Marko Martin

Ausweitung der Demokratiezone

Wie Hongkongs Bürger ihre Rechte verteidigen

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Mag ja sein, dass Hongkong in Sachen Markenprodukte die weltweit führende Fake-Metropole ist – die Demokratiebewegung jedoch ist kein Fake. Die Aktivistinnen der Bürgerrechtsvereinigung »Civic Exchange« stützen sich auf langjährige Traditionen, auch wenn sie sich als Jüngere, als »Neunundachtziger«, unmittelbar auf das Massaker auf dem Tienanmen-Platz beziehen und seit 1997 vehement ihre Rechte gegen das neue Partei-Regime von »Mainland China« verteidigen müssen. Dabei geht es, mit den »Traditionen« einer britischen Halbdemokratie im Rücken, um Menschen-, also auch um Frauenrechte.

Nein, diese Stadt, in der hundert Blumen verblühen,
kann es nicht geben. Das ist ein Hirngespinst,
eine Halluzination ist es, eine Fälschung,
eine Science-Fiction-Oper, ein wackliges Wunder.
(Hans Magnus Enzensberger: »Hong Kong 1997«)

Die Europäer – auf kantonesisch gweilo (»Fremde Geister«) oder auch schlicht »Langnasen« genannt – hatten selbstverständlich nichts bemerkt. Unter den Einheimischen verstreut sitzen da westliche Konsulatsbeamte mit ihren Gattinnen, soignierte Herren und somnambul lächelnde Damen, als wäre es nicht die Gegenwart, sondern irgendwann in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, Illustration zu einem Kasimir-Edschmid- oder Evelyn-Waugh-Roman. Man fächelt sich Luft zu, schwitzt dennoch, trinkt Blue Girl-Bier und verfolgt den zur Böse-Geister-Austreibung dienenden Bun-Maskenumzug auf der kleinen Fischerinsel Cheung Chau: Tanzende Einhörner und überdimensionale Drachenköpfe, seidene Banner, Schellenklänge und Trommeln. Jeder einzelnen Aufführung dringt Applaus entgegen, der sich plötzlich zum Orkan steigert, als eine Band in weißer Uniform und Helmen mit Federbusch auftritt und per Saxophon und Klarinette jazzig angehauchte britische Militärmusik zum Besten gibt. Doch sind es nicht die durch ihre ausländischen Pässe abgesicherten Konsulatsangestellten, sondern allein die Hongkonger, die in Jubel ausbrechen. Hommage an den Kolonialismus? Vermutlich eher an ein Rechtsystem, das seit der Übergabe 1997 vertraglich für ein halbes Jahrhundert halbwegs vor staatsparteilicher Willkür aus Peking schützen soll. Als gleich darauf die Mikrofonstimme eine Maskentruppe »from Mainland China« ankündigt, geht für ein, zwei Sekunden ein schweres Atmen durch die Menge. Nicht wenige der einheimischen Tribünengäste verlassen demonstrativ ihren Platz, begleitet von verwunderten Westler-Blicken.

Wir sind Neunundachtziger«, sagt Christine Loh. »Der Massenmord auf dem Tiananmen Square in Peking im Juni 1989 war das Erweckungserlebnis für unsere Generation, aber der Bewusstseinsprozess begann schon früher.« Christine Loh, Jahrgang 1951, wirkt wie eine freudig frisch gebackene PhD-Studentin, dabei hat die Mitbegründerin der Bürgerrechtsvereinigung »Civic Exchange« bereits Jahre im Hongkong Legislative Council gesessen, jenem Stadtparlament, dessen sechzig Mitglieder allerdings nur zur Hälfte direkt gewählt werden können – der Rest, die Leitungsebene der Verwaltung inklusive, wird von Peking bestimmt. Wir sitzen in ihrem Organisationsbüro in der siebten Etage des Hoseinee-House (wie so viele Buildings in Hongkong trägt auch dieses seinen exotisch anmutenden Namen aus der Empire-Zeit). Wuselige Wyndham Street in Lan Kwai Fong, das nachts zum Ausgeh-Viertel wird und tagsüber voller Passanten und Händler steckt, die mannigfaltige Dinge in den Läden rechts und links jener schmalen Treppen anbieten, die bereits vor Jahrzehnten Alain Robbe-Grillet in seinem Nouveau Roman Die blaue Villa in Hongkong an die Gassen von Montmartre erinnert hatten. Hier oben aber summen Ventilatoren, und die Blumentöpfe auf den Tischen sind ebenso wenig verstaubt wie die kleinen chinesischen Skulpturen; hinter den angeschalteten PCs arbeiten mehrere Frauen, die Knie über den kurzen Röcken übereinandergeschlagen, entspanntes Lächeln abwechselnd mit konzentrierter Mimik.

