Ernst Köhler

Serbiens Gordischer Knoten

Zwischen Krise des Bewusstseins und neuen politischen Kräften

 

 

»Leere« ist ein in Belgrad häufig zu hörendes Wort, eine Leere, die von ausgelaugten Idealen und den ungelösten Problemen herrührt: Sprachlosigkeit gegenüber dem Austritt Montenegros aus der Union, Passivität gegenüber dem weggleitenden Kosovo, dazu der fatale Eindruck, im Begriff zu sein, die Chance Europa zu verspielen. Aber auch aktive politische Kräfte hat unser Autor getroffen.

Montenegro, Kosovo, Mladic – drei aktuelle Themen in Serbien, drei Herausforderungen für die serbische Politik: zwei davon gar nicht angenommen, eine nur nach verbissenem Zögern. Montenegro ist unabhängig, nur schien die serbische Regierung zunächst keine Antwort darauf zu finden. Auch sie hatte das Referendum unter den Bedingungen der EU zuletzt akzeptiert, aber dann schwieg sie einfach zum Resultat der Volksabstimmung. Hatte sie es etwa nicht einkalkuliert? Und hätte jetzt hilflos vor einem weiteren Trümmerstück »Großserbiens« gestanden? Diesmal war es freilich eine besonders irritierende Ruine; denn diesmal hatten ethnische Serben, »serbische Brüder«, in der Staatenunion gegen die Vision »alle Serben in einem Staat« votiert. Für das Kosovo hat Belgrad soeben in Wien sein Konzept vorgelegt: Das Land wird entmilitarisiert. Außenpolitik, Verteidigung, Grenzsicherung, Währung bleiben bei Belgrad, alles andere geht an Prishtina. Wie aber sollen serbische Sicherheitskräfte die Grenzen des Kosovo gegenüber Montenegro, Albanien, Mazedonien schützen? Das ist so realitätsfern erdacht, dass selbst Prishtina sich kaum zu reagieren genötigt sah. Wieder diese Handlungsunfähigkeit, oder um ein gegenwärtig in Belgrad häufig zu hörendes Wort zu benutzen: diese »Leere«: Man wird es dem offiziellen Serbien kaum verargen können, wenn es bis auf Weiteres an der »Autonomie« der »Provinz« festhält. Ob es sich hier aber wirklich um eine durchdachte Taktik des Verhandelns auf bereits verlorenem Posten handelt, ist sehr die Frage. Es könnte auch etwas ganz anderes sein: Man weiß, was die Kontaktgruppe für das Kosovo vorgesehen hat. Man rechnet damit, dass sich demnächst auch der UN-Sicherheitsrat für eine bedingte Unabhängigkeit des Kosovo aussprechen wird. Aber man verweigert sich der eigenen Einsicht. Lieber verharrt und erstarrt man im selbst gewählten Abseits. Und nach Montenegro und Kosovo auch noch Mladic: Man muss den Hauptverantwortlichen für den Völkermord von Srebrenica unbedingt ausliefern – die EU hat die Verhandlungen über die schrittweise Integration des Landes bereits ausgesetzt, der Druck wird immer größer. Aber man wagt es nicht. Die Regierung – eine Minderheitsregierung mit Duldung durch die Sozialisten Milosevics – stünde zur Disposition. Über die Ausflucht – »Das Beste wäre es, wenn er sich selbst stellte« – spottet inzwischen das halbe Land.

