Thomas Heberer

Wo steht China politisch?

Korruption, Umweltprobleme, soziales Unruhepotenzial und die »Legitimität der Partei«

 

 

In Analysen der Entwicklung Chinas wird häufig die Auffassung vertreten, die politische Führung führe lediglich wirtschaftliche, nicht aber politische Reformen durch. Dies, so unser Autor, entspricht jedoch nicht den Tatsachen. Zwar steht der ökonomische Umbau von einer Plan- zu einer (staatlich kontrollierten) Marktwirtschaft im Mittelpunkt des Reformprozesses. Dieser war aber stets begleitet von politischen Veränderungen. Das Problembewusstein nimmt ebenso zu wie der Reformdruck. Es geht um Korruption und Tempo, Stabilität und Steuerungsfähigkeit der Entwicklungen.

Einerseits sind in hochpolitisierten Gesellschaften wie in der VR China Wirtschaftsreformen und -liberalisierung bereits als Elemente politischen Wandels zu begreifen. Die Ökonomisierung der Politik, wobei nicht mehr – wie in der Mao-Ära – der Klassenkampf, sondern wirtschaftliche Zielsetzungen ins Zentrum politischen Handelns gerückt wurden, die Auflösung der Großkollektive (wie der Volkskommunen), die Ersetzung planwirtschaftlicher durch marktwirtschaftliche Strukturen, ökonomische Privatisierungsprozesse, die Zulassung ausländischer Direktinvestitionen, die Integration in den Weltmarkt oder die Verringerung der Rolle der Parteiideologie sind zweifellos gravierende Prozesse politischer Veränderungen.

Ein solcher politischer Wandel oder solche politischen Reformen dürfen nicht mit dem westlichen Begriff der »Demokratisierung« gleichgesetzt werden. Demokratisierung bezieht sich auf den Prozess der Etablierung demokratischer Institutionen. Politische Reformen sowie politischer Wandel verändert jedoch ein System, ohne dass ein Systemwandel oder ein Prozess der Demokratisierung stattfinden muss. Vielmehr ist eine Verbesserung von Governance beabsichtigt, das heißt eine Effektivierung und Rationalisierung der Tätigkeiten des Staates und der Partei, um das Gesamtsystem transparenter zu gestalten, Korruption zu mindern und den Partizipationsgrad seitens der Bevölkerung zu erhöhen. Das politische System in Form der Parteiherrschaft soll nicht grundsätzlich verändert werden, jedoch seine Strukturen und Institutionen.

Gesellschaftlicher Reformdruck

Der Druck zur Durchführung weitgehender politischer Reformen kommt auch aus der Partei selbst. Eine (chinesische) Befragung von 100 führenden Kadern auf der Provinzebene in den Jahren 2000 bis 2002 nach den notwendigsten Reformen ergab, dass politische Reformen von mehr als einem Drittel der Befragten als dringendstes Problem angesehen wurden (vgl. Tab. 1). Eine weitere Befragung führender Kader im Jahre 2002 ergab, dass 79,8 Prozent der Befragten der Meinung waren, politische Strukturreformen seien der zentrale Faktor für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im laufenden Jahrzehnt.

Tab. 1: Dringlichste Reformen (Befragung von 100 Führungskadern auf der Provinzebene) (in %)

                                                             2000         2001         2002

Politische Reformen                           19,4           33,6          39,2

Reform des öffentl. Dienstes             30,1           25,0          18,6

Reform des Einkommenssystems      2,9             9,4          15,9

Reform der Staatsbetriebe                33,0           14,1            9,8

Quelle: Xie 2002: 34.

Die Tabelle: Dringlichste Reformen weist darauf hin, dass andere Probleme gegenüber dem Problemfeld »politische Reformen« deutlich zurückgetreten sind. Die Gründe dafür dürften einmal darin bestehen, dass sich ohne politische Reformen die anderen Probleme kaum lösen lassen; zum anderen wurden Reformen des öffentlichen Dienstes und auch der Staatsbetriebe bereits in Angriff genommen. Die wachsenden Einkommensdisparitäten wiederum sind als weiteres Kernproblem zunehmend in den Vordergrund gerückt.