Christine Loh, sich von Zeit zu Zeit ihr glänzendes schwarzes Haar aus der Stirn streifend, spricht ruhig und konzentriert über die Arbeit von »Civic Exchange« und deren praktische Anleitungen zur politischen Partizipation, damit aus Einwohnern Bürger werden, den 1997 Peking abgerungenen und seither immer wieder bedrohten Freiraum legalistisch bis zur Grenze ausschreitend und womöglich sogar erweiternd. Das Handbuch etwa, das die NGO herausgibt, präsentiert nicht nur Fallbeispiele von Verhandlungen mit Behörden einschließlich psychologischer Kommunikationstricks, sondern listet mit Adresse, Telefonnummer und E-Mail auch sämtliche Hongkonger Autoritäten auf: Sollen die da oben nur nicht denken, sie könnten einfach so als schweigend-anonyme Mandarine herrschen! »Sie müssen verstehen, es war ein langer Weg«, sagt Christine Loh. »Unsere Elterngeneration war in den Jahren nach dem Bürgerkrieg aus Rotchina geflohen und hatte sich unter schwierigen Umständen in Hongkong eine neue Existenz aufbauen müssen – die waren nicht an Politik interessiert. Und die Briten haben alles getan, dass es dabei auch bleibt; Wohlstand statt freier Wahlen. Gleichzeitig aber gingen immer mehr Frauen arbeiten und emanzipierten sich. Als sie dann in den Sechzigerjahren mitbekamen, was für unsägliches Leid die Kulturrevolution auf dem Festland anrichtete – sogar hier in Hongkong gab es ja pro-chinesische Kräfte, die ihre Parolen herausbrüllten und Unruhe schürten – richtete sich ihr Blick immer mehr nach Westen, zu den dortigen Strömungen, die sich für Gleichberechtigung und mehr Demokratie einsetzten. Dass der Westen nie auf die gleiche Weise zurückgeschaut hat und in Hongkong eigentlich bis heute nur gesichtslose Konsumenten wahrnehmen will, ist dabei nicht nur schade, sondern wird in genau dem Moment zum Problem, in dem Menschen für universale Werte einzustehen lernen, sich dabei aber ziemlich allein gelassen fühlen. Was ich aber sagen will, meine Generation kommt nicht aus dem Nirgendwo.«

»Sie haben«, unterbreche ich, »bereits Anfang der Achtzigerjahre gegen die Tradition angekämpft, dass in den New Territories, den ländlichen Gebieten Hongkongs, Frauen das Recht verweigert wurde, Land zu erben. Ehe Sie ein neues Gesetz durchsetzen konnten, hatte man Sie sogar mit Vergewaltigung und Ermordung bedroht ...« »Oh nein, sagen Sie nicht Tradition! Warum reden wir immerzu von Tradition und sprechen nicht das Entscheidende aus?« Und das wäre? »Money, my dear, money!« Selbstverständlich hatten die Großgrundbesitzer und reichen Bauern kein Interesse, ihr Land Töchtern zu überlassen, die sich bei einer frei bestimmten Heirat eventuell dem familiären Clan auch finanziell entziehen könnten. »Ich will Ihnen etwas sagen: Der Begriff ›Tradition‹ ist ein Totschlagbegriff – oder auch der Exportschlager von Diktaturen, um dem immer so verständnisvollen Westen Sand in die Augen zu streuen. Jedes Mal, wenn Menschenrechte und Demokratie angemahnt werden, antworten diese Leute: Stabilität und Tradition. Darauf aber darf man nicht hereinfallen, und deshalb machen wir diese Arbeit hier.«

