Thomas Schmitt

Rekonstruktion eines Erfolgsmodells

Die Indische Union feiert ihren 60. Geburtstag

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Staats- und Nationenbildungen unterliegen spezifisch-historischen Voraussetzungen. Aber wie reagiert eine sprachlich-religiös- kulturell höchst heterogene Gesellschaft auf einen Staatsbildungsprozess? Zumal dieser seit der Unabhängigkeit Indiens auf demokratischer Basis stattfindet, trotz aller Probleme, die aus dieser Heterogenität für die mit einer Milliarde Menschen größte Demokratie der Erde erwachsen. Unser Autor skizziert einige dieser Widersprüche und Gemeinsamkeiten, die das Land in Spannung versetzen, es aber auch zusammenhalten.

Als im Mai 2004 die 14. Wahlen zum indischen Unterhaus durchgeführt wurden, stimmten nicht weniger als 400 Millionen Inder (von ca. 670 Millionen Wahlberechtigten) über die politische Zukunft ihres Landes ab. Von in- und ausländischen Beobachtern wurde damals der von der rechtsgerichteten BJP geführten Regierungskoalition der National Democratic Alliance (NDA) ein Sieg mit komfortablem Vorsprung prognostiziert. Doch alle sahen sich eines Besseren belehrt: Die vom Kongress geführte Mitte-links-Koalition der United Progressive Alliance (UPA) konnte einen, wenn auch knappen, aber überraschenden Wahlsieg erringen. Allen Unkenrufen zum Trotz hat die von den Kommunisten tolerierte Minderheitsregierung unter Manmohan Singh bis heute Bestand. Das damalige Wahlergebnis wurde weit über die Landesgrenzen hinaus als Sieg des säkularen und föderalen Indiens über eine erstarkte Hindutva-Ideologie, aber auch als Triumph der armen ländlichen Massen über die urbanen Gewinner der Liberalisierung und nicht zuletzt als Bestätigung des politischen Einflusses der Nehru-Gandhi-Dynastie interpretiert.

Wichtiger als das Wahlergebnis ist aber die Tatsache, dass Inder wählen dürfen und dies bis heute weidlich tun. Für ein ehemals von der britischen Kolonialmacht unterjochtes Land – und für Südasien einzigartig – kann Indien auf eine lange Tradition demokratisch verfasster Staatlichkeit und säkular-föderaler Regierungsarbeit verweisen. Dies wurde jedoch – zumeist von ausländischen Beobachtern – schon früh in Frage gestellt. So hat man die ersten Wahlen zum indischen Unterhaus (1952) als »biggest gamble in history« bezeichnet. Es wurde behauptet, dass das von Armut geprägte, ethnisch und religiös vielfach gespaltene Land den Lackmustest freier und gleicher Wahlen nicht bestehen würde. Zwar lag in den ersten allgemeinen Wahlen die Wahlbeteiligung noch unter 46 Prozent, hatte sich aber über die Jahre kontinuierlich erhöht und lag 2004 immerhin bei circa 56 Prozent.

Das verbriefte Recht zu wählen wird in Indien als hohes Gut angesehen. Obwohl einzelne Studien nahe legen, dass – vor allem auf lokaler Ebene – das Wahlverhalten stark an die Kasten- und Religionszugehörigkeit gebunden ist, hat man in den urbanen Zentren alte clevages weitgehend abgelegt und entscheidet zunehmend rational. Veranschaulicht wird die indische »Vorliebe zu wählen« vor allem dadurch, dass selbst in politisch instabilen Regionen wie im Nordosten oder in den von den »Maoisten« kontrollierten Gebieten in Bihar, West-Bengalen und Andhra Pradesh weder stammes-separatistische Aufständische noch kommunistische Guerillas die Menschen davon abhalten können, zu den – wenn auch mit hohem Polizeiaufwand gesicherten – Wahllokalen zu gehen und ihre Stimme abzugeben.