Wie lange soll das noch so gehen? Milosevic hat Milosevic überdauert – das System den Führer, die Strukturen das Regime, die Gedankenwelt den Krieg, der Machtkomplex von Armee, Geheimdiensten und organisiertem Verbrechen die Reformpolitik. »Wir haben heute 600000 kleine Milosevics im Land«, so formuliert es einer unserer Gesprächspartner. Dennoch: Wie lange kann sich diese Politik gegen den erklärten Willen der Region und der Welt noch halten? Eine Politik ohne Politik gewissermaßen? Die Situation hat etwas Gespenstisches. Graf Drakula sieht die Sonne und vergeht bekanntlich auf der Stelle. In Belgrad bleibt er noch ein Weilchen. Der Besucher bekommt hier Diagnosen zu hören, die diese Paradoxie auf den Punkt bringen. Belgrad besitzt seit jeher eine liberale Intelligenz von Rang – auch in den dunkelsten Zeiten. Aber jetzt, da ihr Land sich nach dem Aufbruch unter Zoran Djindjic erneut dem Sumpf des Chauvinismus und des anti-westlichen Ressentiments überlassen hat, scheint sie über sich selbst hinauszuwachsen. Für Mijat Lakicevic, etwa 50, Chefredakteur des renommierten Wirtschaftsmagazins ekonomist, steht Serbien heute wirtschaftlich schlechter da als vor zwei Jahren. So seien 60 bis 70 Großbetriebe nach wie vor nicht privatisiert und führten teilweise nur noch eine Scheinexistenz. Die Fortschritte im Produktionsbereich beschränkten sich auf verstreute kleine Betriebe – weit entfernt davon, eine kritische Masse zu bilden. Die Unterbrechung der Verhandlungen mit der EU stoße, wenn sie denn länger andauere, gerade die seriösen Investoren ab. Die Fixierung auf die ewigen Themen der Staatsbildung »hat leider nicht nur die Eliten erstickt, sondern die ganze Gesellschaft«. Ein ungewohnter Ton aus dem Mund des kühl und tastend analysierenden Journalisten, der vor zwei Jahren Vojislav Kostunica noch ein gewisses Verständnis entgegengebracht hatte. Rajko Danilovic, Ende 60, Anwalt der Familie Djindjic, zeichnet mit klaren Strichen das Bild einer Nation, die gleichsam mit dem Rücken zu sich selbst steht. Speziell für Kostunica spricht Danilovic sogar von »Autismus«: »Serbien hat heute keine Vision mehr, die alte Politik ist gescheitert. Jetzt wäre an sich die Wahrheit an der Reihe.« Der Autor eines Standardwerkes über die politischen Prozesse unter Tito ist gerade von einer Lesereise nach Bosnien und Kroatien zurück: »Überall ist etwas im Gange. Serbien hingegen ist müde, tot. ...Wir benehmen uns hier wie eine besiegte Gruppe, die immer im Recht ist – aber nur für sich selbst. Wir sind nicht in der Lage, uns selbst zu sehen, vor allem nicht: uns selbst in unserer Umgebung. Es gibt in der Region sogar die Bereitschaft, Serbien zu vergeben, was gar nicht gut wäre.«

Mutlos oder gar verzweifelt klingt das nicht. Man spürt da die Hoffnung, der Macht auch noch den Rest einer bereits stark geschwundenen Legitimität nehmen zu können. Wunschdenken? Der als Publizist in Belgrad hoch angesehene Historiker Nikola Samardzic würde es jedenfalls bestreiten: »Die eigene Zeit zu beurteilen, ist nicht leicht. Aber höchstwahrscheinlich macht Serbien heute eine Krise des Bewusstseins durch, deren rascher und glücklicher Ausgang von den Interessen der Nomenklatura verhindert wird – und von inadäquaten Strukturen im Bildungswesen, in der Beziehung zwischen den Generationen, in den Eigentumsverhältnissen. ... Es ist jedoch zu erwarten, dass die Krise des Bewusstseins – falls sie sich nicht endlos hinzieht und noch in politischer Entropie mündet – einen neuen Rationalismus hervorbringt, egal was es kostet. Denn in Serbien gibt es eine Mehrheit – zugegeben: durcheinander, entmutigt, desorientiert –, die überzeugt ist oder doch fühlt, dass die Zukunft keine Wiederholung, keine Neuauflage des Albtraums von Demagogie und Kollektivismus brauchen kann – wie gehabt.« (helsinska povelja, März–April 2006)

