Dagmar Barnouw

Unterscheidungen

V. S. Naipaul und die Identitätspolitik des Postkolonialismus

 

 

Fragen, die den Kern kultureller (ethnischer) Pluralität treffen, sind, so unsere Autorin, das herausragende Problem der Spätmoderne. Früh habe V. S. Naipaul das erkannt, sich mit seiner Befragung von Kulturen jedoch in den Augen mancher zum Verräter an einer Dritte-Welt-Identität gemacht. Ein postmoderner reiner Opfer-Täter-Diskurs betreibe jedoch gerade die erneute koloniale Infantilisierung des »Anderen«. Ein Individuum könne nicht in kollektiven Zuschreibungen aufgehen, die Fehler dysfunktionaler Kulturen zu überspielen, verstelle die Möglichkeit, die Symptome der Krankheit zu heilen. Statt statischer Konstruktionen einer postulierten Identität und Unterbindung von Differenz komme es also auf die Anerkennung fluider, offener Verhandlungsprozesse zwischen Vertrautheit und Fremdheit an.

Das Shibboleth der westlichen Welt ist kulturelle Pluralität, und in den politischen und intellektuellen Diskursen des Westens, vor allem auch des Einwanderungslandes USA, bedeutet das eine aktivistische Bejahung dieser Pluralität als plurale Unterschiedlichkeit ebenbürtiger »Kulturen«. Trotz unbestreitbar positiver Aspekte kann aber dieser politisch-moralische Aktivismus zu einem problematischen Kulturbegriff führen, weil er mit der prinzipiellen Bejahung der Wertgleichheit aller Kulturen die Frage unterbindet, »Was ist eigentlich Kultur«? Die moderne westliche Kultur ist dann einfach mit »cultural diversity« gleichzusetzen, die grundsätzlich zu bejahen, in jedem Fall erstrebenswert ist, gleichgültig welcher Art die kulturellen Unterschiede sind: Pluralität selbst ist der nicht zu hinterfragende Wert; jede kritische Befragung »des Anderen« wird als »Ausgrenzung« oder »Abgrenzung« abgewertet. Wie alle Imperative ist aber auch der moralische Imperativ der Gleichheit des Unterschiedlichen perspektivisch naiv: Es wird nicht beachtet, dass solche Gleichheit nur in der Perspektive einer politischen Majorität existiert, die es aus bestimmten, jeweils unterschiedlichen Gründen sich selbst zu einer kulturell-moralischen Pflicht gemacht hat, diese Pluralität nicht nur zu bejahen, sondern zu fördern, ihr möglichst zu größerem Wachstum zu verhelfen. Je mehr Verschiedenes, desto besser – solange noch die Perspektive der Majorität gilt, in der diese Situation erstrebenswert scheint. Sobald diese politische Majorität nicht mehr existiert, wie es etwa in Kalifornien sehr bald der Fall sein wird, wird sich auch das Ideal der »cultural diversity« ändern, denn aktive Toleranz, das heißt Förderung dessen, was anders ist, wird gemeinhin nur von der politischen Majorität erwartet, weil nur sie die mit einer verantwortlichen Machtausübung verbundene Pflicht hat, prinzipiell für andere Gruppen und deren Verhaltensweisen offen zu sein. Die Frage der Toleranz ist fast immer eine Frage des Verhaltens der Majorität gewesen, die es sich sozusagen leisten kann, weil sie die politische Macht hat, also die politischen und kulturellen Institutionen aufbaut und kontrolliert. Wenn die Machtverhältnisse nicht mehr eindeutig sind, wird sich auch die Frage der Toleranz anders stellen. Und hier sind die Beobachtungen des Kulturkritikers und Dokumentaristen V. S. Naipaul sehr aufschlussreich, denn in Westindien, wo er aufgewachsen ist, gab es weder eindeutige Machtverhältnisse dieser Art – die Kolonialherrschaft war qualitativ anders –, trotz westlicher Einflüsse im Erziehungssystem, noch einen westlichen Toleranzbegriff.

Naipaul ist vielleicht der einzige bedeutende zeitgenössische Schriftsteller, dessen Werk so stark durch seine kulturelle Herkunft bestimmt, und dem es trotzdem gelungen ist, deren unaufhebbar verwirrende Fremdheit einsichtig zu machen. Als Reisender und Betrachter, der sich von seinen Ursprüngen entfernt, aber sie niemals zurücklässt, hat Naipaul gelernt, Fragen zu stellen, die den Kern kultureller (ethnischer) Pluralität treffen – das Problem der Spätmoderne. Immer kompliziertere Technologien und ihre globalisierenden Energien zeigen immer deutlicher, dass viele Gruppen Schwierigkeiten haben, funktionierende Kulturen zu erhalten. Dabei werden Fragen kultureller Funktionalität und Kompetenz aber in einem technokratischen Kontext gestellt, der sich immer deutlicher als das Ein-Parteien-System des Westens erwiesen hat. Diese Tatsache mag dazu beigetragen haben, dass westliche Intellektuelle in ihrer Besorgtheit über einen westlichen politischen und kulturellen »Imperialismus« zögern, an offensichtlich gestörte nicht-westliche Kulturen Fragen der Funktionalität und Kompetenz zu stellen. Naipaul gehört nicht zu ihnen, und seine Unabhängigkeit, obwohl für seine vielen Kritiker provokativ and irritierend, ist auch für viele Leser nützlich, denn sie hat Raum geschaffen für eine dissonante Vielzahl von Stimmen, die sonst nicht gehört worden wären.

