Kommentator nun so, als habe Handke damals einen armen, von allen verfemten Verlierer verteidigt.« Der Medientenor betraf vorwiegend Handkes Teilnahme an Milosevics Begräbnis. Der Gestus, alles sei schon gesagt, läge auf der Hand, ist tatsächlich höchst zweifelhaft.

Volker Weidermann besuchte Peter Handke in Madrid und berichtet in der FAS (12.6.): »Dass es keine von ihm unterschriebenen Befehle gebe, keine nachweisbaren Anweisungen für Massaker, Übergriffe, einen Angriffskrieg, sagt er. – ›Milosevic war ein Diktator.‹ ›Nein‹, sagt Handke. Der Figaro habe kürzlich erst bestätigt, das Land unter Slobodan Milosevic sei eine ›Semi-Autokratie‹ gewesen, mit freien Zeitungen und staatlich kontrolliertem Fernsehen. Und er schildert die Szene, als man Milosevic vor Gericht vorwarf, er sei doch verantwortlich für das, was in Bosnien von Serben angerichtet wurde. ›Da hat er nur gelächelt‹, sagt Handke. ›Und da hab’ ich gedacht: Ja!‹ Für Handke steckte in diesem Lächeln die Wahrheit über den Balkan und die Unschuld Milosevics, der mit diesem Lächeln dem Richter demonstriert habe, dass er vom Balkan und von eigenmächtig agierenden Paramilitärs überhaupt keine Ahnung habe. ›Niemand kennt den Balkan‹, sagt Handke.«

Diese kleine Erzählung enthält viel Typisches. Peter Handkes Augenschein. Aber nichts ist ohne Voraussetzungen. Vom Figaro lässt er sich etwas bestätigen, das in seinen Mythos von »Zivela Jugoslavija« hineinpasst. Hier sind also die Medien gut. Und »frei«? Es gibt gute Untersuchungen (Rajko Djuric) über die nationalistische Propaganda in der Politika nach 1987 gegen die Kosovo-Albaner. Nur zur Selbstverteidigung? Wie war das, als Bogdan Bogdanovic 1987 seine Kritik an Milosevic (»Lamento über Serbien«) in der Belgrader Zeitschrift Die Jugend veröffentlichte, die trotz von Handke behaupteten »freien Zeitungen« sofort beschlagnahmt wurde und dann nur als Samisdat-Kopie zirkulieren konnte? Als langjähriges Parteimitglied und Bürgermeister von Belgrad kennt Bogdanovic die Parteirituale. Den Studenten gelang es, ein Drittel der Auflage noch in Umlauf zu bringen, schreibt er in Der verdammte Baumeister, und gerade das löste den Skandal aus. Man kann Handke nicht zugute halten, dass er vom Stalinismus keine Ahnung hat, vielmehr nimmt er für die Verteidigung seines Traumlandes auch das Hinwegschauen über stalinistische Methoden der Repression in Kauf. Warum konnten sonst damals in Serbien, für das Handke seine »Gerechtigkeit« einfordert, andere, demokratisch gesinnte Menschen, keine Gerechtigkeit bekommen?

In diesem Gerechtigkeits-Essay serviert er »eine Parasiten-Frage: Wie war das wirklich mit Dubrovnik? Ist die kleine, alte wunderbare Stadtschüssel oder Schüsselstadt an der dalmatinischen Küste damals im Frühwinter 1991 tatsächlich gebombt und zerschossen worden?« – Diese Auffassung wiederholt er 15 Jahre später in der kroatischen Zeitung Globus: »Ich denke, dass Dubrovnik nicht angegriffen wurde, und falls es doch angegriffen wurde, dann nicht das Zentrum, nicht die Altstadt.« (Welt, 30.6.) Am Stradun, der Dubrovniker Prachtstraße, erinnert eine Gedenktafel mit einem Stadtplan an die serbischen Artillerieangriffe, darauf sind die zahlreichen Treffer verzeichnet. ein Dichterkollege wurde getötet. Facti bruti.

