Marko Martin

Alte Revolutionäre, neue Populisten

Gespräch mit Sergio Ramirez über Vergangenheit und Gegenwart Nicaraguas

 

 

Wir haben sie so geliebt, die Revolution … Nach der Wahlniederlage von 1990 äußerten sich bald Korruption, Intoleranz und Dogmatismus in der Führungsriege der Sandinisten. Sergio Ramirez, heute Schriftsteller, von 1984 bis 1990 Vizepräsident von Nicaragua, äußert sich selbstkritisch über die schwierigsten Phasen in der Geschichte des Landes, in dem mit Somoza, Ortega und dem »Pakt der Caudillos« weit mehr gescheitert als gelungen ist. Aber haben Populisten wie Chávez Lösungen zu bieten?

Marko Martin: Senor Ramirez, in den Jahren 1973 bis 1975 haben Sie als Literatur-Stipendiat des DAAD in Westberlin gelebt, ehe Sie anschließend nach Nicaragua zurückgingen, um sich in führender Position der Opposition gegen das Somoza-Regime anzuschließen. Hatten Sie in dieser Zeit bereits Ostberlin und die DDR besucht? Ich stelle diese Frage vor dem Hintergrund der späteren Entwicklung der sandinistischen Revolution.

Sergio Ramirez: Das habe ich mir schon gedacht. Nun, ich hatte in der Tat jedes Mal ein gemischtes Gefühl, wenn ich von West- nach Ostberlin fuhr und die ganzen Kontrollen zu passieren hatte. Das war äußerst unerfreulich und deprimierend. Natürlich besaßen wir Nicaraguaner ein bestimmtes Bild vom Sozialismus, das gewiss auch mit diesem »Realsozialismus« zu tun hatte, aber eben nicht mit dem sowjetischen oder ostdeutschen, sondern jenem, der sich quasi vor der eigenen Haustür befand – dem kubanischen. Vor diesem Hintergrund, der ohnehin nicht allzu präzis war, erwies sich die graue DDR als eine ziemliche Enttäuschung. All die staatliche Allmacht, die sich auch atmosphärisch über das Leben legte … Nein, so sah mein Zukunftsmodell mit Sicherheit nicht aus. Später, nach der Revolution, kam ich in meiner Eigenschaft als nicaraguanischer Vizepräsident mehrmals in die DDR.

Als Sie nach Nicaragua zurückkehrten, wurden Sie Mitglied jener »Gruppe der Zwölf«, die prominente Somoza-Gegner aus verschiedenen Gesellschaftsschichten versammelte. Bedeutete das, dass die Ablehnung des Regimes auch das Bürgertum ergriffen hatte?

Ganz gewiss. Zu Beginn, und wir sprechen hier immerhin von den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, wurde der Somoza-Clan von der Ober- und auch von der Mittelschicht unterstützt. Gegen Ende des Regimes aber brach dies weg. Ein Grund mag in den Ereignissen nach dem katastrophalen Erdbeben von Managua 1972 gelegen haben, als die Somoza-Familie nicht nur ausländische Hilfsgelder, welche für die bedürftigen Opfer vorgesehen waren, in großem Maßstab veruntreute und für sich selbst abzweigte, sondern darüber hinaus auch noch alle Wiederaufbauprojekte für enorme Schmiergelder an die treuesten Vasallen vergab. Natürlich sorgte dies für enormen Unmut unter den Unternehmern und der so genannten nationalen Bourgeoisie. Damit war auch gleichzeitig der Zeitpunkt gekommen, zu dem sich linke und konservative Regimegegner zusammenfinden konnten, wenn auch ihre Motive denkbar gegensätzlich waren: Wollten die einen nur bessere Bedingungen für ihresgleichen, um Profit zu machen, ging es den anderen um eine radikal neue, solidarisch strukturierte Gesellschaft. Logischerweise brachen nach Somozas Fall im Juli 1979 genau diese Konflikte dann in aller Deutlichkeit aus.