Für die in der Literaturkritik von Naipauls Texten gegenwärtig vorherrschende Gruppe, die postkolonialistische Theorie, die man üblicherweise an westlichen, vor allem US-Universitäten findet, ist der wohl schockierendste Aspekt von Naipauls Werk ein sozusagen »metakoloniales« Zögern: der Reisende auf unbekanntem Territorium, der, wenn er Unvertrautes sieht, noch nicht weiß, was es ist, das er da sieht. In der postkolonialistischen Perspektive ist Naipauls moderner Wahrheitsbegriff als mit anderen geteilter Prozess des Vertrauens auf Evidenz a priori suspekt. Und das ist auch sein betontes Interesse am Partikulären eher denn am Allgemeinen, sein Bestehen auf individueller eher denn kollektiver Verantwortlichkeit, sein skeptisches Verständnis für das Ungefähre, auf obskure Weise Zusammengesetzte dessen, was man heute so tröstlich wie simplistisch kulturelle Identität nennt.(1)

Es waren denn auch gerade die Schwierigkeiten, seinen eigenen multiethnischen »Hintergrund« zu verstehen, die den in Oxford ausgebildeten Westinder Naipaul zu dem Versuch anregten, die Schwierigkeiten anderer Kulturen zu verstehen und zu dokumentieren. Aber wo er ausdrücklich seine moderne Rechenschaft für die mit anderen geteilte Welt akzeptiert, war er auch beunruhigt darüber, wohin ihn dieser Versuch führen könnte. Das »Rätsel der Ankunft« hat ihn eher angstvoll als freudig erregt, denn wie er wusste, geht es dabei um das unsichere, gefährdete Verständnis des Unterschieds in einer Welt komplexer Unterschiedlichkeit, in der die Sehnsüchte zunehmend öffentlich sind, die Ängste intim und verhüllt. In seinen späteren, offener autobiografischen Texten wird die Mobilität des Reisenden metaphorisch: eine Strategie für seine dokumentarische Erzählweise, die um immer subtilere Redefinitionen seiner Betrachterposition kreisen.(2) Um über die von vielen Deplazierungen verursachten kulturellen Selbsttäuschungen seiner eigenen Gruppe hinwegzukommen hat Naipaul sich auf die Dunkelheiten seiner Herkunft konzentriert, um sich so, wenigstens teilweise, ihrer beängstigenden Fremdheit zu entledigen. Seine intensive, in gewisser Weise physische Abneigung gegen diese Fremdheit kommt aus seiner Angst vor einer ihm aufgezwungenen fremdartigen Identität. Naipauls Ängste sind konkret, und er spricht sie klar aus: Er ist entsetzt für die, die in desolaten dritten Welten leben, weil er sich ihre Situation aus eigener Erfahrung heraus so genau vergegenwärtigen kann. Im Prolog zu einer Autobiographie tauchen Erinnerungen eines vergangenen »Gefühls von Schmutz und Armut und leeren Tagen« auf, die das Wissen des erwachsenen Betrachters von der natürlichen und kulturellen Überflüssigkeit vieler Menschen geschärft haben. Für den aufmerksamen, sensiblen Jungen, der im »multikulturellen« Trinidad aufwuchs, bedeutete »das Andere« nicht die Anregung, sich selbst kulturell zu definieren, sondern die ständige Erinnerung daran, dass es eine solche Definition für ihn nicht gab, und dass er sich seinen Weg allein suchen musste. Am Ende des Prologs, als er die Geschichte seiner Familie besser kennt, versteht er, was sein Vater ihm hinterlassen hat: den »Beruf« des Schreibens aus »Angst vor der Auslöschung«. Die »Panik, zu versagen, zu sein, was ich sein sollte« trieb ihn viel mehr an als »bloßer Ehrgeiz«.

Getrieben von dieser Panik, schaffte er es, ein Stipendium für ein Studium in Oxford zu bekommen und lernte, mit der Zeit und unter Schwierigkeiten, den Beruf des Schriftstellers. Die europäische literarische Kultur erwies sich als unentbehrlich für diesen Lernprozess, vor allem der gut organisierte Londoner Kulturbetrieb: der »Caribbean Service« des BBC, für den er eine Weile lang arbeitete und wo ältere, erfahrene Journalisten ihm mit dem Schreiben halfen, die Verleger, die Kritiker, die Buchhändler, die literarischen Preise.(3) Erst nachdem er seine »richtigen« Bücher in England veröffentlicht hatte, wagte er in die dritten Welten von Trinidad, Indien, Südamerika, Afrika »zurückzukehren«. Er brauchte die Bestätigung seines »Berufs« durch eine funktionierende komplexe literarische Kultur, um einigermaßen sicher zu sein, dass Erfahrungen, die die Ängste und Schwierigkeiten seiner Jugend eher bestätigten denn milderten, ihn nicht überwältigen würden: Um schreiben zu können, musste er sich im wörtlichen Sinne »zusammennehmen«, nämlich festhalten an dem kulturellen »apparatus of order«, den er in London gefunden hatte. Naipauls Erfahrung einer existenziellen Bedrohung durch das Eigene scheint für manche westliche Intellektuelle (oder solche, die mit den Maßstäben des westlichen Kulturbetriebs arbeiten) nicht nachvollziehbar: Dieses Eigene, Naipauls Jugend in Trinidad, ist für sie das ganz Andere, und nicht bedrohlich, sondern im unbefragten Hinnehmen, ja Zelebrieren, erlösend. Naipauls Angst vor diesem Eigenen hat ihn zum Erzfeind aller Postkolonialisten gemacht, weil sie sie aus ihrer meist sehr viel unschuldigeren, nämlich unwissenderen Sicht als Verleugnung des Eigenen missverstanden haben, die sich dann ihren ehrfürchtigen Anrufungen des Anderen in den Weg stellen würde. Sein Werk und seine angeblich kolonialistische »Position« werden aus ideologischen Gründen generell scharf abgelehnt, womit die Studenten über die koloniale wie die postkoloniale Situation katechisiert, aber nicht unterrichtet werden. Für den jungen Kolonialen Naipaul war das noch ein kulturell höchst wichtiger Unterschied, wobei »kolonial« für den jungen Hindu Naipaul sowohl Katechisierung als auch Befreiung davon bedeutete: nämlich den trotz und wegen der Ansprüche des kolonialen Erziehungssystems ermöglichten Prozess einer intellektuellen Selbstermächtigung.