Ist es vielleicht auch die Abwesenheit jenes (links-)protestantischen Fremdelns gegenüber Fragen des Geldes, dass die hiesige Demokratiebewegung im Vergleich zu europäischen Organisationen zwar ebenfalls Dialog, Verständigung et cetera anstreben lässt, gleichzeitig aber in die Lage versetzt, genau zu erspüren, welche vor allem finanziell-machtpolitischen statt vorgeschobenen kulturellen Gründe die Gegenseite hat, Bürgerrechte möglichst klein zu halten? Christine Loh lacht. »Geld ist per se ja nichts Schlechtes. Man darf deshalb nicht in die Falle laufen, den anderen den Profit zu überlassen, während man selbst nur auf ethisch-theoretischen Wolken schwebt.« Nicht zufällig besteht das jüngste Projekt von »Civic Exchange« darin, als Think Tank diverse asiatische Erfahrungen debattierend in die Öffentlichkeit zu bringen – mit einer klaren Präferenz für das Modell Taiwan oder Südkorea, das Kapitalismus und Demokratie erfolgreich verbunden hat, während es in Singapur bislang eher Effizienz ohne Bürgerteilhabe gibt und in Thailand zwar freie Wahlen, dafür aber ein korruptes Regime. »Asiatische Werte sind das, was wir daraus machen«, sagt Christine Loh zum Abschied. »Und wissen Sie, wem ich diese Einsicht zu verdanken habe? Unseren Frauen, den trouble-makers der ersten Stunde. Anna Wu, Emily, Elsie und all den anderen ...«

Während die 1913 geborene Elsie Tu sich bereits in den Nachkriegsjahren gegen Korruption im Polizeiapparat engagiert hatte und nun als demokratische grand old Lady sogar ihren Gegnern ein wenig rhetorischen Respekt abringt, ist für das Hongkonger Establishment und deren mächtige Freunde in Peking der Name von Emily Lau noch immer ein rotes Tuch.

»Ich bin banned«, sagt die 1952 Geborene, deren orangefarbenes Jackett über der schwarzen Bluse perfekt zur orange Handtasche passt. Hommage an die osteuropäische Demokratiebewegung von Kiew bis Tiflis? »Na klar, was denken Sie?« »Gebannt« zu sein bedeutet für das frei gewählte Parlamentsmitglied Emily Lau, nicht das Recht zu besitzen nach China einzureisen und von den Peking-freundlichen Medien ignoriert zu werden. Wir sitzen in einem gemieteten Besucherbüro des Legislative Council in der Jackson Road, und die Frage, ob man frei sprechen könne oder nicht doch mit irgendwelchen Wanzen rechnen müsse, erhält ihre Aktualität durch die jüngste Parlamentsentscheidung, die Telefon-, Post- und E-Mail-Kontrolle zu verstärken.

»Selbstverständlich haben wir Demokraten dagegen gestimmt«, sagt Miss Lau. Die Frau, die auch ohne Medienunterstützung ihren immerhin 1,7 Millionen Einwohner umfassenden Wahlkreis seit Jahren mit sechzig Prozent Zustimmung verteidigt, die 1994 das westliche Schweigen zum Völkermord in Ruanda geißelte, die sich auf einen Prozess gegen die Hetze der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua einließ und erst kürzlich ihre vorsichtigeren Freunde mit einem Appell für das Selbstbestimmungsrecht Taiwans verängstigte, diese Frau scheint trotz permanenter Drohungen nichts zu fürchten. »Weshalb auch?«, sagt sie beinahe kokett, »Angst spielt nur den Herrschenden in die Hände.«

Dabei weiß sie genau, wie umzingelt sie ist. Banken und Unternehmen, die längst – über Strohmänner oder ganz legal – in Pekinger Besitz sind, willige Hongkonger Handlanger und Medien, die sich in vorauseilender Selbstzensur üben, infiltrierte Parteien und Organisationen. »Man kann es hier auf die einfache Formel bringen: Kapitalisten und Kommunisten gemeinsam gegen die partizipative Demokratie.« Und der Westen, Miss Lau? »Der Westen freut sich über den Wirtschaftsboom und die Börse, während die Touristen die Hochhäuser bestaunen und auf den Märkten begeistert die Label-Kopien kaufen. Dass wir Demokraten eigentlich mit dem Rücken zur Wand stehen und mittels der von den Briten zurückgelassenen demokratischen, oder besser: halbdemokratischen Institutionen für die Freiheit in dieser Stadt kämpfen, interessiert die wenigsten. Und inzwischen nicht einmal mehr die Briten. Wissen Sie, weshalb ich Sie schon heute Mittag treffen konnte? Weil ich von einem offiziellen Lunch in der Botschaft unter allerlei Verrenkungen wieder ausgeladen worden bin. Wahrscheinlich bin ich den Londoner Diplomaten zu wenig von dem, was sie als ›typisch chinesisch‹ bezeichnen: Lächeln und den Mund halten.«