Ruft man sich die Größe des Landes und seine Einwohnerzahl in Erinnerung, können die bislang durchgeführten Wahlen als organisatorische Höchstleistungen betrachtet und, trotz der einen oder anderen Unregelmäßigkeit, durchaus als Erfolg bezeichnet werden. Insbesondere wenn es darum geht, Indien mit dem Rest der benachbarten asiatischen Staatenwelt zu vergleichen. Im Falle Pakistans zum Beispiel ist bis zum heutigen Tage völlig ungeklärt, ob sich der »Kunststaat« auf einer demokratisch säkularen und föderalen Basis gründen kann und will. Dort hat es seit der Unabhängigkeit und Teilung Britisch Indiens schon drei Abschnitte gescheiterter Demokratisierung (1947/1958; 1970/1980; 1988/1999) und drei Militärherrschaften (1958/1970; 1978/1988; 1999/) gegeben. Auch im Falle Sri Lankas sind bereits früh (1931) die Grundlagen für eine ethnische (singhalesische) »Demokratie« gelegt worden und haben zur Untergrabung der ursprünglich säkularen Staatsausrichtung geführt. Die Folgen: Spätestens seit den frühen Achtzigerjahren ist das Land aufgrund der Vorrangstellung des Buddhismus und der Verweigerung eines von der tamilischen Minderheit geforderten Staates in einen ethnischen Bürgerkrieg abgeglitten.

Insbesondere der China-Indien-Vergleich ist seit längerem Gegenstand nicht nur akademischer, sondern auch populärwissenschaftlicher Analysen. Bei all diesen Vergleichen hat China im ökonomischen Bereich klar die besseren Karten. Aber was die Politik, und insbesondere die Frage nach demokratischen Verhältnissen angeht, zieht es eindeutig den Kürzeren. Die Chinesen verfügen weder über freie Wahlen noch über freie Meinungsäußerung. In Indien hingegen kann die Presse mehr oder weniger schreiben, was sie will, und seine Bürger können – vorausgesetzt sie verfügen über die notwendigen Mittel – sich im Land völlig frei bewegen. Hinzu kommt, dass das häufig zum Vergleich herangezogene China auch noch weniger ethnisch und religiös gespalten ist und nicht zuletzt unter weniger Armut leidet. Indien ist sich seines Vorteils gegenüber seinen Nachbarstaaten aber durchaus bewusst. So lässt es auf internationalem Tableau selten die Chance aus, auf die gravierenden Demokratiedefizite seiner Nachbarstaaten aufmerksam zu machen. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel 2006 beispielsweise hat die indische Delegation, wo immer sich die Möglichkeit bot, hervorgehoben, dass ihr Land die am »schnellsten wachsende Demokratie der Erde« sei.

Nur eine halbe Demokratie?

Stützt man sich bei der Beurteilung der demokratischen Verhältnisse auf die in der Verfassung verbrieften Rechte, ist die Selbstbeweihräucherung des indischen Establishments verständlich. Wirft man allerdings den Blick auf die gesellschaftliche Realität, gibt es weniger Grund zum Jubeln. Viele Politiker sind korrupt und nicht wenige agieren von einem kriminellen Hintergrund heraus. Der Anteil der unabhängigen Beamten im öffentlichen Dienst hat in den letzten Jahren ebenso stetig abgenommen wie die freien und unabhängigen richterlichen Entscheidungen der jeweiligen Provinz- und Landesgerichte. Mit der Frage, ob Indien eine gute, im Sinne von vorbildlich funktionierende und auf Gewaltenteilung basierende Demokratie oder eher eine experimentelle gesellschaftliche Utopie ist, verhält es sich deshalb ähnlich wie mit der Beurteilung, ob ein Glas halb voll oder halb leer ist. Die Einschätzung variiert, je nach Sichtweise des Betrachters.

Dass Indien möglicherweise nur eine »50-Prozent-Demokratie« ist, hat viel mit seinen Traditionen (insbesondere dem Kastensystem), mit seiner Geschichte und Kultur zu tun. Zugleich ist das Rad der gesellschaftlichen (Fort-)Entwicklung auch in Indien nicht stehen geblieben. Die Idee der Demokratie wurde vor etwa 2500 Jahren in Athen geboren und hat seither einen langen Weg hinter sich. Sie wurde dabei ständig modifiziert und vielerorts in den unterschiedlichen Formen adaptiert. Als westliche Idee bleibt sie aber für viele Inder immer Resultat eines aus der westlichen Historie heraus entwickelten gesellschaftlichen Ordnungsmodells – wenngleich die Geschichte des unabhängigen Indiens nach 1947 genau auf diesem westlichen Demokratiemodell basiert.