Der mit Naipaul ungefähr gleichaltrige »Vater« des Postkolonialismus, Edward Said, sah das ganz anders. In seiner »vernichtenden« Kritik von Naipauls dokumentarischem Bericht Among the Believers: An Islamic Journey (1981) warf er dem Autor »unkritische Ehrfurcht gegenüber dem Kolonialsystem« vor – eine Position, mit der das Buch, eine der ersten und immer noch klügsten Analysen des neuen Phänomens einer explizit religiös-politischen Revolution, überhaupt nichts zu tun hatte. Er fand beim Schriftsteller Naipaul eine »tiefe Leere«, welche die »Celebrity Naipaul« dazu gebracht habe, »im Leser eine Attitüde der Distanzierung und der moralischen Überlegenheit [gegenüber der Dritten Welt] zu erwecken«.(4) Said, der großbürgerliche palästinensisch-amerikanische Professor, konnte Naipaul seine angstvolle Reaktion auf die indische »Verneinung« in An Area of Darkness nicht vergeben: Sie war ihm nicht nur unzugänglich, sondern als profunder Mangel an Mitleid unzulässig. Es stimmt, dass Naipaul nie viel gehalten hat von dem abstrakten, »literarischen« Mitleiden der Intellektuellen mit den Unterdrückten. Konkret ist sein eigenes entsetztes Mitgefühl mit den Menschen, von denen er abstammt – »seit Menschengedenken arm, ohne Stimme« – und von deren Obskurität und Überflüssigkeit er sich distanzieren musste, um sie deutlicher zu sehen und zu dokumentieren. Dabei ist er einer der nachdenklichsten und umsichtigsten Kritiker kolonialer Infantilisierung, der immer darauf hingewiesen hat, dass die Abhängigkeit von einer Autorität außerhalb des Individuums und der Gruppe die Entwicklung der für ihn zentral wichtigen kulturellen Verantwortlichkeit verhindert: »Als Kolonialer muss man zunächst immer zu lernen versuchen, sich vom Vertrauten zu entfernen und auf sich selbst zu verlassen, ehe man für andere verantwortlich sein kann.« »Selbstverantwortung« bedeutet für Naipaul »Leistung und Schöpfung«, die er in dem »ehrlichen« Dialog des Schriftstellers mit seiner eigenen »unentwickelten Gesellschaft« realisiert sieht. Kulturelle Verantwortlichkeit heißt also, politische und soziale Schwierigkeiten so klar wie möglich zu sehen.(5) Seine eigene Furcht vor der »absoluten Reduzierung; das Gefühl zerdrückt zu sein« führt er teilweise zurück auf die »alte koloniale Angst vor der Zerstörung der eigenen Individualität«, aber vor allem auf seine eigene »typisch indische Großfamilie … ein Mikrokosmos des autoritären Staats, in dem Macht das Wichtigste ist.«

Der Prozess seiner Öffnung für eine größere Welt begann in einer Periode enormer politischer und sozialer Veränderungen, als der junge Schriftsteller sich von der postkolonialen Zukunft eine humanere, und das hieß für ihn auch rationalere Weltpolitik versprach, die dann nicht eintraf. Die Gründe dafür fand er nicht immer nur »außen angesiedelt«, »in der Feindseligkeit anderer Gruppen. Fehler können sehr wohl bei bestimmten Gruppen selbst liegen, als Grenzen ihrer zivilisatorischen oder kulturellen Möglichkeiten.«(6) Fragen dieser Art sind leider für multikulturalistische Kritik tabu geworden, vor allem in ihrer postkolonialistischen Version, die in Naipauls Sicht alle vormals kolonisierten Kulturen auf »doktrinäre Weise« »romantisiert«. Lange vor der offiziellen Etablierung des ideologischen Multikulturalismus hatte Naipaul dieses Problem in seinem Essay »What’s Wrong With Being a Snob?« (1967) behandelt. Er merkte hier an, das »Mitgefühl mit den Unterdrückten« habe sich in ein unkritisches »Hochhalten ihrer Werte« verwandelt, und kritisierte damit bereits das drei Jahrzehnte später mit zunehmend uninformierter Energie einsetzende Feiern kultureller Identität auf der Basis vorheriger Unterdrückung.(7) In Naipauls Sicht ist solche einfache Umkehrung unehrlich und herablassend, da sie voraussetzt, dass Bevölkerungsgruppen in postkolonialen Situationen immer hilflos gewesen sind und sein werden, und immer und alle auf dieselbe Weise. Mit ihren ausschließlich jammervollen Erinnerungen bleiben sie auf Dauer die Opfer westlicher Aggression, und für die Verbesserung ihrer Lage sind ausschließlich ihre früheren Unterdrücker verantwortlich. Naipaul hält dieses Argument schädlich für Menschen, deren Leben in der Tat auf höchst unterschiedliche Weise schwierig gewesen war (wenn auch, wie er wohl wusste, den Intellektuellen willkommen, die für sie sprechend eine verallgemeinernde Gleichheit des Leidens konstruieren können). Der Wandel zum Besseren verlangt aber mehr als diese Gleichheit, denn »die Unterdrückten haben ihre jeweils eigene Verantwortlichkeit«. Als Beobachter ist Naipaul nicht an Anklagen der Vergangenheit interessiert, sondern am Erfolg und Scheitern individueller Kulturen. Die Verantwortlichkeit »des Westens« für die Schwierigkeiten »der Dritten Welt« müssten von Fall zu Fall untersucht werden, das heißt im Kontext spezifischer, detaillierter kultureller Analysen.