Unweit ihres Büros erlaubt eine breite Fensterfront den Blick in einen großräumigen, mit dunklem Holz verkleideten Saal, in welchem sich sechzig Stuhlsitze befinden. Das Stadtparlament von Hongkong als Kopie des britischen Unterhauses. »Detailgetreu bis auf die Kleinigkeit, dass hier nur dreißig aller Abgeordneten frei gewählt werden können.« Und wie viele stellen davon die Demokraten? »Fünfundzwanzig«, sagt Miss Lau. »So viel zur These, westliche Regularien wären nichts für Asiaten und schon gar nicht für die geldgierigen Hongkonger. Sie sehen, sie gehen zur Wahl – solange man sie lässt.« Ein wackliges Wunder, hieß es in Enzensbergers Gedicht, Tag für Tag vollbracht gegen den erklärten Willen einer Wirtschafts- und Militärmacht, deren weltweiter Aufstieg unaufhaltsam scheint.

»Neunzig Prozent der Bewohner von Mongkok waren entweder einst aus der Volksrepublik China geflohen oder hatten Eltern, die das getan hatten: Sie alle waren durch die Kommunistische Partei an Körper oder Seele verletzt.« (John Burdett: Die letzten Tage von Hongkong)

Auf dem Jade-Markt in der Kansu Street verkauft man an den Ständen inmitten all der roten, grünen und blauen Perlenketten, Armbänder, Schmuckkästchen und Buddha-Figuren vor allem kleine Mao-Bibeln und Anstecker, dazu Intarsienarbeiten und Taschenuhren mit dem Konterfei des Großen Vorsitzenden. Eine holzgerahmte Tischuhr, zwischen zwei Hügeln glattgeschliffener Jadesteine thronend, zeigt Mao gar mit ausgestrecktem Arm, der sich im Sekundenrhythmus bewegt – auf und ab, auf und ab. Aus dem Inneren der Uhr aber dringt nicht das geringste Summen, dafür sind die Ventilatorgeräusche oben an der Wellblechdecke, das Vogelgezwitscher aus den an Bambusstangen baumelnden Käfigen und natürlich die Stimmen der Käufer und Verkäufer viel zu laut und schrill. Ist dies jetzt die Rache der einst aus der Volksrepublik Geflüchteten, die Merkantilisierung des einstigen Schreckens? Oder gehören die Jadehändler hier und ihre Frauen gar nicht mehr zur eigentlichen Bevölkerung von Kowloons am dichtesten bevölkerten Stadtteil Mongkok, sondern sind das, was die einen als »mainland-people« und die anderen als »Fünfte Kolonne« bezeichnen?

Kaum nachlassende feuchte Hitze, auf dem Weg zum Wong-Tai-Sin-Tempel jedoch plötzlich vereinzelte Regenschauer. Direkt vor mir zwei sympathisch aussehende deutsche Frauen Mitte dreißig, die sogleich ihre Schirme aufspannen und sich über Guantánamo und »die Amis« unterhalten. So etwas nimmt Aufmerksamkeit in Anspruch, so dass sie natürlich keines der Plakate sehen, die an den Zäunen des Tempelweges hängen: Großformatige Fotos der Studenten vom Tiananmen Square im Juni 1989, blutüberströmt und von Panzern überrollt. Eine alte Frau in grauer Leinenhose drückt mir unvermittelt eine Broschüre in die Hand: Is the value of human life equal only to the sum of its parts? Es ist keine spirituelle Handreichung für den Taoisten-Tempel, sondern eine faktensatte Auflistung der festlandchinesischen Praxis, die Körperteile Hingerichteter oder in den zahllosen Arbeitslagern zu Tode Gekommener weltweit an Interessenten zu verschachern: Eine Leber für 10.000 US-Dollar, ein intaktes Herz ab 13.000 US-Dollar. »Erzählen Sie den Menschen im Westen davon«, murmelt die runzlige Alte. Ich nicke ihr zu und fühle mich dabei sekundenlang sehr mutig, ehe die Scham kommt angesichts ihres verzweifelten, in der Menschenmenge bald wieder verschwindenden Gesichts, von Regenschauern verwischt wie ein Schriftzeichen, das eigentlich nicht da sein darf, aber doch noch immer präsent ist in dieser Stadt, in dieser trotz allem freien Stadt.