Im Gegensatz zur westlichen Demokratie, deren nationale Entwicklungen im Allgemeinen von relativ homogenen Staatsvölkern mit einer dominanten Sprache und Religion vorangetrieben wurde, verfügt Indien nicht über eine »einzige« und allgemein akzeptierte Sprache oder Religion. Wenngleich die Majorität von Hindus gestellt wird – Indien ist nicht »Hindustan«, wie das Land irrtümlicherweise auch genannt wird. Selbst Hindi – neben Englisch erste Amts- und Verwaltungssprache – wird nur in den nördlichen Unionsstaaten überwiegend gesprochen. Zwar geben die offiziell 22 (von ca. 90 % der Bevölkerung gesprochenen) Hauptsprachen Aufschluss über die Heterogenität der Bevölkerung, da jedoch all diese Sprachen über eine eigene Schrift verfügen, kann keine einen Allgemeingültigkeitsanspruch erheben. Wie gravierend und dringlich das Sprachenproblem als integrationshemmender Faktor erkannt wurde, zeigt sich darin, dass schon die erste Regierung unter Premierminister Nehru eine territoriale Reorganisation der britischen »Hinterlassenschaft«, auf Sprachkriterien basierend, durchführte, um dem Zerfall des Staatsgebildes schon im Ansatz zu begegnen.

Viele westliche Beobachter glaubten damals, dass genau dieser »babylonische Sprachenwirrwarr« eine schwere Hypothek für das Land bedeuten und zur Instabilität in der ganzen Region führen würde. Tatsächlich hat es die Zentralregierung in Delhi aber bis heute geschafft, das Staatsgebilde zusammenzuhalten und separatistische Tendenzen weitgehend zu kanalisieren. Das benachbarte Sri Lanka liefert erneut ein prominentes Gegenbeispiel: Dort ist ein mehr als 20 Jahre währender Bürgerkrieg im Begriff, das Land endgültig zu ruinieren. Singhalesische Armee und Regierung streiten mit den tamilischen »Tigern« im Wesentlichen über territoriale Kontrolle und Religion, aber mehr noch über Sprachdominanz. Bezieht man die jüngsten Ereignisse mit ein, könnte dort die Lösung des Konflikts – zur Genugtuung der LTTE – bald doch lauten: »Eine Sprache, zwei Länder«. Wäre Hindi als einzig verbindliche Amts- und Verwaltungssprache in Indien eingeführt worden, hätte die Antwort »Eine Sprache, viele Länder« gelautet. Mit anderen Worten: Indien wäre in seiner heutigen Form gar nicht entstanden.

Wenn der Sprachenpluralismus einer der wesentlichen Grundpfeiler der indischen Verfassung ist, so ist der religiöse Pluralismus ein weiterer. Indiens Verfassung garantiert die freie Religionsausübung und stellt formal keinen Glauben – auch nicht den Hinduismus – über einen anderen. Muslime, Christen, Sikhs, Parsen; alle genießen Glaubens- und Religionsfreiheit. So ist es nicht außergewöhnlich, dass Angehörige religiöser Minderheiten in die höchsten und einflussreichsten Positionen von Staat und Gesellschaft vordringen können. Der aktuelle Präsident Indiens, A. Kalam, ist ein Muslim. Der Premierminister, Manmohan Singh, ein Sikh. Der reichste Geschäftsmann Indiens ist ebenfalls ein Muslim und die besten Ärzte sind zumeist Christen und Parsen. Hinzu kommt, dass in Indien heute mehr Muslime als in Pakistan leben. Ein Land, das im Gegensatz zu Indien als »muslimischer« Staat gegründet wurde, was nicht zuletzt deshalb zur »schmerzhaften« Teilung des Subkontinents führte.