Auch aus der Bevölkerung heraus wächst der Druck zu politischen Reformen. Dies zeigen einerseits offizielle Aussagen, die belegen, dass der Widerstandswille innerhalb der Bevölkerung signifikant gewachsen sei. Umfragen chinesischer Soziologen belegen andererseits, dass die allgemeine Unzufriedenheit zunimmt und die Menschen neue Wege der Transparenz und Partizipation suchen. So antworteten auf die Frage, welche Maßnahmen die (städtischen und ländlichen) Befragten gegen »Faktoren gesellschaftlicher Instabilität« (gemeint sind Ereignisse, die Unzufriedenheit hervorrufen) ergreifen würden: 73,9 Prozent im urbanen und 57,4 Prozent im ländlichen Raum würden sich damit an die Medien wenden; 72,5 Prozent (Stadt) beziehungsweise 56,7 Prozent (Land) würden den Rechtsweg einschlagen (Ding/Zhou 2002: 20).

Der Stand politischer Reformen

Es sind im Wesentlichen sechs Faktoren, die für den Wandel der letzten zwei Jahrzehnte stehen: die Veränderung der Wirtschafts- und Eigentumsstruktur, sozialer Wandel und gesellschaftliche Liberalisierung, größere Rechtssicherheit, Ökonomisierung von Politik, größere Partizipation auf der Basisebene und Schaffung internationalen Vertrauens.

Die Wirtschaftsreformen haben erstens zu einer grundlegenden Veränderung der Wirtschaftsstruktur geführt: weg vom Staatssektor und hin zu privatwirtschaftlichen Unternehmensformen. Der Ökonom Janos Kornai hat einmal erklärt, es gebe keine radikalere Reform für sozialistische Systeme als eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Realiter sind nahezu alle kleinen und ein Großteil der mittelgroßen Betriebe inzwischen Privatbetriebe. Nur die ganz großen Unternehmen sind überwiegend noch in staatlichem Besitz. Es ist wieder eine Unternehmerschaft entstanden, die selbstbewusst und auf hohem Niveau in der Wirtschaft wirkt. Anders als in der ehemaligen Sowjetunion fand keine Privatisierung »von oben« statt, bei der die Betriebe an Angehörige der ehemaligen Nomenklatura vergeben wurden, sondern eine Privatisierung »von unten«, also die Förderung betrieblicher Selbstständigkeit und Unternehmensgründungen aus der Bevölkerung heraus.

Der ökonomische Wandel hat zweitens einen raschen Prozess gesellschaftlichen Wandels mit sich gebracht. Der Staat hat sich aus vielen Bereichen zurückgezogen. Die Liberalisierung der Wirtschaft hat auch zu einer gesellschaftlichen Liberalisierung geführt: die Menschen bestimmen zunehmend selbst ihren Lebensweg, die Jugend hat sich in starkem Maße individualisiert, die Werte und Einstellungen der Menschen haben sich verändert. Gesellschaftliche Vereine und Vereinigungen wurden zugelassen und haben sich in großer Zahl überall im Land ausgebreitet. Auch Nichtregierungsorganisationen sind entstanden.

Mit Hilfe eines Rechtssystems versucht der Staat drittens, Rechtssicherheit und rechtliche Grenzen zu ziehen, um Willkür und Rechtsunsicherheit einzugrenzen. »Mit Hilfe der Gesetze das Land verwalten« heißt die Devise. Zwar unterscheidet sich dies (noch) von unserem Begriff des »Rechtsstaats«, zunehmend schlagen aber Bürger schon erfolgreich den Rechtsweg ein, um ihr Recht durchzusetzen.

Viertens hat sich die Politik in dem Sinne ökonomisiert, dass wirtschaftliche Ziele wie die Entwicklung Chinas, die Einbindung in den Weltmarkt und die Hebung des allgemeinen Lebensstandards heute die Politik bestimmen.

Durch die Einführung von allgemeinen Wahlen auf der Dorfebene und inzwischen auch auf der Wohnviertelebene, versucht die politische Führung fünftens, die Selbstverwaltung der Dörfer und die Mitwirkung der Bevölkerung an öffentlichen Angelegenheiten zu stärken. Auch wenn die Wahlverfahren vielerorts noch problematisch sein mögen: Meine eigenen Untersuchungen belegen, dass die Bevölkerung solche Wahlen zunehmend als ihr Recht begreift und der Mitgestaltungsgedanke dadurch gestärkt wird.(1)

Die Bemühungen um die Austragung der Olympischen Spiele 2008 oder um den inzwischen vollzogenen Beitritt zur WTO verdeutlichen sechstens, dass China einerseits akzeptierter Teil der internationalen Gemeinschaft sein, andererseits ein positives Image aufbauen und als zuverlässiger Partner gelten will, der bereit ist, sich an internationale Spielregeln zu halten.