Selbstverständlich würde bei unserem Partnerfestival in Shanghai die Schriftstellerin Claire Scobie, die in ihrem Buch von der fragilen Existenz einer tibetanischen Wandernonne erzählt, nicht auftreten können. Dafür sind wir hier aber in Hongkong, bei unserem auch im siebten Jahr fast vollständig ausverkauften Literaturfestival.« Auch die grazile Miss Soo, eine der Managerinnen der inzwischen südostasienweit renommierten Veranstaltung, wirkt keineswegs wie eine hektische Politikaktivistin. Die Beine über ihren exquisiten schwarzen Designer-Rock (aber wer kann dies schon beurteilen in der Metropole versiertester Fälscherei?) gekreuzt, erzählt sie in der angenehm kühlen Lobby des Foreign Correspondents Club stattdessen von über zehntausend Schulkindern, die mit ihren Lehrern zu Bibliothekslesungen von Kinder- und Jugendbuchautoren kommen, berichtet vom wachsenden Engagement lokaler Sponsoren, die sich mehr und mehr von kunstfern-buchhalterischer Engherzigkeit frei machen und imagebewusst auch über den Abrechnungstag hinausdenken, schwärmt schließlich mit entwaffnendem Lächeln vom Autoren-Empfang zu Beginn des Festivals, bei dem selbstverständlich Kaviar und Champagner nicht fehlen durften. »Wir sind hier nun einmal ebenso gegen Zensur wie gegen übertriebene Askese.«

Hinter ihrem mit winzigen Messingknöpfen gesteppten Ledersessel hängen an den holzgetäfelten Wänden des Clubs, der noch immer einer der ersten Adressen für Korrespondenten und durchreisende Intellektuelle ist, gerahmte erste Zeitungsseiten anderer Epochen. Japans Überfall auf Pearl Harbour, der Fall von Singapur, das Ende des Zweiten Weltkriegs, Guerilla-Kämpfe in Malaya, schließlich das Time-Cover vom Sommer 1989, das einen Studenten mit aufgerissener Hemdbrust vor einem chinesischen Panzer zeigt: »Revolt against communism.«

Das massenmörderische Ende des Aufstands vom Tiananmen Square bleibt in Erinnerung, und vielleicht war es ja auch deshalb, dass dem amerikanischen Romancier Gore Vidal und dem kanadischen Philosophen John Ralston Saul – von Miss Soo gerade noch lächelnd als internationale Sahnehäubchen eines regionalen Events präsentiert – anschließend von den Hongkongern keinesfalls nur applaudiert wurde. Der von europäischen Medien ob seiner vehementen US-Kritik immer wieder gefeierte Gore Vidal hatte womöglich den westlichen Selbsthass etwas überreizt, als er sich zur These verstieg, das Machtgewicht der Welt neige sich zum Glück China zu, so dass eigentlich schon jetzt Shanghai dynamischer sei als New York. Jenseits der Tatsache, dass hier städtisches Selbstbewusstsein verletzt worden war, erinnerte – fernab jener angeblich typisch asiatischen Höflichkeit – deshalb das Publikum im Rayson Huang Theatre den erklärten Linken an das Verbot unabhängiger Gewerkschaften in Festland-China, an die Lao-gai genannten Zwangs- und Arbeitslager, in denen selbstverständlich »dynamisch billig« produziert werden könne. Der Kanadier Ralston Saul erhielt gleich darauf eine ähnliche Abfuhr: Nicht etwa die Globalisierung sei gescheitert, sondern die Demokratisierung eben jenes Prozesses stecke noch in den Kinderschuhen, wobei man jedoch auf des Kanadiers angepriesenes Heilmittel – »positiver Nationalismus« lautete die krude Botschaft – eigentlich lieber verzichten möchte. Lektionen in Demokratie, lächelnd und doch selbstsicher den Vertretern eines vorgeblich progressiven linken Mainstreams gleichsam en passant erteilt.

Hongkong: Anonyme Fake-Metropole, in der ein Heer von schweigsamen Asiaten mit nichts anderem als Geldverdienen und Konsumieren beschäftigt ist? Das Zerrbild könnte nicht grotesker sein. Subtil genährt von Pekings kommunistischen Herrschern im Einvernehmen mit einheimischen Wirtschafts- und Finanz-Tycoons, denen beiden die nicht mundtot zu kriegende Bürgergesellschaft in ihrer »Sonderverwaltungszone« ein Dorn im Auge ist, sind es womöglich allein die an- und abreisenden Westler von Sydney über Paris bis New York, die auf die Schimäre einer erinnerungslosen Vergnügungs-City hereinfallen.