Man muss diesem Land erst wieder eine realistische, in Europa anschlussfähige Politik anbieten, damit es zu sich kommen und die normale Meinungsvielfalt einer demokratischen Öffentlichkeit ausbilden kann. Das ist auch der Kerngedanke, die »Philosophie« Cedomir Jovanovics, Mitte 30, Chef der neuen, letztes Jahr gegründeten »liberal-demokratischen Partei«. Auch der Gedanke, die serbische Gesellschaft politisch aus sich selber hervorzuholen, zu entbinden, ist neu. Vor zwei Jahren, noch ganz unter dem Schock der Ermordung Zoran Djindjics stehend, hatte Jovanovic kein gutes Haar an Serbien lassen wollen. Alles, was er uns damals in einem stundenlangen, freimütigen Gespräch sagte, war die reine, rigorose Negation der serbischen Realität. Der jugendliche Mann, der einer der engsten Mitarbeiter Djindjics in der Demokratischen Partei und in der Regierung gewesen war, schien zu diesem Zeitpunkt überzeugt, dass dieses Land in die seit 200 Jahren verweigerte, immer wieder sabotierte Moderne im Grunde hineingetrieben, hineingezwungen werden müsse – autoritär, mittels einer Erziehungsdiktatur, über eine Revolution von oben. Auch Zoran Djindjic – dem historischen, jenseits der heute üblichen Stilisierung – war dieser Absolutismus der Reform, diese Vorstellung von einem Fortschritt notfalls auch ohne demokratische Legitimation keineswegs ganz fremd gewesen. Es wäre auch seltsam – angesichts des überwältigenden Rückstands, Nachholbedarfs Serbiens im europäischen, seit 1989 auch im osteuropäischen, Kontext.

Der schrille – und verstörte – Ankläger von gestern hat sich zum gezielt handelnden Politiker gewandelt. Und das demokratische, pro-westliche Belgrad erkennt diesen Reifeprozess an. Nicht wenige seiner führenden Köpfe – wie Zarko Korac, Parlamentsabgeordneter einer kleinen sozialdemokratischen Partei und unter Djindjic einer der Stellvertretenden Ministerpräsidenten, oder Sonja Biserko, die überall im Westen bekannte Leiterin des Belgrader Helsinki-Komitees – unterstützen, beraten, begleiten den neuen Mann. Man nimmt Cedomir Jovanovic hier als etwas Besonderes wahr – als eine charismatische Figur von Format, als eine ganz große Hoffnung, als eine aufrichtige Stimme in einem nachhaltig verdorbenen Umfeld – die einzige aus dem Kreis der national bekannten Politiker. Einige unserer Gesprächspartner finden Cedomir Jovanovic freilich immer noch unangemessen rabiat in seiner Sprache: »Er droht zu viel – etwa wenn er von einem eisernen Besen schwadroniert, der hier eingesetzt gehöre.« An Djindjic reiche er bislang nicht heran. Er habe auch nicht so viel Zeit wie dieser gehabt, eine klare Gesamtkonzeption für das Land auszuarbeiten. Aber es ist nicht allzu schwer, Zoran Djindjic im Rückblick heute zu würdigen. Anliegen und Anstrengung seines Nachfolgers anzuerkennen, verlangt schon etwas mehr.

Ihr kollektiver Ausschluss aus der Demokratischen Partei 2004/05 hat die alten Djindjic-Leute um Cedomir Jovanovic nicht desorganisiert und nicht zum Schweigen gebracht. Eher verhält es sich andersherum: Die alte Partei scheint sich da selber und aus freien Stücken ihrer fähigsten Mitglieder entledigt zu haben. »Zwei Drittel des alten Vorstandes der Partei sind heute bei uns«, so Jovanovic im Gespräch. Die Dimension der demokratischen Nische, des Dissidententums ist jedenfalls längst überschritten. Bei uns angekommen von dieser neuen politischen Kraft und Karriere ist nur, dass Cedomir Jovanovic öffentlich für die Unabhängigkeit des Kosovo eintritt – als einziger serbischer Politiker bisher. Nach Umfragen hält inzwischen nahezu jeder zweite Serbe das Kosovo für verloren. Aber in diesem Land bedarf es der Bravour, öffentlich zu sagen, was die Menschen im Stillen denken. Verzicht auf das Territorium gegen die volle Gleichberechtigung der im Kosovo lebenden Serben – das ist der Deal, der sich real abzeichnet. Cedomir Jovanovic tritt dafür ein, dass sein Land ihn aktiv gestaltet, statt ihn immer nur weiter abzublocken. Wirklich heikel sind aber die Fragen von Kriegsschuld und Kriegsverbrechen. Wir fragen Jovanovic, ob er auch in diesem Punkt über sein Vorbild Zoran Djindjic hinausgehe. Die Antwort ist charakteristisch: »Ja. Ich bin auch nicht obsessiv darum bemüht, jeden meiner Schritte mit Djindjic zu belegen und zu legitimieren. Das überlasse ich der Demokratischen Partei. Die können das besser. Es wäre auch nicht im Sinne Djindjics. Der würde uns heute sagen: Sucht euch euren Weg selber!« In dem 40-seitigen Programm der liberal-demokratischen Partei heißt es schon ganz zu Beginn: »Es ist wahr, der Weg nach Europa führt definitiv über Den Haag. Aber Verbrechen lassen sich nicht nur vor diesem Tribunal diskutieren. Wir müssen anfangen, darüber auch in Serbien selbst zu reden. Die Kriminellen sehen sich durch das Gericht in Den Haag zur Rechenschaft gezogen und bestraft, die Politik hinter diesen Verbrechen muss sich in Belgrad verantworten und muss in Belgrad betraft werden.« (Übersetzt nach: Liberal Democratic Party: Serbia wants to work – The First Ten Assignments)