Der Augen Schein. In der SZ (1.6.) hat sich Handke zu Srebrenica geäußert, darauf bezieht sich wohl Schirrmachers Aussage. Der »Seher« ist zu neueren Einsichten gelangt, die er nun in seine alten einbettet. Deshalb ist es gut, alte Texte von ihm zu lesen, worauf er selbst insistiert, eben »Gerechtigkeit für Serbien«, in der SZ am 5.1.96 publiziert. In diesem Pamphlet verliert er kein einziges Wort über Srebrenica, über den sorgfältig vorbereiteten und planmäßig durchgeführten Genozid. Das ist allerdings ein Text, den man heute nur noch des Spurenverwischens zichtigen kann.

Es ist ein über weite Strecken polemischer Text mit viel Gift. Attacken gegen französische Philosophen und touristische Vorbereitungen nehmen großen Raum ein. Handkes Wahrheiten sind so tendenziös wie die der von ihm verachteten Medien, von Völkerverständigung ist wenig zu merken, etwa wenn er über »slowenische Freiheitskämpfer« schreibt: »… schmerbäuchige Mittdreißiger, aufgepflanzt eher wie gegen Ende eines Schwerenöterausflugs«. Sehr beiläufig erledigt er politische Fragen wie die des Aggressors, weil doch – wie er in Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise erklärt –, »die Serben« das bedrohte Volk sind. Ihn interessiert es nicht, dass zum Beispiel die Frage der Lostrennung in der Verfassung der FSRJ von 1974 festgehalten war, der »seine Serben« zugestimmt haben. Diese Verfassung wurde von Milosevic durch die Annektierung der autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina gebrochen. Sind Staatssachen für ihn keine Tatsachen? Viktor Meier weist darauf hin, dass es die große Leistung dieser föderalen Verfassung war, »dass sie erstmals die Republiken konkret als ›Staaten‹ definierte (Art. 3) und sogar ihre Grenzen definierte. Daraus ließ sich die Souveränität der Republiken herleiten, samt ihrem Anspruch auf die bestehenden Grenzen. Beim Zerfall von Jugoslawien erwies sich dies auch international als von größter Bedeutung. Ein Prozedere für den Austritt aus dem gemeinsamen Staat war indessen nicht festgelegt« (Dunja Melcic, Hrsg.: Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, S. 201 f.). Handke allerdings, der im »Nachtrag« für sich die Indianer-Metapher in Anspruch genommen hat, hat in »seinem« Jugoslawien nie den modernen Staat als Teil der Staatenwelt gesehen, sondern das vormoderne »Land« der Völker mit dem historischen Vatervolk der Serben, historisch deshalb, weil sie immer die Freiheits-Kämpfer waren – der romantische Mythos des 19. Jahrhunderts also.

Diese Romantik zieht sich auch durch das lange Interview in der NZZ (17.6.) in der Idealisierung der Partisanenbewegung, der offensichtlichen Ignoranz gegenüber den tiefen Spaltungslinien während des Zweiten Weltkriegs und in der Gründungszeit. Wie im Gerechtigkeitstext wimmelt es von politischen Emotionen und moralischen Bewertungen, denn Handkes politisches Denken dreht sich um Rache, Enthusiasmus, rechtsgerichtete Regierungen, Tudjmans Antisemitismus, Izetbegovics Gottesstaat-Absichten. Daraus leitet er Serbiens Recht auf Verteidigung ab: »Serbien war das einzige Land, das mit dem Zerfall Jugoslawiens nur verlieren konnte.« Seine antipolitische Position hat Joscha Schmierer in der Kommune 12/96 auf den Punkt gebracht: »Die Rollen des Angreifers und des Angegriffenen zu unterscheiden ist wesentlicher Gegenstand des Völkerrechts. … Wird ein solches Urteil gefällt, und es kann ja auch in doppeltem Freispruch oder doppelter Verurteilung bestehen, wird es keinerlei substanzielle Aussage über Völker oder gar Individuen enthalten, das die einen als reine Opfer und die anderen als nackte Bösewichte festlegt und fix schreibt. Es ist ein Urteil über Politik, über Willensakte politischer Akteure mit umrissenen Verantwortlichkeiten, kein Urteil über den Charakter ganzer Völker oder von Individuen aus diesen Völkern. Indem Peter Handke das Urteil über die Handlungen von Staaten und politischen Akteuren mit einem Urteil über den Charakter von Individuen und Völkern in eins setzt, verwischt er alle Grenzen, innerhalb derer politische und völkerrechtliche Urteile getroffen werden können.«