Zugleich darf nicht übersehen werden, dass der rasche Wandlungsprozess eine Fülle von Problemen mit sich gebracht hat, die für die politische Führung und das politische System eine große Herausforderung bedeuten.

– Der Umbau der Eigentumsstruktur in der Wirtschaft und das Bemühen um größere Effizienz der Unternehmen haben zur Schließung von Betrieben und zu Personalabbau geführt. Das noch unzureichende Netz sozialer Versorgung bringt für viele davon betroffene Familien zum Teil massive materielle Probleme mit sich. Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit nehmen in bedenklichem Umfang zu.

– Weit verbreitete Korruption nagt an der Legitimität des Staates und der Partei.

– Es wachsen die Einkommensdisparitäten zwischen Regionen, zwischen Stadt und Land sowie innerhalb einzelner Regionen und Schichten.

– Der Ausbau des Rechtssystems hält mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfordernissen nicht Schritt.

Auch das Ausmaß von Umweltzerstörungen ist gewaltig. Von daher lässt sich feststellen, dass es deutliche Anzeichen für eine Legitimitätskrise des Systems gibt, allerdings nicht aufgrund des Scheiterns von Entwicklung, sondern umgekehrt, gerade aufgrund der Entwicklungserfolge.

Dilemmata politischer Reformen

Standen in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren die Debatte über die Grundlinien des Umbaus von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft und die Schaffung marktwirtschaftlicher Strukturen im Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen, so haben seit Mitte der Neunzigerjahre die Debatten um die sozialen und politischen Folgen des ökonomischen Prozesses zugenommen.

Mit der Einleitung der »Modernisierungspolitik« zu Beginn der Achtzigerjahre war Modernisierung ohne Modernität intendiert, das heißt wirtschaftlich-gesellschaftliche Modernisierung bei gleichzeitiger Beibehaltung der Herrschaft einer Partei mit Alleinvertretungsanspruch und rigider Kontrolle über soziale Selbstorganisation und politische Ideen. Die Dynamik wirtschaftlicher Veränderung hat nicht nur mehr Wohlstand sowie politische und gesellschaftliche Freiheiten für die breite Bevölkerungsmehrheit gebracht, sondern auch gravierende soziale und politische Konsequenzen: traditionelle Formen sozialer Organisation und sozialer Kontrolle begannen sich aufzulösen (Dorf- und Danwei-Strukturen(2)), die Ideologie der Partei, die zur Erklärung sozialer Verhältnisse und sozialer Veränderungen nicht mehr taugte, verlor ihre bewusstseinslenkende Rolle. Neue soziale Gruppen und Interessenorganisationen bildeten sich heraus (z. B. Unternehmer und Unternehmerverbände), die auf Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungen drängen. Provinzen, Städte und Landkreise verfolgen partikularistische Interessen gegenüber der Zentrale (z. B. im Hinblick auf Eigenentwicklung, Wirtschafts- und Verwaltungsstruktur oder Steuerzahlungen). Im Bewusstsein der Menschen wurde Politik zum Instrument von Wirtschaftsinteressen, Denken und Verhalten der Einzelnen individualisierten sich, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Der Modernisierungsprozess stärkte von daher die Gesellschaft und die Individuen gegenüber der Partei und dem Staat.

Eine solche »Dialektik der Moderne« (Habermas), verbunden mit Gewinnen und Verlusten, hat der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington bereits in den Siebzigerjahren analysiert und Konfliktstrukturen benannt, die sich im Verlauf von Modernisierungsprozessen ergeben und zunächst Destabilisierung bewirken. Dazu gehören die Auflösung traditioneller Sozialstrukturen (Familien, Klassen, Clans, Dorfgemeinschaften); die Entstehung einer Schicht von Neureichen, die auf Grund ihrer ökonomischen Stellung auch nach politischer Macht streben; die Zunahme räumlicher Mobilität und rascher Migration vom Land in die Städte; die Ausweitung der Divergenz zwischen Arm und Reich; die Hebung des Bildungsniveaus und des Zugangs zu den Massenmedien, die Erwartungen wecken, die nicht zu befriedigen sind; die Verschärfung regionaler und ethnischer Konflikte über die Allokation von Investitionen und Konsumgütern sowie das wachsende Vermögen zu Gruppenorganisation und folglich zu einer Stärkung von Gruppenansprüchen gegenüber der Regierung, die die Letztere nicht zu erfüllen vermag. Materielle Besserstellung, so Huntington, werde von sozialer Frustration begleitet. Genau dies ist in China eingetreten. Um nur ein Beispiel zu geben: Der Gini-Koeffizient, Maßstab zur Bestimmung ungleicher Einkommensverteilung, lag in China 1978 noch bei 0,21; im Jahre 1990 erreichte er einen Wert von 0,38 und seit dem Jahr 2000 hat er die als kritische Grenze festgesetzte Marge von 0,4 überschritten; demzufolge besitzen 5 Prozent der Reichsten bereits 50 Prozent der Bankguthaben (Han 2004: 20). Insbesondere zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten Chinas beziehungsweise der Ostküste und den Regionen in Zentral- und Westchina ergeben sich enorme Einkommensunterschiede, die sich in den vergangenen 15 Jahren verschärft haben: Verfügte die ländliche Bevölkerung im Jahre 1990 noch über ein Einkommen, das 45,4 Prozent des städtischen Durchschnittseinkommens entsprach, verschob sich diese Relation bis 2003 auf 30,4 Prozent (Schüller 2004: 519).