In Ihrem Erinnerungsbuch Adios Muchachos beschreiben Sie Verhandlungen zwischen der Opposition und der US-Regierung, in denen es nur noch um das Wie, jedoch nicht mehr um das Ob von Somozas Sturz ging. Das hört sich sehr einvernehmlich an. Von welchem Moment ab begann dann Washington gegenüber der kurz darauf gebildeten Revolutionsregierung feindlich zu agieren?

Ursprünglich hatte Somozas Macht auf drei Säulen geruht – auf der Unterstützung durch die Kirche, durch die Bourgeoisie und die amerikanische Regierung. Nach dem Erdbeben von 1972 aber verscherzte er es sich nicht nur mit der Ober- und der Mittelklasse, sondern auch mit der katholischen Kirche, in der sich mittlerweile ebenfalls der Wind zu drehen begonnen hatte – und dies weltweit und unter dem Einfluss des auch sozialreformerisch gedeuteten Vatikanischen Konzils. Wie also konnte dann die Kirche weiterhin ein Regime unterstützen, das so offensichtlich gegen die Armen war? Der Klerus zog sich zurück, und Ähnliches passierte in Washington nach dem Amtsantritt von Jimmy Carter, der eine Wertschätzung der Menschenrechte in seiner Außenpolitik zu verankern suchte. Das heißt, es wurde eng für Somoza, wenn auch nicht unbedingt für seine Basis aus Armee, Polizei und Staatsbürokratie, die man aus machtpolitischen Gründen durchaus, wenngleich etwas reformiert, bewahren wollte. Genau darum drehten sich die von mir beschriebenen Verhandlungen mit den USA, denn natürlich wollten wir nicht nur einen Personen-, sondern einen wirklichen Regimewechsel. Und das ist uns schließlich auch gelungen.

So einvernehmlich blieb es aber nicht. Nach Carters Wahlniederlage rechtfertigte Präsident Reagan seine Militärhilfe für die antisandinistischen Contras mit der Tatsache, dass die Revolutionäre in Managua von den Sowjets unterstützt wurden. Diese wiederum gaben als Erklärung an, den Sandinisten lediglich gegen die Contras beistehen zu müssen. Was also war zuerst da, der amerikanische Druck oder die sowjetische Umarmungsstrategie?

Als die Revolution siegte, waren keineswegs sofort die Sowjets da, obwohl wir schnell diplomatische Beziehungen mit der UdSSR aufgenommen hatten. Eher schon waren die Kubaner präsent, mit denen uns aufgrund ihrer eigenen Revolutionsgeschichte eine Art sentimentaler Beziehung verband – wenigstens von unserer Seite aus gesehen. Wenn es dann sowjetische Militärhilfe gab, geschah dies quasi über den Transitraum Kuba. Wir gingen – teils aufgrund historisch wohlbegründeter Skepsis, aber auch aus etwas trägem Fatalismus – wie selbstverständlich davon aus, dass ein Konflikt mit den USA ohnehin unausweichlich sei und wir uns deshalb beizeiten um starke Verbündete kümmern müssten. Und Washington reagierte mit den gleichen Verhaltensmustern: Nicaragua wird von Quasi-Marxisten regiert, die unsere Interessen irgendwann bedrohen werden? Machen wir sie vorher fertig!

Nach all den Jahren, die uns von den damaligen Ereignissen trennen, würden Sie sagen, dass damals weder die USA noch die Sowjetunion ein Interesse daran hatten, dass sich in Nicaragua eine linksdemokratische, reformerisch ausgerichtete Regierung etablierte?