Nun rechtfertigt Handke seine Naturprosa von 1996 damit, »die furchtbare Zerstörung in und um Srebrenica und die Todesstille noch spürbarer zu machen«. Und setzt es sofort in Bezug zu einem muslimischen Massaker (Kravica), das er als »Genozid« bezeichnet. Relativiert etwas: » Vielleicht irre ich mich in den juristischen Termini.« (SZ, 3.6.) Sonja Biserko, Vorsitzende des Belgrader Helsinki Watch Komitees, hat sich im Gespräch mit Dunja Melcic geäußert: »Diese beiden Fälle kann man wegen der Opferzahl und der Art des Verbrechens in keinster Weise vergleichen. Dem Verbrechen von Srebrenica ging eine lange Planung voraus. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass die bosnisch-serbische Führung vor dem Krieg öffentlich, im Parlament in Sarajevo, den Muslimen ein viel schlimmeres Schicksal angekündigt hat, als es die Kroaten wegen der Unabhängigkeit zu erleiden hatten; dass es ihr gelang, binnen einiger Monate nahezu 80 Prozent des Territoriums in Bosnien-Herzegowina zu erobern; dass dem Feldzug eine jahrelange anti-muslimische Propaganda der serbischen Intellektuellen vorausging. Es handelte sich um eine klare Strategie und Politik, die man sehr präzise beschreiben kann, und wenn man das tut, wird das serbische Volk als solches nicht angeprangert. Die jetzt neu entfachte Diskussion erscheint mir wie ein Echo jener früheren, die durch Handkes Essay »Gerechtigkeit für Serbien« ausgelöst wurde. Wie ein roter Faden zieht sich in der Debatte eine Ambivalenz des Westens insgesamt gegenüber der Auflösung von Jugoslawien hindurch, die ein historisch unabwendbarer und in sich logischer Prozess war, wie sich gerade zuletzt an der Verselbständigung Montenegros zeigt. Ich bin nicht mit der Ansicht von Wim Wenders einverstanden, dass es noch 100 Jahre braucht, um diesen Prozess historisch einzuordnen. Wir alle hier waren doch als Zeitgenossen Zeugen dieser Entwicklung. Außerdem hat man bei den Verhandlungen in Den Haag ausreichend handfeste Beweise gesammelt, um die Politik von Slobodan Milosevic zu definieren.« Srdja Popovic, der Anwalt im Fall des ermordeten Zoran Djindjic, konkretisiert: »In den Verfahren gegen Milorad Ulemek, ›Legija‹, in mehreren Mordfällen, wurde vor dem Belgrader Gericht gezeigt, dass Milosevic diese Morde gegen seine politischen Gegner in Serbien selbst in Auftrag gab. Also, es handelt sich hier nicht um ein Unschuldslämmchen, das sich wegen irgendwelcher Politik zu verantworten hat. Er hatte sich für notorische Verbrechen zu verantworten. Milosevics Verantwortung für den Krieg in Bosnien-Herzegowina ist ebenfalls notorisch; er hat ja selbst zugegeben, den Krieg finanziert zu haben; Radovan Karadzic hat Milosevics absolute Unentbehrlichkeit kategorisch klar- gestellt.«

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 4/2006