2005 sollen offiziellen chinesischen Angaben zufolge 26,1 Millionen Menschen als absolut arm gegolten haben, das heißt ihnen standen gemäß chinesischer Definition weniger als 0,21 US-Dollar am Tag zur Verfügung. Im urbanen Raum sollen 22 Millionen Menschen staatliche Sozialhilfe erhalten haben. Die absolute Zahl der Ärmsten wäre damit (nach chinesischer Definition) von 250 Millionen im Jahre 1978 auf etwa 48 Millionen Menschen im Jahre 2005 gesunken. Berechnungen nach internationalen Standards durch die Weltbank schätzen die Zahl der absolut Armen, die von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben müssen, aktuell auf etwa 200 Millionen Chinesen (Schüller 2004: 520).

Dazu kommt die soziale und materielle Unsicherheit der Arbeiterbevölkerung vor allem in den alten Industrieregionen, in denen ein Großteil der Staatsunternehmen zusammengebrochen oder zahlungsunfähig ist. Viele derjenigen, die als xiagang gelten, als »von ihrem Posten Freigestellte«, die angeblich weiter soziale Grundversorgung erhalten, sind realiter Arbeitslose ohne jegliche materielle Versorgung. Dort muss der Staat sich mit wachsenden Ausbrüchen sozialer Frustration und zunehmender Kriminalität auseinander setzen.

Die politische Führung räumt der »Stabilität« oberste Priorität ein. Dieser Stabilitätsbegriff orientiert sich sehr stark an dem Begriff der (politischen) Systemstabilität, das heißt, dass ein System in der Lage ist, im Fall von Störungen zu einem Gleichgewichtszustand zurückzukehren, und dass es Effizienz, Legitimität, zivile Ordnung, Beständigkeit und andere Faktoren sicherzustellen vermag. Legitimität, die Anerkennung und Akzeptanz der Rechtmäßigkeit einer Herrschaft oder eines politischen Systems, ist ein zentraler Faktor für Stabilität. Nach den Erfahrungen der politischen Wechselbäder nach 1949 sind die Menschen in China primär an Wohlstand, an sozialer und politischer Sicherheit interessiert und nicht an politischen Experimenten oder radikalem politischem Wandel. Im Bewusstsein der Bevölkerung wächst allerdings das Gefühl sozialer Instabilität, gekennzeichnet durch wachsende Unsicherheit des Arbeitsplatzes, Erodierung des (früher von den Danweis bereitgestellten) Netzes sozialer Sicherung (Gesundheits- und Altersversorgung), Korruption, wachsende Kriminalität und Auflösung traditioneller Gemeinschaften. Auch die Auseinanderentwicklung der Einkommensschere zwischen Stadt und Land, zwischen Regionen und verschiedenen Schichten schürt diese Unsicherheit.