Diese Perspektive gegenseitiger Abhängigkeiten kontrastiert scharf mit postkolonialistischen manichäischen Szenarios einer kollektiven westlichen Schuld und kollektivem Feiern von Kulturwerten der Dritten Welt, gleichgültig als wie wertlos oder sogar schädlich sich diese im wirklichen Leben postkolonialer Gruppen erwiesen haben. Ausgehend von Saids Argumenten in Orientalism (1978) porträtierten postkolonialistische Kritiker Naipaul als Verräter an der Sache der Opfer des Kolonialismus, mit denen er sich solidarisch hätte fühlen müssen. Stattdessen habe seine distanzierende Perspektive westliche Leser in ihrer kolonialistischen Distanz von den Machtlosen bestätigt. Die in der Schweiz erzogene indisch-amerikanische Schriftstellerin Bharati Mukherjee hatte in einigen ihrer früheren Romane witzig und ironisch die Veränderungen aufgezeichnet, die auch ein aus der Oberschicht stammender Einwanderer in Amerika an sich erfährt. Jahrzehnte später, nun Professorin für Postcolonialist Studies in Berkeley, gratuliert sie sich selbst, dass sie jetzt in Indien (wo sie nur kurz gelebt und sich nie engagiert hat) ihre Wurzeln habe und mit »Zuneigung und Sympathie« über ihr kulturelles Erbe schreibe. Sie grenzt sich nun scharf von der »morbiden und abwehrenden Ironie« in Naipauls »expatriation« ab, bezeichnend für seine »Distanzierung vom Subjekt«. Seit ihrer »Bekehrung« zum Postkolonialismus weiß sie genau, wie es um Naipauls Werk steht: »… er reist, um seine eurozentrischen Vorurteile zu bestätigen.«

Viele Schriftsteller und Intellektuelle asiatischer und afrikanischer Herkunft sind erstaunlich aggressiv in ihrer Abwehr von Naipauls angeblich »professionellem Pessimismus« in Bezug auf Länder der Dritten Welt. Sein Bemühen um ein besseres Verständnis der »Fehler« gestörter Kulturen macht ihn selbst zum moralischen Krüppel: Ist es nicht seine tiefste Sehnsucht, für einen Weißen gehalten zu werden? Hofiert er nicht die Unterdrücker? Naipaul scheint seine Feinde aufs grotesk Äußerste zu reizen. Zum Beispiel erklärt Jamaica Kincaid, dass sie außer sich sei vor Ärger, und dass wohl nur »Westler« etwas Gutes über ihn zu sagen hätten: »Rechte, ich möchte nicht sagen ›Weiße‹.« Warum nicht? Ihre Gleichsetzung von westlich, rechtsradikal und weiß ist ebenso deutlich wie vielsagend. Ishmael Reed behauptet, dass Naipaul an der »weißen Börse der Unwertpapiere« spiele, die Ängste und die abergläubischen Vorbehalte seiner Leser gegenüber allen Farbigen bestätige und sie beruhige, dass der Westen das Beste sei. Reed behauptet auch, dass Naipauls Texte und die Reaktionen seiner Leser ein »letzter, verzweifelter Versuch weißer Liberaler« seien, »sich gegen die anschwellende Welle des Multikulturalismus zu stemmen« – merkwürdig, denn ihren Status als erfolgreiche Schriftsteller verdanken Reed und Kincaid vor allem der Herrschaft des doktrinären Multikulturalismus weißer, westlicher Intellektueller im amerikanischen Kulturbetrieb. Vielleicht noch wichtiger ist hier auch die Tatsache, dass westliche professionelle Multikulturalisten aller Farben weit entfernt von den oft hoch gefährlichen Schwierigkeiten ethnischer Pluralität leben und denken, die im Alltag der Dritten Welt Routine sind – Schwierigkeiten, die sich zunehmend auch in den US-amerikanischen »inner cities« (vor allem Los Angeles) finden, wo die privilegierten Intellektuellen, seien sie nun weiß oder farbig, natürlich nie wohnen würden.

Der selbstgerechte Provinzialismus dieser Angriffe verneint schlicht die Konflikte, Widersprüchlichkeiten und meist unsanften Ironien der postkolonialen Situation. Und so kann dann Naipauls Hochschätzung westlicher Werte wie »Intelligenz und Bemühung und Initiative«, die in der Tat von zentraler Wichtigkeit für die Entwicklung seiner, jeder kritisch vergleichenden Perspektive sind, ganz einfach als Ursünde abgetan werden. Schriftstellern wie Kincaid und Reed hat die Zugehörigkeit zur intellektuellen Elite einer pluralistischen Kultur sehr viel genützt, gerade weil sie sich stillschweigend auf das einschließende Bemühen und die Initiative des westlichen Kulturbetriebs verlassen konnten – eine Tatsache, deren Wichtigkeit für das Gelingen seiner Arbeit Naipaul immer explizit bestätigt hat. Er hat denn auch nie das Privileg von Minoritäts-Schriftstellern für sich in Anspruch genommen, ohne Begründung negative Verallgemeinerungen über andere Gruppen zu machen – ein absolutes Tabu für manche weiße liberale Intellektuelle. Aber da dieses Privileg ein wichtiger Aspekt ihrer moralisch-politischen Autorität ist, die sich auf ihr Erbe vormaliger kollektiver kolonialer Unterdrückung beruft, ist es in der Tat »logisch«, dass sie von ihrer Position einer kulturell signifikanten Postkolonialität aus Naipaul verdammen, weil er sich nicht ihren Ansprüchen anschließt. Denn mit dieser Verweigerung unterminiert er die Solidarität einer gerade in ihrer Marginalität mit sich selbst identischen Gruppe, zu der er sich »eigentlich« gehörig fühlen sollte.