Ich glaube nicht, dass in der sowjetischen Geopolitik Nicaragua jemals eine Rolle gespielt hat, die über die eines Nebenschauplatzes hinausgegangen wäre. Der Fokus war eindeutig auf Kuba gerichtet. Jenseits aller offiziellen Huldigungen des »antiimperialistischen Kampfes der Völker Lateinamerikas« ließen uns die alten Kremlherren der Vor-Gorbatschow-Ära doch ziemlich deutlich wissen, dass sie nicht in eine direkte Konfrontation mit den Vereinigten Staaten hineingezogen werden wollten. Im Gegenteil: Sie wünschten von uns, den Konflikt mit Washington so gut wie möglich zu entschärfen.

Aber es gab doch mannigfaltige Versuche, die Revolution auf Ostblock-Standard zu bringen?

Ja und nein – auch wenn sich das jetzt etwas kryptisch anhört. Natürlich gab es diese ganzen mehr oder minder uneigennützigen Helfer, von der DDR bis Bulgarien, die zu uns kamen und Ratschläge gaben. Dennoch mussten sie bald sehen, dass sie sich hier in Mittelamerika befanden und dass unsere Regierung sehr wohl am Prinzip einer aus staatlich-kooperativen und privaten Elementen bestehenden Mischwirtschaft, aber auch an einem gewissen politischen Pluralismus festhalten würde.

Dennoch schreiben Sie in Ihren Memoiren, dass bereits Anfang der Achtzigerjahre der damalige schwedische Ministerpräsident Olof Palme, ein Sympathisant der Sandinisten, die engere Führungsschicht warnte, diese wäre dabei, den Kontakt zum Volk zu verlieren. Was war damit gemeint?

Palme bemerkte eine Arroganz, einen der Realität unangemessenen Machbarkeitswahn und ein bedenkliches Sich-Einigeln. Was er nicht wollte, war ein zweites Kuba mit seiner isoliert lebenden Funktionärskaste und deren Einschüchterungsmechanismen gegenüber dem Rest der Bevölkerung.

Als später, im Februar 1990, die Sandinisten die Wahlen verloren, wurde dies auch damit erklärt, dass sie schon sehr früh der Sympathien der Campesinos verlustig gegangen waren, deren Lebensverhältnisse man doch hatte verbessern wollen.

Statt die Bauern zu vereinen, spalteten wir sie. Wir verstanden nicht, dass viele der Bauern eher konservativ waren, und sie verstanden nicht, was die Revolution – zum Beispiel in Bezug auf die Alphabetisierungs- und Schulpflichtkampagnen – anzubieten versuchte. So wurde aus dem Anbieten bald ein Auf-Oktroyieren, und vormals landlose oder Kleinbauern fanden sich nicht etwa auf ihrem eigenen Stück Boden, sondern in staatlichen Kooperativen wieder, wo es Parteiversammlungen und allen möglichen weiteren Unsinn gab. Die ursprüngliche positive Intention verkehrte sich unter der Hand ins Gegenteil, und das nenne ich wahrlich tragisch.

Was Sie in Ihren Memoiren über den Sympathieverlust bei den Campesinos schreiben, erinnert mich ein wenig an das, was mir Ihr chilenischer Schriftsteller-Kollege Jorge Edwards einmal über die Politik der Allende-Regierung erzählte: Auch da wurden durch bürokratische, Kuba und den Ostblock imitierende Maßnahmen mit der Mittelschicht gerade jene verprellt, die man doch als Verbündete gegen die reaktionäre Oligarchie bitter nötig gehabt hätte. War da vielleicht ein umfassenderer Mechanismus am Werk?

Es fehlte an Geduld und Feingefühl. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir von den Siebziger- und Achtzigerjahren sprechen, als Sozialreformer – und ich spreche hier gar nicht einmal von so genannten Revolutionären – vielfachen Anfeindungen ausgesetzt waren. Es gab den Kalten Krieg, Washingtons leider nur kurzzeitig von Jimmy Carter durchbrochene Unterstützung diktatorischer Regimes in Lateinamerikas, aber noch keine NGOs und all jene Organisationsformen, die sich heute in vielen Ländern als segensreich erweisen. Überdies: Angesichts von jenem schreienden sozialen Unrecht, wie wir es in Lateinamerika kannten und noch immer kennen, wird »Geduld« schnell von einer positiven Sozialtechnik zu einem Alibi fürs Nichtstun. Nach Jahrhunderten der Stagnation und der Armut war eben der Glaube weit verbreitet, man müsse jetzt möglichst schnell eine Art Knoten durchhauen, um die verlorene Zeit quasi per Entscheidung aufzuholen. Dieses Dilemma müssen Sie bei Ihrer Kritik immer mitdenken.