Identifikationsprobleme

Dass Indien ein riesiger Flächenstaat ist, in dem viele Sprachen gesprochen und geschrieben, viele Kulturen und Glaubensrichtungen gelebt werden, lässt das Land gewissermaßen unwirklich erscheinen. Nicht nur für außenstehende Beobachter, auch für viele Inder. In demonstrativer Verneinung der ethnisch-kulturellen Vielfalt des Landes lautet der Slogan rechtsgerichteter Parteien und Organisationen: »Hindi, Hindu, Hindustani«. Die Absicht besteht darin, Indien zu nationalisieren, »natürlicher« zu machen, wie ihre Protagonisten sagen. Dieses Vorhaben hat in der Vergangenheit zu vielen Konflikten und gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt. Insbesondere nach dem Pogrom in Gujarat 2002, in dem auch Regierungsstellen beteiligt waren, wurden Stimmen laut, die die rechtsstaatliche, säkulare und demokratische Ausrichtung in Frage stellten. Der BJP-geführte Gliedstaat musste sich (mit Recht) den Vorwurf einer staatlich gesponserten, »faschistoiden« Regierungsführung gefallen lassen. Dass die aus der hindunationalen Sangh-Familie hervorgegangene BJP aber in der Lage sein wird, Indien in Zukunft in ein »Hindu-Pakistan« zu transformieren, darf bezweifelt werden. Dazu ist die Gesellschaftsstruktur des Landes zu heterogen und die politische Ausrichtung der Partei zu exklusiv.

Wer Indien möglicherweise nur als 50 Prozent demokratisch beschreibt, wird unter anderem auch darauf verweisen, dass nur circa vier Fünftel seines Territoriums einer »durchdringenden« staatlichen Kontrolle unterliegen. Diesem Umstand liegt die Tatsache zu Grunde, dass sich der indische Staatsaufbau zwar vordergründig auf die diffuse Losung »Einheit in Vielfalt«, in Wirklichkeit aber auf das Nationenkonstrukt stützt. Gerade dort, wo die ethnische Heterogenität besonders groß oder die Bevölkerung entlang religiös-kultureller Grenzen besonders tief gespalten ist, sieht sich der Staat mit andauernden Aufstandsbewegungen konfrontiert. Im Kampf um politische Macht, Einfluss und Zugang zu Ressourcen wurde zunächst die Nordostregion (1950er-), dann der Punjab (1980er-) und später Kaschmir (1990er-Jahre) instabil. Teile der Nordostregion und Kaschmirs sind bis heute unter der Kontrolle von aufständischen Separatisten. Ein Wegfall nur einer dieser Regionen würde eine Kettenreaktion auslösen und den Bestand der Indischen Union in Frage stellen. Wenngleich bis auf Ausnahme des Punjabs keine dieser (Grenz-)Regionen wirklich befriedet ist: Staats- und Demokratiebildung in armen Ländern war noch nie leicht. Noch immer leben die meisten aller Armen der Welt in Indien.

Es gibt zumindest noch einen weiteren Grund, weshalb sich die Identifikation vieler Inder mit dem übergeordneten Staatsverband in Grenzen hält: Vieles wird in Indien pseudo-subsidiär an miteinander konkurrierende Entscheidungsebenen delegiert oder verschoben. Dies bietet große Freiräume, Entscheidungen und Weisungen zu verwässern, in Frage zu stellen oder zu blockieren. Deshalb ist das Vertrauen in die und die Identifikation mit den staatlichen Ordnungsinstanzen in aller Regel gering ausgeprägt. Das Zugehörigkeitsgefühl vieler Inder richtet sich eher nach der eigenen Familie, dem Clan oder der Dorf- und Religionsgemeinschaft. Nur da kann er verbindlichen Schutz von Rechten, Status und Privilegien einfordern.