Die politische Führung stellt die Partei immer wieder als zentralen Garanten von Stabilität dar, zumal deren Netz flächendeckend das gesamte Land überspannt und damit als zentraler Stabilitätsfaktor begriffen werden könne. Die geforderte Einrichtung von Parteizellen in Privatunternehmen und unter Wanderarbeitern soll nicht nur der Herrschafts-, sondern auch der Stabilitätssicherung dienen. Die These von den so genannten Drei Vertretungen des früheren Parteichefs Jiang Zemin, die mittlerweile Eingang in die Verfassung gefunden haben, fungieren dazu, die Partei nicht mehr als Vertreterin einer Klasse zu begreifen, sondern als Repräsentantin des gesamten (chinesischen) Volkes. Diese These besagt, die KP vertrete die fortgeschrittenen Produktivkräfte, die fortgeschrittene Kultur Chinas und die grundlegenden Interessen des gesamten chinesischen Volkes. Damit begreift sich die Partei nicht mehr als »Klassenpartei« (die die Interessen der Arbeiter und Bauern vertritt), sondern als »Volkspartei«, die die Interessen aller Chinesen repräsentiert. In der Anbindung aller Chinesen an eine »Partei des ganzen Volkes« sieht die Führung einen wichtigen Mechanismus zur Verbreiterung ihrer sozialen Basis. Idealiter soll – so die politische Elite – das gesamte Volk sich im Interesse der Modernisierung und Stärkung der Nation hinter der Avantgarde des Volkes, nämlich der Partei, zusammenschließen.

Der Anspruch allgemeiner gesellschaftlicher Kontrolle durch die Partei lässt sich nicht mehr so einfach durchsetzen. Zu groß sind die verschiedenen Partikularinteressen geworden. Chinesische Berichte zeigen zugleich, dass die Menschen sich zunehmend kollektiv zu wehren beginnen. Die Zahl der von den Sicherheitsbehörden erfassten Protestakte aus der Bevölkerung heraus nimmt von Jahr zu Jahr signifikant zu, das heißtm soziale Spannungen entladen sich immer häufiger in Demonstrationen und Gewalttätigkeiten. Einer Quelle zufolge stieg die Zahl der größeren und teils gewalttätigen Protestaktionen und Demonstrationen von circa 10000 Vorfällen mit 730000 Beteiligten im Jahre 1994 auf etwa 74000 mit einer Beteiligung von circa 3,7 Millionen Menschen im Jahre 2004 (Pei 2005).

Der Verfall der Moral der Funktionäre, die von der Bevölkerung als Personifikation der Partei- und Staatsmacht angesehen werden, verbindet sich zunehmend mit öffentlichem und kollektivem Widerstand betroffener Bevölkerungsteile. Es sind nicht mehr die »Waffen der Armen« (Schlendrian, Angabe falscher Produktionserträge, Zerstörung öffentlichen Eigentums, Abgabe minderwertiger Produkte an den Staat etc.), in denen sich der Widerstand manifestiert, sondern zunehmend organisiert durchgeführte kollektive Protestaktionen. Auch das Internet wird mehr und mehr genutzt, um Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen zum Ausdruck zu bringen. Die Anonymität des Internets hat zur Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit geführt.

Innerhalb der Partei und unter Intellektuellen hat sich eine Diskussion über die Frage entzündet, wie aus diesen Dilemmata herauszukommen ist. Gleichzeitig reagiert die Parteiführung einerseits mit verstärkter Kontrolle der Funktionäre (turnusmäßiger Besuch von Parteischulen, die Ausbildung neuer Dogmen, die für jeden Funktionär ideologisch verpflichtend sind, sowie andererseits mit periodischer Verstärkung der Zensur, etwa im Publikations- oder Internetbereich). Sie weiß zugleich aber, dass sich die Probleme der Stabilitäts- und Herrschaftssicherung durch Kontrolle allein nicht lösen lassen. Der Drang nach tiefgreifenden politischen Reformen wächst, wobei sich in der Diskussion drei funktionale Stränge erkennen lassen: (a) Ausbau der Basisdemokratie (allgemeine Wahlen der administrativen Leitungen auf der Dorf-, Gemeinde- und städtischen Einwohnerkomiteeebene, die sich allmählich auf die oberen Verwaltungsebenen fortpflanzen); (b) Ausbau des Rechtssystems (inklusive der Rechtsorgane), jedoch nicht im Sinne eines »Rechtsstaates«, sondern in Form des yi fa zhi guo, das heißt, mit Hilfe des Rechts das Land verwalten; (c) mehr Transparenz und Partizipation durch eine freiere Presse, NGO-ähnliche Organisationen, Interessenverbände und Verrechtlichung.

Zweifellos werden diese drei Maßnahmenfelder bereits partiell umgesetzt. Das Ziel ist jedoch nicht »Demokratie« an sich, sondern sind neue, indirekte Formen sozialer Kontrolle und sozialer Konfliktbewältigung an der Basis, eben durch ein größeres Maß an kontrollierter Autonomie. Und genau dies ist auch die zentrale Funktion der »autonomen Basiseinheiten« (Verwaltungsdörfer, Wohnviertel). Zugleich sind die Parteiorganisationen der jeweiligen Ebenen als Kontrollinstanzen vorgesehen, die einer allzu großen Verselbstständigung entgegenwirken sollen. Neue Formen von Governance sind intendiert, die die Parteiherrschaft nicht grundsätzlich beeinträchtigen sollen.