In den ausliegenden pfiffigen Stadt- und Szene-Magazinen, welche die Ausländer fast nur auf der Suche nach Discount-Coupons durchblättern, widmet man sich dagegen in den Editorials noch immer den vorangegangenen »Wahlen« für das Amt des Stadtgouverneurs, die erwartungsgemäß der Kommunisten-Strohmann Donald Tsang gewonnen hatte, wenngleich er sich erstmals einem Konkurrenten gegenübersah. Subversives Hongkong: Obwohl die übergroße Mehrheit der 795 von Peking handverlesenen Stadt-Notabeln selbstverständlich für Tsang anstatt für den Demokraten Alan Leong votiert hatte, ist dieser nach wie vor präsent, vor allem sein geschickt an Martin Luther Kings »I have a dream« angelehnter Slogan, den er im Wahlkampf popularisiert hatte. »If I have a vote ...« Mochten einige Demokraten – darunter auch Emily Lau – zuvor befürchtet haben, Leong legitimiere durch seine Teilnahme lediglich ein durch und durch undemokratisches Wahlsystem und diene Peking als Feigenblatt, scheint inzwischen die Saat aufgegangen. »Diese Tage haben Hongkongs politisches System für immer verändert«, schreibt mit der South China Morning Post auch jene marktführende Zeitung, die in den Jahren vor und nach Hongkongs Übergabe an China durch eine Zeit übler Selbstzensur gegangen war, ehe sie sich wieder aufzurappeln vermochte – in diesem März war ihr dann schließlich sogar ein von Amnesty International initiierter Menschenrechts-Award zuerkannt worden.

Gibt es den Versuch politischer Einflussnahme?« – Nein, Tisa Ho, smarte Direktorin des Hongkong Arts Festival, das in diesem Jahr sein 35-jähriges Bestehen feiert, möchte lieber über das afro-kubanische Chucho Valdés Quartett, Youssou N’Dour, argentinische Tangotänzer oder die Asien-Premiere des Leipziger Gewandhaus-Orchesters sprechen. »Nun, den gibt es so nicht«, sagt sie, wobei ihr Lächeln allerdings eine gewisse Undurchdringlichkeit bekommt. Wie auch immer: Mit Tim Robbins’ begeistert aufgenommener Bühnenversion von George Orwells 1984 wurde in Hongkong erneut etwas aufgeführt, was auf dem Festland sofortiger Zensur zum Opfer gefallen wäre. (»Achten Sie auf die feinen Unterschiede«, hatte mir Emily Lau geraten. »Die meisten sagen Mainland, wenn sie von China sprechen, die Mächtigen und ihre Freunde ziehen es dagegen vor, etwas von Motherland zu säuseln.«)

»Wenn Sie möchten, ich hätte noch Freikarten für eine andere Veranstaltung heute Abend ...« Und so ist dann ab Viertel vor acht alle drei Minuten eine mahnende Mikrophonstimme auf Kantonesisch und Englisch zu hören, welche die zahlreichen Besucher im weiträumigen Cultural Centre in Kowloon, auf der anderen Hafenseite, auffordert, unverzüglich ihre Plätze einzunehmen – Auftritt des Soweto Gospel Choir. Auf meine etwas despektierliche Frage, ob derlei Festival-Aktivitäten nicht nur von den happy few einer Elite goutiert würden, hatte am Mittag Miss Ho noch mit leicht hochgezogenen Augenbrauen »Aber in Hongkong sind alle Elite!« geantwortet. Dennoch bleibt eine gewisse Skepsis, als es dann im Saal dunkler wird, Sakkos und Abendkostüme ebenso leicht rascheln wie (echte?) Calvin-Klein-Jeans und über den Teppichboden gleitende (gefälschte?) Nikes, während auf der von Spotlights in warme Farben getauchten Bühne das zu erwartende Tanz-, Gebets- und Lebensjubel-Spektakel beginnt. Die Skepsis aber hält sich nur bis zum Ende des ersten Songs, dann muss sie sich schon ihrer Kleinmut schämen und verschwinden.

»Im Jahre 2004«, begrüßt nämlich eine der voluminösen Sängerinnen scheinbar unvermittelt das Publikum, »hatten wir Südafrikaner etwas zu feiern. Zehn Jahre Unabhängigkeit, zehn Jahre Demokratie. Und deshalb sind wir heute Abend zu Ihnen ...« Doch der Satz geht unter in Jubel und tosendem, schier nicht enden wollendem Applaus. »Demokratie, ma femme, für Dich zwitscher’ ich meine schönsten Lieder«, hatte einst, in anderer Zeit und an anderem Ort, Walt Whitman in New York gedichtet, jener Stadt, die laut Gore Vidal der Menschheit heute nichts mehr zu sagen habe. Und doch könnte die bunt gekleidete Mummy in diesem Moment keine bessere Inkarnation der universellen Freiheitsstatue darstellen, kraftvoll, ernst und gleichzeitig fröhlich – und sich keinen feuchten Kehricht um all die Auslassungen rechter oder linker Kulturrelativisten scherend, denen zufolge »asiatische Werte« inkompatibel wären mit einem westlichen Menschenrechtskonzept. Von wegen, ihr Schwätzer ... Der wache Zorn und die Kraft der Erinnerung klingen aus dem nachfolgenden Gospel-Sermon, Steve Biko gewidmet, jenem 1977 von weißen Rassisten ermordeten südafrikanischen Gewerkschafter. (Biko und nicht Che Guevara, dem Gewaltneurotiker und kubanischen Umerziehungslager-Erfinder, T-Shirt-Held für Fans historischer Amnesie.)