Die Tatsache, dass er sich von Anfang an gegen die Einordnung als »West-Indian writer« wehrte (auch mitunter Verlage wechselte, die aus geschäftlichen Gründen darauf bestanden), hat vor allem postkoloniale Schriftsteller und postkolonialistische Kritiker erbittert. Derek Walcott, der sowohl seine zum Teil afrikanische Herkunft und das multiethnische, multirassische Trinidad als identitätsstiftend feierte, hatte eines seiner frühen Gedichte, »Laventille«, Naipaul gewidmet, dem seine Arbeiten gefielen und der sie auch anderen Schriftstellern empfahl. Walcotts scharfer Angriff auf Naipauls angeblichen Rassismus in einer langen Besprechung von The Enigma of Arrival (The New Republic, 13.4.87), Naipauls intimstem und schwierigstem Buch, kam völlig unerwartet. Emblematisch für die langjährigen, anhaltenden Konflikte zwischen Trinidads schwarzer und indischer Bevölkerung, konstruieren Walcotts Anklagen ein manichäisches Szenario von unversöhnlichen Gegensätzen, ein instruktives Arrangement von postkolonialistischen Selbstbestimmungen, für die Naipauls subtile, zögernde Selbsterforschungen nur der gehasste Anlass sind: Es geht nicht um Kritik, sondern um Denunziation. Für Walcott ist Naipaul, 1987 der weitaus bekanntere von den beiden Autoren, nichts als ein eingefleischter Rassist, der von Beginn an ein »Verräter« Trinidads gewesen war. Die »Lüge des Autors« begann danach bereits in seiner Beschreibung, wie er als junger Mann, im wörtlichen Sinne völlig unerfahren, an einem heißen Sommerabend in New York, einer Stadt, wie er sie noch nie gesehen hatte, die Magie des Lichtes erfahren hatte. Walcott fragt tatsächlich anklagend, wie es Naipaul fertig gebracht habe, irgendeine Hitze »besser oder magischer zu finden als die trockene Hitze der Karibik, mit ihren wohltätigen leichten Winden und Schatten? Warum ist diese Hitze magisch in Griechenland und in der Wüste und nur einfache Hitze in Trinidad?«

Die Antwort steht von vornherein fest: weil Naipaul ein Verräter der für Walcott magischen Insel Trinidad ist, auf der er dann auch die rassischen Probleme sieht und analysiert, die Walcott aufs Strikteste leugnet, da nur ein Verräter sie so sehen könnte. Die sich im Kreise drehenden Argumente enden mit der Anklage, dass Naipaul sich selbst ausschließt aus der »großen Gruppe karibischer Schriftsteller«, weil er für seine Arbeit die Erfahrung einer größeren Welt brauchte und ihm die Reize Trinidads nicht genug waren, wie sie es »für Tausende von jungen asiatischen, afrikanischen, kanadischen und australischen Schriftstellern aus all den vorherigen Provinzen des Empire waren«. In Walcotts Szenario würden alle diese jungen Schriftsteller genau dasselbe fühlen – eine emotionale und intellektuelle Solidarität, der sich Naipaul arrogant entzogen habe. Aber gab es da nicht Unterschiede in den jeweiligen kolonialen Situationen und Temperamenten, ganz zu schweigen von Talenten? Um Naipaul als Verräter an der Dritten Welt zu entlarven, musste Walcott argumentieren, dass es nicht um das schriftstellerische Talent für Beobachtung und Darstellung ging, sondern um die ideologisch fixierte in und mit sich selbst solidarische Gemeinschaft der »colonial experience«, aus der sich dann zwangsweise die ebenso konforme »postcoloniality« und damit postkolonialistische Perspektive entwickeln musste. Walcotts absolutistische Ablehnung von Naipauls literarischer Leistung wirft ein scharfes Licht auf seine Unfähigkeit, die andersartige Perspektive eines Schriftstellers zu tolerieren, der zwar seine karibische Herkunft teilt, aber auf der Basis anderer Erfahrungen, einer anderen Denk- und Sehweise, eines anderen schriftstellerischen Talents, sich nicht deren »Zauber« unterworfen hat. Allein seine Andersartigkeit, die Tatsache, dass er nicht wie der Dichter Walcott Dichtung über Geschichte setzt, Natur über Kultur, das gesprochene über das geschriebene Wort, macht Naipaul zum Verleugner und Verräter: In »The Antilles«, seiner Rede zum Empfang des Nobelpreises (einige Jahre vor Naipaul) feierte Walcott die Energien der Erneuerung und Verjüngung in den zeitlosen Gedichten, die Trinidad von selbst über sich selbst schreibt, die ewige Schönheit der Karibik, in der sich »der Seufzer der Geschichte auflöst« (»faced with its beauty, the sigh of History dissolves«). Indem er das von den Antillen Gedichtete ausspricht, vernichtet er Naipauls Rationalität, sein Bemühen um historisches Verständnis und die Komplexität sozialer und politischer Strukturen. Schön, wenn es so einfach wäre. Für Walcott lähmt Geschichte die Wut des unschuldigen Opfers und das Schuldbewusstsein des Täters, die in seinen Gedichten freigesetzt werden; in Naipauls Sicht erhellt und entwirrt Geschichte, zumindest partiell, die Obskuritäten der Macht, gibt ihnen eine Perspektive, hinterfragt sie, revidiert sie und setzt damit den Prozess eines Verstehens in Gang, in dem Schuld und Unschuld zeitlich und nicht absolut gesehen werden.