Wir befinden uns in der Parteizentrale in der Simina 41 im Zentrum von Belgrad. Es ist später Sonntagnachmittag, der Tag des Referendums in Montenegro. Der Fernseher läuft ohne Ton. Es gibt in diesem Büro keine schweren Sessel, auch keinen Tisch, der den Boss an den Horizont entrückte. In dem mittelgroßen Raum ist alles funktional. Cedomir Jovanovic wirkt gelöst und ausgeruht. Dabei hat er eine anstrengende Woche in der Provinz hinter sich, um die er kämpft – kämpfen muss, wenn er gegen das politische Establishment und die berüchtigte reaktionäre Intelligenzia in Belgrad ankommen will. Wie anfangs auch bei Zoran Djindjic, sind es hauptsächlich junge Menschen, besser qualifizierte Leute aus der Mittelschicht und Oppositionelle, die zu seinen Auftritten kommen – nicht gerade die Verlierer der Übergangsperiode. In Umfragen kommt die nationalistische Rechte (Sozialisten und Radikale zusammen) immer noch auf fast 50 Prozent. Immerhin stagniert sie auf diesem Niveau. Aber davon spricht Cedomir Jovanovic gar nicht. Politische Soziologie, Wahlsoziologie, Mentalitätsforschung sind kein Thema an diesem Nachmittag. Auf einer Karte an der Wand zeigt er uns, wo Kraljevo liegt. Dort, in der Nähe zur Grenze, lebten in Lagern Tausende serbischer Flüchtlinge aus dem Kosovo. Offizielle Kontakte zu ihnen gebe es nicht. Mit diesen Menschen könne man aber sehr wohl über ihre Existenzsorgen sprechen. Auch über die Verbrechen im Krieg könne man mit ihnen reden. Wen auch immer sie erreicht und wen nicht oder noch nicht, die junge Partei baut ihre Präsenz im Lande methodisch auf – das ist ein Thema: »Für unsere ersten 100 Tage haben wir uns vorgenommen, 60 Städte, regionale Zentren zu besuchen. Ziel ist die Konsolidierung der LDP. In einer permanenten Kampagne versuchen wir, möglichst viele Leute einzubeziehen. Inzwischen verfügen wir bereits über 110 Ortsbüros.«

Und die unmittelbaren Aussichten auf der großen politischen Bühne? »Wir rechnen bei den kommenden Wahlen fest mit einem Ergebnis von überzeugend über fünf Prozent. Und diese Wahlen kommen sicher schon im Herbst – also vor der internationalen Entscheidung über die Unabhängigkeit des Kosovo, die hier niemand vor den Wählern verantworten will. Wahlprognosen sind bei uns in der Regel sehr problematisch. Aber es gibt auch seriöse Untersuchungen, die tiefer gehen und auch regionale Aspekte berücksichtigen. Danach erreicht die LDP in der Vojvodina zwölf, in Belgrad zehn Prozent. Nach den Wahlen im Herbst wird dann die Demokratische Partei in die Regierung eintreten. Schon jetzt spricht man von einer ›Kohabitation‹ von DS und DSS, von Boris Tadic und Vojislav Kostunica. 2008 sind wieder Wahlen, und dann werden wir die Politik in Serbien schon maßgeblich mitbestimmen.« Ungeduld, Überdrehtheit oder Entschlossenheit? Selbstbewusstsein oder Selbstüberschätzung? Man muss sich die Situation des Landes vergegenwärtigen, wenn man das Tempo verstehen will. Wie es auf den Plakaten der LDP heißt: »Srbiji se zuri! Serbien hat es eilig!«

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 4/2006