Wie würden Sie Ihre politische Positionierung von damals beschreiben, als Sie als Vizepräsident Stellvertreter von Daniel Ortega waren?

Obwohl das eigentliche Machtzentrum in der Verbindung der Ortega-Brüder und von Innenminister Borge bestand, habe ich die Dinge mitgetragen, zum Beispiel auch diese Idee der Kooperativen, von denen ich ganz enthusiastisch überzeugt war, dass sie das Los der Bauern nachhaltig verbessern würden. Spät, viel zu spät sah ich den Schaden, wollte ich den Schaden sehen, den derlei staatliche Gängelung verursacht. Wir wollten möglichst schnell den landwirtschaftlichen Sektor effizienter machen, mehr und bessere Produkte anbauen, um dann mit deren Exporterlösen das Land aufzubauen – aber per Fingerschnippen läuft nun einmal nichts in der menschlichen Geschichte.

Als ich Adios Muchachos las, musste ich immer wieder an Arthur Koestlers Roman Die Gladiatoren denken. Wenn die Revolutionäre mit Rücksicht auf die Bevölkerung zögernd vorgehen, verlieren sie den Kampf. Zögern sie jedoch nicht und setzen ihre Ziele durch, führen sie diese durch die dabei angewandten Mittel selbst ad absurdum und verlieren folglich ebenfalls. Eine geschichtliche Logik?

(lacht) Warum, glauben Sie, sehe ich mich inzwischen als Reformisten und habe nicht mehr die geringste Scheu vor diesem Wort? Man braucht einen langen Atem … Bei einer Revolution aber muss man wissen, dass man sie nicht endlos verlängern und als Ausrede missbrauchen kann, wenn sich die Dinge dennoch nicht zum Besseren wenden. Man huldigt ihr dann routiniert wie einem Götzen – denken Sie nur an die Sowjetunion oder an Kuba. Nein, der beste Moment und zugleich der Höhepunkt der Revolution ist ihr Beginn, dieser Zauber des Aufbruchs.

Thomas Jefferson schrieb in einem Brief an seinen Nachfolger John Adams im Präsidentenamt, dass es gut gewesen sei, erstens gegen die Britten revoltiert und zweitens danach die Revolution sofort beendet zu haben. Das ersparte dem Land den französischen grand terreur und die Guillotine ...

… und bescherte ihm weitere achtzig Jahre der Sklaverei und Spannungen zwischen Nord und Süd, die sich dann schließlich doch in einem Bürgerkrieg entladen mussten, um ausgetragen zu werden. Mein junger Freund, Sie sehen, zu jeder historischen Interpretation gibt es auch die Gegen-Interpretation!

Was bei Ihnen auffällt, ist diese immense Fairness. … Bei aller harten Kritik verbreiten Sie keine Häme, weder über die Sandinisten, mit denen Sie schließlich 1994 gebrochen haben, noch über jene, die in den Achtzigerjahren der Revolution von der Fahne gingen. Wenn Sie gestatten, erinnere ich mich heute nochmals an meine Kindheit, den Jungen von einst, der in den DDR-Zeitungen mit großem Staunen von Eden Pastora las, dem Verräter, dem zu den Contras übergelaufenen Judas, der bezahlten CIA-Kreatur …