Walcott hat immer das »Lokale« des schwarzen Trinidad zelebriert, eine Art von globalisierter Provinz, unberührt von der westlichen Geschichte. Dort allein ist seine dichterische Imagination angesiedelt; auch während der vielen Jahre von Walcotts Universitätslaufbahn in den USA, während der er nur Urlauber auf Trinidad war. Grundsätzlich kann nur ein Einheimischer wie er und nicht ein Reisender wie Naipaul einen Ort wie die Antillen lieben, weil »Liebe statisch ist und Reise Bewegung«. Wenn Reisende sagen, sie liebten die Antillen und würden zurückkommen, »dann meinen sie, sie könnten niemals dort leben, die übliche freundliche Beleidigung des Reisenden, des Touristen«.(8) Diese Beleidigung findet er reichlich in den langen autobiografisch-fiktionalen, essayistischen Reflektionen von Enigma of Arrival, in denen Naipauls Liebe für die englische Landschaft gerade die Unbeständigkeit und Beweglichkeit des Liebenden bedeutet, seine oft schmerzlichen, aber unvermeidlichen Veränderungen in der Zeit: über Jahrzehnte eines schriftstellerischen Lebens, in dem sich auch seine Texte ändern. Aber für Walcott bedeutet »native« die unveränderliche, unwissende Unschuld außerhalb, jenseits von Zeit und Geschichte, wie er sie in dem Inselparadies von Trinidad findet, das er fraglos, rückhaltlos bejaht. Und sein im wörtlichen Sinne »rücksichtsloses« Feiern, wer und wo er ist, seine authentische, unveränderliche Identität, beruft sich auf diese Unschuld als Nichtwissen – ein vereinfachter Rousseauismus, den Naipaul sich nicht hätte leisten können. Für Walcott ist aber gerade die Tatsache »großartig«, dass »der Provinzielle, der Koloniale, sich nicht über seine Provinz hinaus zivilisieren kann«, gleichgültig, wie weit er sich von dem, was er »beneidet«, absorbieren lässt – die Wälder einer Villa außerhalb Roms, die »schattigen Alleen des edwardischen England«, die Naipaul irritierenderweise so gern mochte. Es waren aber wohl weniger Naipauls angebliche Anpassungssucht und sein Rassismus, die Walcotts prämoderne postkolonialistische Verdächtigungen der Historizität provozierten, seine Abwehr der begrifflichen Komplexität, der fluiden Identität, der Veränderung, der Neugier, des Skeptizismus, der Vieldeutigkeit und Unsicherheit, als vielmehr sein Wunsch nach einer identitätskonformen Solidarität aller third-world-Schriftsteller und nach Anerkennung seines eigenen Werkes als »exemplarisch« – eine Anerkennung, die der Nobelpreis ihm bestätigt hat. Und so kann er auch nicht verstehen, dass der sprichwörtlich Koloniale in seiner Villa außerhalb Roms sehr wohl »zivilisiert« werden konnte, nämlich eingebürgert in die politische Machtstruktur der civis, ein neuer »citizen«, oft mächtiger als die »natives«, gerade weil es einen Unterschied zwischen imperial (imperialistisch) und kolonial (kolonialistisch) gab, und damit zusammengehend auch eine vernünftig abwägende Einschätzung der Mischung aus positiven und negativen »Segnungen« der Kolonisierung. Bis zu einem gewissen Punkt teilte die britische Kolonisierung mit der römischen diese jeweils unterschiedliche Mischung, deren sich Naipaul bewusst war: Sein Talent zusammen mit seiner kolonialen Ausbildung hatten ihn im englischen Kulturleben etabliert und ihm damit den Zugang zu einer größeren Welt kultureller Unterschiede ermöglicht. Gerade diese ersehnte Möglichkeit verschloss ihm Walcotts paradiesisches Trinidad, das Naipaul hinter sich lassen musste, weil es ihm nicht »genügte«, das heißt gab, was er brauchte.

Es ist das alte Dilemma des Kontakts zwischen Kulturen mit unterschiedlichen Graden und Arten der Komplexität, wie es schon die Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts beschrieben, etwa Georg Forster und Alexander von Humboldt: Es gibt kein Zurück; wohl aber unterschiedliche Reaktionen auf diese Einsicht. Naipauls moderne Reaktion ist eine; Walcotts dezidiert prämoderne eine andere. Naipaul ließ es dabei bewenden und ging seinen Weg; Walcott konnte es nicht unterlassen, Naipaul des Verrats an den »Abkömmlingen von Zwangsarbeitern und Sklaven« zu verklagen; schlimmer noch, seiner »unfairen und ungerechten Lügen« über Trinidads Mangel an (Hoch-)Kultur – Lügen, die auf die »obszönen« Kosten derjenigen gingen, die nicht Naipauls »Eloquenz und Stil« hatten, und für die es »weder Kunst, noch Kultur, noch Blumengärten, noch ehrwürdige alte Ulmen« gab. Das bezieht sich auf Naipauls positive und damit in postkolonialistischer Sicht »ausgrenzende« Einstellung zu dem britischen kolonialen Erziehungssystem als funktionierende Institution. Es waren für den jungen Hindu Ordnungsstrukturen, die sich auch in den von der Kolonialmacht unterhaltenen soliden Gebäuden, gepflegten Gartenanlagen und Bibliotheken auf Trinidad ausdrückten, in denen er vor dem desolaten Chaos seiner Großfamilie Zuflucht suchte. Viele Jahrzehnte später, während derer sich die Machtkonstellationen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts völlig verändert hatten, war Walcott in America immer noch – oder, besser, gerade wieder – fixiert auf die alten Anklagen: Die sozial-psychologisch verständliche Reaktion eines sehr intelligenten Jungen, der sich auf Trinidad häufig psychisch und auch physisch bedroht und beengt gefühlt hatte, genügte Walcott, das ganze Werk des Erwachsenen als rassistisch abzulehnen und in Grund und Boden zu verdammen. Für Naipaul war die große Armut und Rückständigkeit der Inselbevölkerung, wie er sie später an vielen anderen Orten finden würde, eine erschreckende Tatsache, die zur sozialpolitischen Intervention aufrief. Walcott dagegen hatte in Gedichten und lyrischer Prosa die Schönheit dieser Armut gefeiert.