Spätabends die Nathan Road hochgeschlendert. Erneut durch die viel gerüchigen Straßenschluchten von Mongkok gestreift, unterhalb der zwanzigstöckigen Wohnwaben diesmal jedoch nicht zuerst die ausgemergelt-filmreifen Triaden-Handlanger bemerkt, sondern einen Mann, der mechanisch winkend durch die Menge der Passanten schreitet, gefolgt von Jugendlichen und Fotografen: Who is this guy? Nun, sagen die Leute, das ist der Schauspieler Jim Chim, der als Double die pseudo-volksnahen Gesten von Hongkongs Gouverneur Donald Tsang so täuschend ähnlich imitiert. In der Fälschung erscheint der Fälschung wahrer Kern: Hongkong, wackliges Wunder permanenter Demokratie-Festspiele. So tun als ob, um mit der Behauptung des erst Beinahe-Vorhandenden neue Realitäten zu schaffen. (In den folgenden Wochen wird sich dann Chinas Regierung sogar mit der freilich alle Hintertüren offen lassenden Bemerkung zu Wort melden, allgemeines Wahlrecht könne der Hongkonger Enklave durchaus zugestanden werden – irgendwann.) Und am nächsten Morgen – wetten ?– in der Zeitung ein Foto eben jenes Mr. Chim, und gleich daneben – wetten? – ein Artikel über den abendlichen Beifall für die Truppe aus Soweto.

Mit der Star Ferry, die Kowloon und Hongkong Island auch nach Mitternacht in Viertelstunden-Abständen verbindet, dann für dreißig Hongkong-Cent wieder zurück. Inmitten eines unverkrampft disziplinierten und sich keineswegs stoßenden und anrempelnden Menschenstroms im hellen Neonlicht durch Drehkreuze und über Gänge, deren Boden irgendwann leicht zu schaukeln beginnt, während die Maschendraht-Wände nebenan weitere ankernde Schiffe sichtbar werden lassen, so dass ich kurz überlege: »Ich nahm die Fähre in Kowloon« – in welchem der seit deiner Kindheit verschlungenen Hongkong-Schmöker hatte wohl dieser Satz gestanden, bei James Clavell oder Richard Mason, in Han Suyins Alle Herrlichkeit auf Erden? Wahrscheinlich hatten die Worte in keinem der Romane gefehlt, mythisch gewordener Extrakt für ein ganz spezielles Großstadt-Gefühl, diese irre Möglichkeit nämlich, sich an einem der am dichtesten bevölkerten Orte der Welt frei zu bewegen, vertikal ebenso wie horizontal, modrig-benzingetränkt-würzig-faulige-salzige Hafenluft schnuppern zu können und jetzt, da sich die Fähre in Bewegung setzt, von den Holzbänken des Unterdecks die gleichsam abgeschnittene, aus der Dunkelheit herausgemeißelte und im Lichtgefunkel zitternde Skyline von Hongkong minütlich näher kommen zu sehen. Der vielstöckige, auf einer Art umgedrehtem Dreieck ruhende Bau, das ehemalige Prince of Wales Building, trägt seit Sommer 1997 allerdings einen nicht gerade anheimelnden Namen: Hauptquartier der Volksbefreiungskräfte der Volksrepublik China. (»Es war geradezu gespenstisch still gewesen«, hatte Emily Lau gesagt, »als noch in der Nacht der Übergabe am 30. Juni 1997 die Armee einrückte, schweigend und effizient. Ein verlorenes Häuflein von uns, darunter Martin Lee, hatte eine Protestdemonstration veranstaltet, und obwohl viel weniger Menschen als erwartet kamen, waren wir schon froh, dass man offensichtlich die Versammlungsfreiheit doch noch respektierte und keinen einsperrte. Später gab es dann an den Jahrestagen des Massakers vom Tiananmen Square riesige Demonstrationen, wie auch 2005 gegen die Politik des von Peking eingesetzten Gouverneurs Tung Chee-hwa. Mal waren mehr, mal weniger Leute auf der Straße. Ich sage immer: Erst wenn sich keiner mehr traut – selbst wir nicht – haben wir verloren. Erst dann.«)