Wachsendes soziales Unruhepotenzial im ländlichen Raum

Die Entwicklung im ländlichen Raum und unter der Bauernschaft bereitet der politischen Führung Chinas gegenwärtig das größte Kopfzerbrechen. Die Gründe dafür sind weniger im Zurückbleiben der ländlichen gegenüber den städtischen Einkommen seit den Achtzigerjahren zu suchen. Es wachsen vielmehr die Konflikte zwischen bäuerlicher Bevölkerung und lokalen Funktionären, vor allem auf Grund von Korruption, Willkür, Ausplünderung durch Sondersteuern und -abgaben sowie Konflikten um Bodennutzung und -eigentum. Ein im Jahre 2004 erschienener Untersuchungsbericht zweier chinesischer Journalisten über die Lage der Bauern in der Provinz Anhui schildert drastisch das despotische Verhalten lokaler Funktionäre und die Rechtlosigkeit der Landbevölkerung, die dieser Despotie schutzlos ausgeliefert ist (Chen/Chun 2004).

Die Konflikte um das Bodeneigentum haben sich in den letzten Jahren zugespitzt. Häufig beschlagnahmen lokale Funktionäre, die im Boden »öffentliches Eigentum« sehen, über das sie eigennützig verfügen können, im Namen der »Urbanisierung« oder »Industrialisierung« Boden und verkaufen diesen an Unternehmen oder Immobilienspekulanten, wobei sie die dadurch erwirtschafteten Einnahmen in die eigene Tasche stecken. Die Bauern werden für Bodenverluste häufig gar nicht oder nur unzureichend entschädigt. In ärmeren Gebieten, in denen der Boden im Interesse vorgeblicher »Wirtschaftsentwicklung« enteignet wird, wird dieser Widerstand häufig mit Brachialgewalt gebrochen, wobei die Netzwerke lokaler Kader und die Ferne lokal unabhängiger Medien Widerstand kaum publik werden lassen. Den Betroffenen bleibt dann kaum mehr übrig, als als Bittsteller in die Provinzhauptstadt oder nach Peking zu fahren, in der Hoffnung, dass sich irgendeine Institution ihres Falles annimmt.

Soziale Sicherung, lange als urbanes Problem verstanden, zählt auch im ländlichen Raum zu den Kernproblemen. Im Gegensatz zu den Stadt- waren die Landbewohner seit jeher benachteiligt, da es für sie keine staatlich finanzierte Gesundheitsversorgung, kein Rentensystem und auch keine sonstigen staatlichen Sozialleistungen gab. Überdies können sich immer weniger Bauern die immer teurer werdende Gesundheitsversorgung leisten. Wer ernstlich krank wird und der Behandlung bedarf, sieht sich gezwungen, sich die dafür notwendigen Kosten irgendwo zu beschaffen, häufig von illegalen, privaten Geldverleihern, die dafür Wucherzinsen verlangen. Die Presse beklagt entsprechend, der Hauptgrund für die neuerliche Armut von Teilen der Landbevölkerung sei auf eben dieses Phänomen zurückzuführen. 95 Prozent der neu verarmten Haushalte sollen chinesischen Berichten zufolge aufgrund von Krankheiten in die Armutszone abgerutscht sein.

Man kann der politischen Führung nicht absprechen, dass sie versucht, durch gezielte Maßnahmen die oben genannten Probleme anzugehen. So wurde beispielsweise die Bauernfrage 2004 zu einer zentralen innenpolitischen Frage erklärt. Es wurden Maßnahmen ergriffen, um die Einkommen der Bauern zu erhöhen, der Umwidmung und dem illegalen Verkauf von Boden Einhalt zu gebieten. Der im Frühjahr 2006 vom Parlament verabschiedete 11. Fünfjahrplan sieht unter anderem vor, dass die Schulgebühren für Kinder im ländlichen Raum abgeschafft und bis zum Jahre 2010 wieder nahezu flächendeckend ein genossenschaftliches Gesundheitswesen auf dem Land eingeführt werden soll, an dem sich der Zentralstaat, die Provinzen, Städte und Kreise finanziell beteiligen sollen.