Postkolonialistisches Desinteresse an den verschiedenen Reaktionen an verschiedenen Orten, zu verschiedener Zeit auf die unterschiedlichen Arten kolonialer Machtausübung hat genau die »Mustererzählungen« zur Folge gehabt, die immer dem kolonialistischen Diskurs vorgeworfen wird: Alle Kolonialen sind/waren absolut unterdrückt, Opfer einer absolut bösen/allgegenwärtigen kolonialen Macht. Es stimmt, dass für Naipaul Begriffe wie »Mitleid«, »Rassismus«, »Unterdrückung«, »zum Opfer machen« viel zu allgemein, politisch ausnutzbar und deshalb unnütz sind; sie haben aber auch nur allzu wirksam die unbequemen, unvermeidbaren Fragen kultureller Werturteile verdunkelt. Es geht um die Kompetenz von Kulturen, durch ihre Institutionen und Gesetze die gegenseitige Verantwortlichkeit ihrer Mitglieder untereinander und auch gegenüber anderen Gruppen zu entwickeln. Blindheit gegenüber den eigenen Fehlern in dysfunktionalen Kulturen ist so destruktiv, weil sie die Symptome der Krankheiten unterdrückt, die richtig diagnostiziert werden müssen, um geheilt werden zu können. Naipaul hat immer argumentiert, dass man sich seine eigene Kultur sehr genau ansehen und versuchen müsse, die Gründe für ihre Schwächen zu verstehen, in seinem Fall die Probleme Westindiens und Indiens, dem Land seiner Vorfahren. Nur dann könne man zu einem globalen Verständnis von Kulturen gelangen. Ein nützlicher Rat in unserer Periode der Globalisierung; aber da ist die große Versuchung, mehr über die Fehler des anderen – des Feindes – wissen zu wollen als über die eigenen. Bei der gegenwärtigen, wenn auch auf die intellektuellen und politischen Eliten beschränkten Privilegierung des Opferstatus aller vormals Unterdrückten bedeutet Naipauls kritische Perspektive nichts als »entwurzelte«, kalt ichbezogene Hybris. In Naipauls Sicht kultureller Pluralität hat es Erfolge gegeben, aber auch tiefe Frustrationen, Verbindungen und Abgrenzungen, allmähliches Sichöffnen und abruptes Sichverschließen: das Aufkommen restriktiver »Traditionalismen« gegen reale und fiktionale Drohungen der Globalisierung – genau die in Among the Believers analysierten Konflikte. Seine spezifische Erfahrung und Intelligenz haben es ihm schwer gemacht, die westliche Ideologie des Multikulturalismus zu akzeptieren. Sie haben ihn auch verwundbar gemacht für die massiven Anklagen des voreingenommenen Eurozentrismus, vor allem von professionellen Lesern, die viel in die kulturelle Politik und die ideologische Rhetorik (»theorizing«) des universitären Postkolonialismus investiert haben.(9) In ihren Augen ist er der Außenseiter, der unbedingt der nicht zu hinterfragende, deshalb auch nicht nachfragende Innenseiter sein will – der zum Kolonialisten gewordene Koloniale. Ein weniger orthodoxer Beobachter hätte vielleicht sehen können, dass es gerade Naipauls Erfahrung der in der westlichen Kultur reflektierten Aufklärungstoleranz für menschliche Unterschiedlichkeit und Zeitlichkeit war, die es ihm ermöglicht hat, die Beziehungen zwischen Außenseitern und Innenseitern auf komplexere und weniger statische Weise zu sehen. Aber dem postkolonialistischen Exklusivismus mit seinen bemerkenswert hegemonialen Interpretationsstrategien ist genau diese flexible Offenheit am verdächtigsten. Dabei verlangen gerade die sich gefährlich schnell verändernden Kulturen der Dritten Welt eine konkrete, detaillierte Dokumentation und rationale Analyse ihrer gegenwärtigen und historischen Probleme, wie sie in vielen Texten Naipauls zu finden sind – in A Bend in the River so gut wie in Among the Believers und in A Way in the World – aber kaum in den Debatten postkolonialistischer Theorien. Für die sind Naipauls Texte a priori kolonialistisch, deshalb fest an einem literarischen Kanon orientiert, zu dem auch Joseph Conrad gehört.

So zitiert etwa Fawzia Mustafa(10) ein paar Satzfragmente aus Naipauls wichtigen frühen Einsichten in seinem Aufsatz »Conrad’s Darkness«, vor allem Naipauls angeblich erzkolonialistische Aussage »als Kolonialer hatte man eine Art von Sicherheit«, und seinen Versuch, Conrads »Erfahrung nahe zu kommen«.(11) Nun hatte aber Naipaul ausdrücklich gesagt, er habe diesen Essay geschrieben, um die besondere (nicht die allgemeine) Wichtigkeit von Conrads spezifischen Problemen mit einem literarischen Kanon der Hochkultur für sein eigenes Schreiben besser zu verstehen. Sein Verständnis der Texte Conrads hatte sich im Laufe der Jahre verändert, teilweise weil Conrads »literarische« Schwierigkeiten für sein eigenes Schreiben wichtiger wurden. Worauf es hier ankommt, ist die ungeordnete, unschlüssige, unvollständige Erfahrung gegenwärtiger oder vergangener sozialer Realität, deren Vielstimmigkeit sich der Zusammenfassung widersetzt und oft die Möglichkeiten im engeren Sinne »literarischer« Repräsentation übersteigt. Mustafa hat diese Aussagen nicht nur nicht beachtet, sondern bewusst beim Zitieren die Stellen eliminiert, in denen es um die besondere Wichtigkeit sozialpolitischer Wirklichkeit für Naipauls und Conrads Schreiben ging: Situationen, die sich autonom-künstlerischen narrativen Strategien entzögen. Ideologisch beschränkt, damit unfähig, die auf eine mit anderen geteilte Wirklichkeit zielende Kühnheit und Komplexität dieser Texte auch nur in Umrissen zu erkennen, drückt ihnen Mustafa einfach ein »theoretisches« Modell »Kunst versus Geschichte« auf, das nichts beweist als die Inkompetenz des postkolonialistischen Kritikers gegenüber dem komplexen Abhängigkeitsverhältnis von Literatur (Fiktion) und Geschichte (Dokumentation).