Zwischen den Hochhäusern und diversen, auch jetzt noch taghell erleuchteten Banken gleitet eine weiße Doppelstock-Straßenbahn heraus. A streetcar named desire: Endstation Wanchai, Die Welt der Suzie Wong. (Ob im Luk Kwok Hotel noch die gleiche Atmosphäre herrscht wie in Buch und Film? Müßige Idee.)

Dass in meinem Hotel in Causeway Bay tatsächlich die Protagonisten des gerade stattfindenden Hongkonger Filmfestivals abgestiegen sind – ich bemerke es erst beim Frühstück. Dass der jüngste Film des malaysischen Regisseurs Amir Muhammad in seiner Heimat verboten und hier selbstverständlich aufgeführt werden kann – ich lese es bei Kaffee und Dim-Sum-Essen in der South China Morning Post (und sehe – Wette gewonnen! – Jim Chim mit Kunstblumen in der Hand auf Seite 3). Dass mein mit grandiosem Überblick auf den Hongkong Jockey Club gesegnetes Cosmopolitan Hotel bis 1997 jedoch ausgerechnet die hermetisch abgeriegelte chinesische Botschaft beherbergte, vor der immer wieder Tausende Menschen wie Emily Lau oder Christine Loh protestierten – die Hotelmanagerin teilt es mir irgendwann eher verschämt mit.

»Und die versteckten Mikrophone?«, frage ich im Scherz. Das Lächeln der Frau wirkt bemüht. Aber nein, keine James-Bond-Atmosphäre auf Hongkong Island – China besitzt inzwischen wohl subtilere Möglichkeiten der Einflussnahme. Aber auch darum wissen die Bürger im kleinen Hongkong, denkt der Besucher. Wissen es und überwinden dennoch ihre Angst, geben nicht klein bei.

Zum Abschied noch einmal Lan Kwai Fong: Die Diskothek, unweit von Christine Lohs Büro gelegen, heißt »Propaganda«, auch wenn das, was hier über die Köpfe der Vergnügungssüchtigen dröhnt, allein Madonna- und Robbie-Williams-Hits sind, Techno und House. Neben der Tanzfläche ein lang gestreckter Bar-Raum, wo sich erneut ein inzwischen beinahe vertrautes Bild zeigt: Australische und europäische Touristen, bei Cuba Libre und Mai Tai in die Amüsement-Infos der Hochglanz-Flyer und Stadtmagazine vertieft, um die nächste Station im Club-Hopping auszuwählen. Schade nur, dass sie dabei gerade jenen Artikel übersehen, in welchem über das fortdauernde Brokeback Montain-Verbot in China berichtet wird: Regisseur Ang Lee hatte mit einer Erwähnung des demokratischen Taiwan wiederholt den Pekinger Kommunisten-Zorn erweckt – in Hongkong damit allerdings auch die Sympathie der angeblich so unpolitischen Konsumisten.

»Diese irre Stadt ist derart wach«, sagt irgendwann der hoch gewachsene, 23-jährige IT-Student Abbas. Der Sohn pakistanischer Einwanderer ist ebenso kontaktfreudig wie offenherzig. »Aber weißt Du was? Wenn es die Briten mit ihren eigentlich so unnatürlichen Regeln und ihrem arroganten Fairness-Faible nicht gegeben hätte, wäre ich hier schon in der Schule von all den kleinen Chinesen fertig gemacht worden – und danach von meinen Eltern, die mich nicht unter den ›Ungläubigen‹ studieren lassen wollten. Hey man ... Zum Glück gibt es Organisationen, die uns Immigranten-Kinder nicht allein lassen. Schon mal was von Fermi Wong und ihrem Verein ›Unison‹ gehört? Ohne diese Frau, ich schwör’ Dir ... Schreib’ keinen Artikel, ohne Fermi Wong zu erwähnen, versprochen?«

»La femme est l’avenir de l´homme«, heißt es in einem Chanson von Jean Ferrat. Es scheint, dass zumindest in Hongkong bürgerrechtsbewegter fernöstlicher Pragmatismus aus dieser freundlichen Schmeichelei längst eine ernst zu nehmende Realität geformt hat. Der Langnasen-Westen könnte sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2007