An dem Kernproblem der Rechtlosigkeit der Landbevölkerung, die häufig der Willkür lokaler Funktionäre ausgesetzt ist, hat sich bislang nichts geändert. Auch gibt es für die Bauernschaft bislang keinen eigenen Interessenverband. Ohne Lösung dieser Fragen dürfte sich der schwelende Konflikt zwischen Staat und Landbevölkerung aber weiter verschärfen.

In einer Analyse über die Lage der Bauernschaft kam der Sozialwissenschaftler Yu Jianrong zu dem Schluss, dass sich die Protestformen der Bauernschaft in den letzten Jahren gewandelt hätten: von spontanen Formen des Widerstandes vor den Neunzigerjahren hin zu »gerechtfertigter Rebellion« (bei der versucht worden sei, durch Berufung auf staatliche Politik oder Gesetze der Willkür lokaler Funktionäre entgegenzutreten) und seit 1998 zu Formen, bei denen die Bauern »durch Anwendung von Recht und Gesetzen aktiv für ihre Rechte kämpften«. Das Letztere beziehe sich, so Yu, auf den Kampf für politische Rechte und die Durchsetzung bestehender Gesetze und Vorschriften. Diese Auseinandersetzung richte sich primär gegen lokale Funktionäre und nicht gegen das politische System an sich. Die Bauern organisierten über einzelne Dörfer hinausreichende Netzwerke und griffen zu Mitteln wie Demonstrationen oder Sit-ins, um ihre Ziele zu erreichen. Ihre Methoden seien gesetzlich erlaubt, politisch jedoch verboten. Dieses Agieren der Bauernschaft könne in Zukunft aber dazu führen, dass die Bauernschaft zu einer starken Triebkraft für die Erweiterung gesellschaftlicher Partizipation werden könne (Yu 2005). Selbst das Parteiblatt Renmin Ribao (Volkszeitung) schrieb in einem Leitartikel vom 5.1.06, die Bauern bildeten »die Hauptkraft der Reform«.

Die chinesische Diskussion über politische Reformen

In der Diskussion über politische Reformen spielt die Landbevölkerung eine eher nachgeordnete Rolle. Im Vordergrund stehen die Interessen der städtischen Bevölkerung. Gleichwohl existiert keine einheitliche Meinung über die Frage politischer Reformen. Eine dominante Position vor allem unter Intellektuellen argumentiert, dass es gegenwärtig in China keine grundlegenden Widersprüche zwischen politischer, ökonomischer und intellektueller Elite mehr gebe. Die ökonomische Elite (primär Unternehmer und Manager) sei an ruhiger Unternehmenstätigkeit und an Gewinnen interessiert, nicht aber an Demokratie. Ökonomische Entwicklung und die damit verbundene Entwicklungslegitimität, die negativen Erfahrungen des Zusammenbruchs der Sowjetunion mit seinen Folgen für die innere Entwicklung der Nachfolgestaaten, die »Anti-China-Politik« der USA und die Inklusion von Intellektuellen in politische Entscheidungen und Diskurse hätten auch die Haltung der Intellektuellen gegenüber der Partei verändert. Eine Demokratiebewegung sei kaum zu erwarten, da die Intellektuellen eher konservativ seien und parteiorientiert argumentierten. Eine lang anhaltende Wirtschaftsrezession, verbunden mit einer Finanzkrise und Inflation könnten allerdings die politische Stabilität nachhaltig beeinträchtigen. Korruption sei zwar ein Destabilisierungsfaktor, ein allzu entschiedenes Vorgehen gegen Korruption könne allerdings das Elitenbündnis beeinträchtigen, weil viele mittlere und untere Kader dann Einkommensnachteile zu erwarten hätten. Das gegenwärtige autoritäre System sei weithin akzeptiert, die Bevölkerung interessiere sich in erster Linie für die Lösung der unmittelbaren Tagesprobleme. Demokratie stünde zwar auf der Tagesordnung, sei aber erst in der Zukunft zu realisieren (Kang 2002).

Derzeit gibt es hinsichtlich der Ziele einer politischen Reform im Wesentlichen sechs Auffassungen:

(a) Politische Stabilität durch Demokratisierung, demokratische Rechte und die Einschränkung staatlicher Macht;

(b) Förderung wirtschaftlicher Entwicklung durch politische Reformen (inklusive Verwissenschaftlichung, Demokratisierung, Transparenz und Professionalisierung);

(c) Herrschaft des Rechts als Voraussetzung für Demokratisierung;

(d) Effektivierung des politischen Systems;

(e) Beseitigung von Überzentralisierung;

(f) politische Demokratisierung als Endziel.