Conrad war aber für Naipaul wichtig, weil er auf eine besonders zugängliche Weise über das »meditierte«, was dann Naipauls Welt werden würde: seine von Naipaul so gerühmte »Ehrlichkeit«, seine große »Treue gegenüber seinen eigenen Empfindungen«,(12) die sich eben gerade einem glatten Fluss »schönen Schreibens« widersetzten. Das spricht Naipauls dokumentarisches Ethos an;(13) und so treffen sich beide in der Spontaneität und Präzision ihrer Wahrnehmung und Darstellung. Conrad hatte ausdrücklich hervorgehoben, dass gerade die exotische Natur des Beobachtungsgegenstands solche Präzision erforderte: sie kontrollierte und konzentrierte seine Imagination, anstatt sie freizusetzen. Gerade diese Einsicht ist wichtig für Naipaul, weil er daraus für sein eigenes Schreiben wichtige Schwierigkeiten besser verstehen kann. Wichtig sind für ihn Conrads Versuche, die Rätsel seiner Fremdheitserfahrung darzustellen, und gerade nicht Angebote von Lösungen kultureller Konflikte. Beide sind und bleiben Außenseiter, die die Welt auf instruktiv unterschiedliche Weise anders sehen. Diese Außenseiterposition, obwohl mit Schwierigkeiten verknüpft, bedeutet auch eine große Erfahrungspotenz, für Naipaul vor allem die für den jungen Schriftsteller ganz neue Erfahrung moderner Zeitlichkeit – eine Erfahrung, die die Welt für ihn ständig verändert und damit erneuert. Sein zunehmendes Interesse an Symbiosen von fiktionaler und dokumentarischer Erzählung hat nicht die gängige »Docu-fiction« im Sinn, in der die fiktionale Dimension auf oft unzulässige Weise durch die dokumentarische autorisiert wird (Schindlers List als Dokumentarfilm). Ihm geht es vielmehr zunehmend darum, dass die Imagination des jetzt Schreibenden kontrolliert wird von der Historizität der fiktionalen wie der historischen Protagonisten, das heißt auch der ihm immer bewussten Historizität seiner eigenen Beobachtungs- und Darstellungsposition.

Diese wesentlich westliche Historizität ist vielleicht am deutlichsten zu erkennen in den sich seit der Aufklärung verändernden Perspektiven auf die Bedeutung menschlicher, also kultureller Unterschiede, was im Idealfall prozessuales, multiperspektivisches gegenseitiges Verstehen bedeuten könnte. Am Anfang des 21. Jahrhunderts sind aber mit dem Zusammenschrumpfen der räumlichen Distanzen die emotionalen and kognitiven Distanzen zwischen unterschiedlich akkulturierten Gruppen durchaus nicht kleiner geworden. Und so haben auch multikulturalistische, postkolonialistische Reaktionen auf Globalisierung eher dazu tendiert, fluide, offene Verhandlungsprozesse zwischen Vertrautheit und Fremdheit durch statische Konstruktionen einer postulierten Identität in der Differenz zu unterbinden. Dagegen ist Naipaul, dem es um sozial intelligente Unterscheidungen zwischen Unterschiedlichem geht, viel mehr an den Verpflichtungen sozialer, kultureller Authentifizierung interessiert als an den Freiheiten künstlerischer Selbstautorisierung. Es ist instruktiv, dass diese Freiheiten besonders eifrig von Naipauls postkolonialistischen Kritikern in Anspruch genommen wurden, wo es um die Konstruktion einer massiv homogenen kolonialen Identität als Gründungsmythos des Postkolonialismus ging. Dabei war es gerade Naipauls spezifische »koloniale« Erfahrung – als Inder unter anderen ethnischen und rassischen Gruppen auf Trinidad – die ihn dazu geführt hat, sich mit Fragen der kulturellen Authentifizierung des Unterschiedlichen auseinander zu setzen, also Raum zu schaffen für die Autorität vieler Stimmen in ihrer potenziell sowohl einleuchtenden wie auch verwirrenden Andersartigkeit.

1

V. S. Naipaul: »Our Universal Civilization«, 1991, Vortrag, Manhattan Institute. – Hier sagte er, er habe keine »unifying theoretical perspective on human affairs«, sondern sei interessiert an einer »specific situation, a specific person for their own sake«, und das sei auch der Grund für sein Reisen und Schreiben.

2

Es handelt sich um die Bücher Finding the Center: Two Narratives (New York: Knopf 1984,); The Enigma of Arrival: A Novel in Five Sections (New York: Knopf 1987); A Way in the World: A Novel (New York: Knopf 1994).

3

Siehe Prologue, 12–20; Ian Hamilton: »Without a Place: V. S. Naipaul in Conversation with Ian Hamilton«, 1971, Conversations with V. S. Naipaul, ed. Feroza Jussawalla (Jackson, MIS: University Press of Mississippi 1997), S. 14–21, 20.

4

New Statesman (1981), quoted in Charles Michener: »The Dark Visions of V. S. Naipaul/1981«, Conversations, S. 63–74, 63.

5

Adrian Rowe-Evans: »V. S. Naipaul: A Transition Interview/1971«, Conversations, S. 24–36, 27.

6

Medwick, Conversations, S. 60.

7

»What’s Wrong With Being a Snob?«; in: Critical Perspectives on V. S. Naipaul, ed. Robert D. Hammer (Washington, D.C.: Three Continents Press 1977), S. 34–38, 37.

8

»The Antilles: Fragments of Epic Memory (1992)«, in: What the Twilight Says:Essays (New York: Farrar, Straus and Giroux 1998), S. 65–84, 77.

9

Siehe Rob Nixon: London Calling. V. S. Naipaul, Postcolonial Mandarin (Oxford: Oxford University Press 1992), S. 4 f. für eine gute Auslese gläubiger Zitate.

10

Die »authoritative postcolonialist position« zu Naipaul vertritt Fawzia Mustafa: V. S. Naipaul (London, Cambridge: Cambridge University Press 1995; »Cambridge Studies in African and Caribbean Literature«), besonders S. 1–29.

11

»Conrad’s Darkness«, Critical Perspectives, S. 59.

12

Zit. in »Conrad’s Darkness«, Critical Perspectives, S. 56 (aus einem Vorwort, das Conrad für eine Auswahl seiner Erzählungen geschrieben hatte).

13

Peter Hughes: V. S. Naipaul (London: Routledge 1988), S. 42, 94 betont zu Recht Conrads Wichtigkeit für Naipaul, aber sein Begriff von »Wahrheit« ist hier zu weit gefasst, weil es um Dichtung, Fiktion, geht – wie Naipaul sehr wohl bewusst ist.

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 4/2006