Ah, Eden Pastora! Natürlich griffen da alle parteifrommen Verschwörungstheorien zu kurz, um diesen Mann mit seinen überbordenden Ambitionen zu beschreiben. Schließlich war er einer der Helden der sandinistischen Revolution, der berühmte »Commandante Zero«, der 1974 Somozas Nationalversammlung stürmte, Geiseln nahm und es mit diesem Coup schaffte, dass Daniel Ortega und andere Regimegegner aus der Haft freikamen und emigrieren konnten. Das Volk liebte ihn wie kaum einen anderen. Trotzdem ließ man ihn nach der Revolution nicht die erste Geige spielen, sondern schob ihn, obwohl er sich bald auch Meriten im Kampf gegen die Contras erwarb, in die zweite Reihe ab. Wie konnte ein impulsiver Charismatiker, dem allerdings politische Intelligenz beinahe vollständig abging, diese Kränkung verkraften?

Verkaufte er sich an die Amerikaner?

Aber woher denn! Pastora war kein CIA-Mann, dieser Typ Überläufer war er nicht. Stattdessen verkündete er, er wolle auf Seiten des Volkes stehen und die sandinistischen Führungskader aus ihren Villen jagen – von Costa Rica aus nahm er dann diese Art Kampf auf, freilich mit Hilfe der Contras. Er war ein Rebell, ein Narziss. Er hatte keinerlei Ideologie und war – und ist – eher ein simpler Denker. Ich sehe ihn eher als eine Romanfigur, schillernd in allen Facetten. Und die Geschichte ist ja auch noch nicht zu Ende, Pastora ist mittlerweile Mitte sechzig und kandidierte vor zwei Jahren für das Amt des Bürgermeisters von Managua – mit ebenso berechtigten wie naiven Forderungen an seine ehemaligen Kampfgenossen, also Sandinisten wie Contras, ihren unrechtmäßig erworbenen Reichtum sofort – sofort (!) – dem Volk zurückzugeben.

In Ihren Erinnerungen erscheint selbst Managuas Erzbischof, Miguel Obando y Bravo, ein erbitterter Kritiker der sandinistischen Regierung, nicht nur als klerikaler Finstermann.

… der er ja als Bauernsohn und alter Somoza-Gegner bei genauer Betrachtung auch nicht war. Inzwischen hat er sich ohnehin gewandelt und ist einer der engsten Verbündeten Daniel Ortegas, welcher auch in der Opposition die sandinistische FSLN noch dogmatisch-autoritär führt.

Weshalb?

(lacht) Weil die Politik in Nicaragua und allgemein in Lateinamerika eben keineswegs den klar nachzuzeichnenden ideologischen Linien folgt, wie man dies im Westen immer noch glaubt. Ideen, Pfründe, private Animositäten, Familien- und Clan-Verbundenheit, finanzielle und sexuelle Affären. … Ich behaupte ja nicht, dass alles undurchsichtig sei und nur mit Hilfe der Literatur des realismo mágico zu verstehen wäre, denn natürlich gibt es überall auch handfeste Interessen, aber der auf ein fest umrissenes Rechts-links- oder Progressiv-reaktionär-Schema fixierte Europäer-Blick hat immer auch etwas Putziges.

Zurück zu Obando y Bravos Kumpanei mit Daniel Ortega: Wie viele Gerüchte und Vermutungen es da gibt! Über welche Informationen verfügt Ortega, dass sich der Erzbischof völlig in seiner Hand zu befinden scheint? Nicaragua ist ein kleines Land, wo jeder jeden kennt und man etwa durch Verwandtschaftsbeziehungen selbst noch in Konkurrenz oder Hass unauflöslich miteinander verbandelt ist.

Dennoch hält sich im Westen noch immer die Meinung, dass die Contras allesamt fremdgesteuerte Mörder und Brandschatzer waren.

Einige von ihnen war dies ganz bestimmt. Die meisten von ihnen aber waren Bauern, und oft ging der Riss durch die ganze Familie. Ob dies nun die wohlhabende Verleger- und Politikerfamilie der Chamorros oder die ärmeren Schichten betrifft – in Nicaragua ist es nicht nur üblich, Politisches und Familiäres zu vermischen, sondern auch den Fuß in gleich mehreren Türen zu haben.