Dabei findet eine Unterteilung in Kurz- und Langzeitziele politischer Reformen statt. Die Ersteren müssten Effektivierung staatlichen Handelns und Begrenzung staatlicher Macht zum Ziel haben, wobei grundsätzliches Ziel allerdings die politische Demokratisierung sei. Andere wiederum sehen in der Marktwirtschaft eine zentrale Voraussetzung für moderne Demokratie. Diese Voraussetzung werde in China gerade geschaffen. Zunächst müsse die Demokratie innerhalb der Partei gefördert werden, erst dann könne man ein demokratisches System außerhalb der KP aufbauen. Weitere, graduelle politische Reformen sollten die Autorität des Nationalen Volkskongresses stärken, die Unabhängigkeit des Rechts, Pressefreiheit und die Kontrolle durch die Öffentlichkeit (Huang 2002)

Viele Intellektuelle hoffen zugleich auf Veränderungen durch eine junge Generation, die unbelastet von historischen Traumata unter relativ liberalen Verhältnissen aufgewachsen und sehr individualistisch, wohlstands- und karriereorientiert ist und von der Partei und ihrer Ideologie nur in geringem Maße sozialisiert wurde.

Die Schwierigkeiten

Die gegenwärtige Parteiführung ist sich im Fortgang und der Kontinuität von weiteren Reformen, auch im politischen Bereich, einig. Dissens gibt es eher im Hinblick auf die Tiefe und das Tempo politischer Reformen. Der Stabilitätsgedanke bildet den Hintergrund für die Zögerlichkeit, ein systemisches Reformpaket zu schnüren. Politische Reformen, die, wie in der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa, von ökonomischem Niedergang und sozialen Unruhen, schließlich von dem Zusammenbruch des politischen Systems begleitet sein könnten, finden auch in der Bevölkerung keinerlei Unterstützung. Hier dient die UdSSR als warnendes Beispiel. Auch befürchtet die Führung, dass unter Bedingungen zunehmender Fragmentierung (zwischen Reichen und Armen, Regionen, Schichten) aus politischen Reformen rasch ein Steppenbrand entstehen könne.

Überdies müssen die Schwierigkeiten berücksichtigt werden, denen sich Reformen im politischen Bereich gegenübersehen: (a) politische Reformen sind ein besonders sensitiver Bereich, weil sie eine Neudefinierung der Funktion von Partei und Staat beinhalten; grundlegende politische Reformen könnten rasch zu einer grundsätzlichen Hinterfragung der Rolle der Partei sowie des politischen Systems führen; (b) innerhalb der politischen Elite gibt es keinen Konsens hinsichtlich des Tiefgangs solcher Reformen, so dass einseitige Beschlüsse zu Machtkämpfen führen würden; (c) politische Reformen haben Konsequenzen für die Funktionäre auf allen Ebenen, etwa was Macht, Einkommen, Karrieren und Seilschaften anbelangt. Der Verlust an Unterstützung durch Teile der regionalen sowie lokalen politischen Eliten könnte Folgen für die Steuerungsfähigkeit der Partei und ihre Legitimität unter den Mitgliedern haben, vor allem, wenn deren Interessen massiv beschnitten würden.

1

Feldforschung 2003–05 zum Thema Wahlen, Partizipation und Legitimität in drei Städten und drei Landkreisen.

2

Danwei bezeichnet Staatsbetriebe, die nicht nur für Beschäftigung, sondern für alle sozialen und politischen Angelegenheiten ihrer Mitglieder zuständig sind.

Literatur:

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Huang Weiping: »Quanqiuhua yu Zhongguo zhengzhi tizhi gaige« (Globalisierung und Reform des politischen Systems Chinas), in: ders. (Hrsg.): Dangdai Zhongguo zhengzhi yanjiu baogao (Forschungsbericht über die gegenwärtige chinesische Politik), I, Beijing 2002, S. 21–30

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Xie Zhiqiang: »Dangzheng lingdao ganbu dui 2001-2002 nian shehui xingshi de jiben kanfa« (Grundlegende Meinungen führender Kader von Partei und Regierung hinsichtlich der gesellschaftlichen Lage in den Jahren 2001-2002), in: Ru Xin, Lu Xueyi u. Li Peilin (Hrsg.): Shehui lanpi shu 2003 nian: Zhongguo shehui xingshi fenxi yu yuce (Blaubuch der Gesellschaft 2002: Analyse und Prognose der Lage der chinesischen Gesellschaft), Beijing 2002, S. 31–38

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»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 4/2006