Aus Überzeugung oder aus Kalkül?

Das überlappt sich oft. Jedenfalls wurde im Zuge des Aussöhnungsprozesses und der Wahlniederlage der Sandinisten, vor allem aber beim Weihnachtsfest 1990 so richtig klar, dass weder Contras noch Sandinisten in ihrer Mehrheit je das waren, was sie einander mit so viel gewalttätiger Rhetorik vorgeworfen hatten: fremdgesteuerte, volksferne Objekte. Nein, sie waren schon Nicaraguaner – diese Menschen aus beiden Lagern.

Sie verließen die sandinistische FSLN im Jahre 1994, nachdem Ihre Reformbemühungen gescheitert waren und eine Art ideologisches Mobbing eingesetzt hatte. Weshalb aber so spät? Weshalb nicht in jenen Monaten nach der Wahlniederlage 1990, als die so genannte Pinata – die skrupellose Überschreibung von Staatseigentum an führende FSLN-Kader – nicht nur die Nicaraguaner, sondern auch viele ausländische Sympathisanten der Sandinisten entsetzte? Hatten Sie nach diesen Erfahrungen etwa noch immer Hoffnung gehegt?

Nun, ich bin besonders in meinem politischen Leben durch viele Enttäuschungen hindurchgegangen. Während des Krieges schien es mir unmöglich, bestimmte Differenzen zwischen mir und Daniel oder Humberto Ortega öffentlich zu machen. Hinzu kommt eines: Wenn wir wie bei diesem Gespräch hier von den Fehlern der damaligen Zeit sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass dies auch meine Fehler waren, meine aus bestimmten Überzeugungen geborenen Fehleinschätzungen, meine Blindheit. Jedenfalls wäre es unfair, so zu tun, als hätte ich schon immer alles besser gewusst und nur aus Dezenz geschwiegen. Man ist nicht von 1984 bis 1990 Vizepräsident einer Regierung und befindet sich dabei permanent im inneren Exil. Um es also noch einmal zu wiederholen: Es war auch meine Verantwortung, als ich Teil dieser Machtmaschinerie war. Nach 1990 war ich davon überzeugt, dass die Sandinisten – und zwar nicht als Selbstzweck, sondern um eine wirkliche Interessenvertretung der Benachteiligten zu sein – nur dann überleben konnten, wenn sie zu einer vollständig demokratischen Partei würden und sich von machistischem Personenkult und zentralistischen Strukturen befreiten. Die Chancen dafür standen ja gar nicht schlecht. Immerhin zählten wir zu jenen Revolutionären, die sich friedlich abwählen ließen – und das ist schon ein Novum, oder?

Dass Revolutionäre einmal dem in Wahlen manifestierten Volkswillen nicht zuwiderhandeln als Grund für Dankbarkeit!?

Als Bürger und Intellektueller stimme ich Ihnen vollkommen zu. Historisch gesehen – und jetzt einmal von allem Wünschbaren oder Ethischen abstrahiert – muss dennoch konstatiert werden, dass das damalige Verhalten der Sandinisten beinahe beispiellos war, trotz der wirtschaftlichen Raff-Orgie danach, die nur mit Abscheu zu beurteilen ist. Ich glaubte da aber für eine Weile noch immer, aus dem Positiven heraus ließe sich eine sozialdemokratische Partei schaffen, die natürlich auch ein Gegengewicht zur neuen, nunmehr konservativen Regierung sein sollte. Aber die auf ihre Weise ebenfalls konservative Führungsschicht der FSLN wollte so etwas nicht.

So gründeten Sie Mitte der Neunzigerjahre Ihre eigene Partei, die »Bewegung der sandinistischen Erneuerung«, die zwar in der Hauptstadt Managua und bei den Gebildeten Unterstützung fand, bei den nachfolgenden Wahlen aber dennoch scheiterte. Weshalb?

Die Polarisierung, aber auch die Personalisierung des politischen Lebens ließ uns keine Chance. Weder Daniel Ortega noch der inzwischen wegen Korruption verurteilte Arnoldo Alemán von der »Liberalen Partei«, die im Grunde jedoch nicht liberal, sondern eher rechts ist, hatten und haben ein Interesse daran, dass sich als Alternative eine dritte Kraft etabliert. Eher trifft man da unter denen, die sich öffentlich als »Somozisten« oder »Kommunisten« beschimpfen, mehr oder minder klandestine Absprachen – und dies bis zum heutigen Tag und zum Schaden der Demokratie. Man spricht vom »Pakt der Caudillos«. Wir Sozialdemokraten sind deshalb immer in der Gefahr, zwischen den Blöcken zerrieben zu werden.

Betrachtet man die Lage der Armen in Nicaragua heute, wird doch vor allem ein scheinbar endloses Scheitern deutlich: Somozas Diktatur versagte, die sandinistische Revolution mit ihrem Etatismus versagte, die in freien Wahlen dreimal zustande gekommenen konservativen Regierungen mit ihren Privatisierungen versagten …

Ja, da könnte man verzweifeln. Privatisierungen ohne Transparenz, ohne eine wahrhaft unabhängige Justiz, bringen nämlich gar nichts und schaffen, statt Konkurrenz und Wirtschaftswachstum zu befördern, nur neue Monopole. Ich glaube deshalb, dass der Fokus mehr auf Bildung und einem sauberen Rechtssystem liegen müsste, der allen Aufstiegschancen eröffnet, anstatt den Reichtum nur im kleinen Kungel-Kreis zu verteilen.

Also wäre nicht der viel gescholtene Kapitalismus, sondern eine Art feudaler Protektionismus das Problem …

So könnte man sagen, obwohl ja auch die Vereinigten Staaten oft nur Freihandel bei den anderen fordern, um ihre subventionierten Produkte besser los zu werden und gar nicht daran denken, auch ihren Markt zu öffnen. Bei solch einem selektiven Marktkonzept ist eine Menge Heuchelei im Spiel. Was dagegen in Bolivien und Venezuela passiert, scheint mir alles andere als zukunftsweisend zu sein. Das ist purer Populismus – und das ist er auch dann, wenn Rechte und Konservative diese Vokabel nur deshalb gebrauchen, um von ihrem vorherigen Versagen bei der Armutsbekämpfung abzulenken. In diesem Gestrüpp darf man sich jedoch nicht verfangen, sondern muss aufrichtig das beschreiben, was ist und sich dabei immer die Frage stellen: Nützt es auf längere Sicht wirklich der Gesellschaft, ist es geeignet, soziale Ungleichheit zu bekämpfen? Und da lautet die Antwort im Falle des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez: Nein. Was er tut, ist nicht nützlich. Auf längere Sicht wird er die Armen nur enttäuschen. Ich bin mehr als skeptisch, ob Neo-Nationalisierungen wirklich der Weg sind, Reichtum gerechter zu verteilen. Natürlich ist es nötig, die Beziehungen mit den transnationalen Konzernen neu zu ordnen, denn der jetzige Zustand hat tatsächlich sehr viel mit Ausbeutung zu tun. Nur macht man es sich zu einfach, wenn man glaubt, die Lösung läge allein darin, den Zugriff auf nationale Ressourcen von privaten in die Hände staatlicher Funktionäre zu legen.

Europas Globalisierungskritiker aber schwärmen von dieser neuen Politik.

Weil manche von ihnen sehr oberflächlich sind und sie in anderen Teilen der Welt das nicht sehen wollen, was sie in ihren eigenen Ländern als ganz normal empfinden – die Existenz von Differenzen, Interessenkonflikten, regionalen Konkurrenzen. Lateinamerika ist keine Einheitssuppe, sondern besteht aus größeren und kleineren Ländern, und jene haben naturgemäß andere Interessen als diese. Brasilien zum Beispiel hat andere Interessen als Bolivien, da kann Präsident Lula seinem Amtskollegen Morales noch so viele Solidaritätsadressen schicken. Was also für das eine Land gut ist, kann sich für das andere durchaus nachteilig auswirken. Die jetzige Welle vorgeblicher Patentrezepte halte ich aus Erfahrung für äußerst riskant. Unter dem Deckmantel der brüderlichen Hilfe versucht etwa Chávez eine venezolanische Vormachtstellung aufzubauen und seine Nachbarn peu à peu in Abhängigkeit zu bringen. Schon jetzt versucht er Einfluss auf unsere Präsidentschaftswahlen zu nehmen: Ein Wahlsieger Daniel Ortega, verkündet er, erhielte kostenloses Öl von ihm. Hoffen wir, dass die Wähler nicht darauf hereinfallen, denn ein möglicher alt-neuer Präsident Ortega wäre alles andere als geeignet, Nicaragua vorwärts zu bringen.

Warum ist für so viele Linksintellektuelle Hugo Chávez dennoch ein Held?

Zuerst einmal, weil er einer antiamerikanischen Rhetorik huldigt. Zum anderen, weil die Probleme, die er zu lösen vorgibt, natürlich zuvor von Generationen korrupter rechter, oligarchischer Politiker verursacht worden sind. Letzteres anzuklagen heißt für mich aber nicht notwendigerweise, Chávez zujubeln zu müssen. Die Frage nämlich ist, was er mit dem immensen Ölgeld veranstaltet. Investiert er es in sein Land, um auf längere Sicht Wohlstand zu schaffen? Nein. Er verteilt in paternalistischer Manier Almosen, die in der Tat beeindruckend sind, aber doch nur zur Dankbarkeit verpflichtete Mündel hervorbringen anstatt selbstbewusste Bürger, die irgendwann nicht mehr vom Wohlwollen irgendeines Staatschefs abhängig sind. Was aber passiert, wenn der Ölpreis plötzlich fallen sollte? Dann sind die Armen erneut die Betrogenen. Es ist schade, dass noch immer zahlreiche Linke dazu neigen, ihr Urteil davon abhängig zu machen, ob Kuba dieser Art von Experimenten zustimmt oder nicht: Das ist ebenso anachronistisch wie lächerlich. Gegenwärtig gibt es aber auch diese Gegenbewegung: Linke Intellektuelle, die genug haben von Chávez’ Caudillo-Posen.

Wirklich?

Ja, leider wird dies in Europa nur nicht genügend kommuniziert. Schauen Sie sich in Argentinien oder Mexico um, hören Sie Carlos Fuentes zu! Langsam hat man die Nase voll von einem unseriösen, selbstverliebten und machtgierigen Tribun, der nicht aufhört, dauernd »im Namen des Volkes« zu schwadronieren. Das Misstrauen gegenüber verlogenen Erlösungs-Ankündigungen wächst durchaus – auch bei uns in Lateinamerika. Vielleicht ist dies ja sogar der erste notwendige Schritt aus der Misere, wer weiß.

Aus dem Französischen von Marko Martin.

Sergio Ramirez, geboren 1942 in Masatepe/Nicaragua, gilt als einer der profiliertesten Schriftsteller Lateinamerikas. Vizepräsident von 1984–1990 widmet er sich inzwischen wieder ganz der Literatur. Auf Deutsch erschienen von ihm unter anderem die Erinnerungen Adios Muchachos (Peter Hammer Verlag; z. Zt. vergriffen, unter www.amazon.de jedoch antiquarisch erhältlich), der Roman Maskentanz (Peter Hammer Verlag, Wuppertal) sowie der Erzählungsband Vergeben und vergessen (edition 8, Zürich).

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 4/2006