Einigende Faktoren

Lässt man die schwer zu kontrollierenden Grenzregionen oder die diffuse, zuweilen wenig effektiv erscheinende Kontrollgewalt des Staates außer Acht, wird der Rest Indiens von Institutionen zusammengehalten, die nicht »typisch indisch« sind, sondern überwiegend noch aus britischer Zeit stammen: Die englische Sprache, der Verwaltungs- und Beamtenapparat, die Armee, die Eisenbahn und die Vorliebe für Cricket. Will beispielsweise ein Südinder sich mit einem Punjabi oder Gujarati unterhalten, wird er das Englische wählen, weil er weder Hindi noch Urdu und sein Gesprächspartner kein Tamil spricht. Andererseits ist es letztlich das Parlament in Delhi und der Oberste Gerichtshof, der gegebenenfalls den einzelnen Gliedstaaten der Union die Macht oder eher die Illusion einer regionalen Selbstverwaltung zugesteht. Es sind schließlich die Armee, die Polizeikräfte und die Vielzahl der paramilitärischen Einheiten, die bei Nichtbefolgung zentralistischer Direktiven den Willen der Zentralregierung kompromisslos durchsetzen. Darüber hinaus ist es das zweitgrößte Eisenbahnnetz der Welt, welches die Freizügigkeit von mehr als einer Milliarde Inder auf dem ganzen Subkontinent gewährleistet. Und es ist ein ursprünglich zum kolonialen Zeitvertreib und zur Disziplinierung konzipiertes Ballspiel, welches immer wieder eine oberflächliche Begeisterung von Millionen Inder für »ihr Land« entfacht.

Im Gegensatz zu diesen »importierten« Elementen aus Politik und Kultur verfügt Indien über eine weitere »Institution«, die im Stande ist, so etwas wie eine »gemeinsame Identität« zu generieren: Der Hindi-Film. Die indische Filmindustrie, überwiegend in Mumbai (Bombay) und Chennai (Madras) beheimatet, ist tief im neuzeitlichen und damit im ideologischen Terrain des unabhängigen Indiens verwurzelt. Nahezu grenzenlos populär, ziehen die überlangen Streifen Inder aller Altersklassen, unabhängig von Geschlecht, Kaste, sozialer Schicht, Religion oder Sprachgruppe, in ihren Bann. Im Zentrum steht zumeist die Koexistenz von Modernität und Tradition, und damit auch der Versuch, die Konfliktträchtigkeit und Komplexität der modernen indischen Gesellschaft zu vermitteln.

Anders als im realen Leben vieler Inder, werden die in den Filmen oberflächlich angesprochenen Probleme aber stets gelöst. Gleichzeitig wird die Familie als Werteinstitution über die Gesellschaft gehoben und damit gegen westliche Liberalisierungstendenzen gestellt. Neben der unverkennbaren Absicht, vormoderne (patriarchalische) Enklaven im Zeitalter der Moderne schützen zu wollen, wird eine Basis des Ausgleichs geschaffen, auf die sich sowohl sozial Unterprivilegierte, traditionell Eingesessene als auch neue aufstrebende Eliten verständigen können. So gesehen, waren und sind populäre indische Filme ein Abbild »typisch indischer« Verhältnisse und eine Reproduktion des ständigen Bemühens um die Einheit in der Indischen Union.

Ein Zukunftsmodell?

Spricht man über die Einheit der Indischen Union, erinnern die Problemlagen an die Vergangenheit Europas und nehmen in gewisser Hinsicht die politische Zukunft der Europäischen Union vorweg. Die Parallelen zur zurückliegenden europäischen Geschichte liegen insbesondere in den aufkommenden Konflikten, die ihre Wurzeln sowohl in der gesellschaftlichen Modernisierung, der Industrialisierung als auch in der Urbanisierung des Landes haben. Ähnlich wie der südasiatische Flächenstaat versucht die Europäische Union nunmehr seit Ende des Zweiten Weltkrieges, über den Weg der politischen und ökonomischen Integration hinweg, eine multilinguale und multiethnische Gesellschaft unter einem Dach aufzubauen. Eine Gesellschaft, die so in groben Umrissen in Indien schon besteht.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es aber fast noch reizvoller, Indien mit den Vereinigten Staaten, »der ersten multiethnischen Demokratie der Erde« überhaupt, zu vergleichen. Zweihundert Jahre früher gegründet, werden die Vereinigten Staaten heute immer noch aus Elementen zusammengehalten, die im Wesentlichen auf der englischen Sprache, auf die puritanische (protestantische) Arbeitsethik, auf das britische Rechtssystem und auf die europäische Kunst, Literatur und Philosophie aufbauen. Zweifelsohne ein Einwanderungsland, haben immigrierte Iren, Engländer, Franzosen, Deutsche, Polen et cetera bis auf wenige Ausnahmen die Kultur der (white) »Anglo-Saxon Protestants« angenommen. Erst die später eingewanderten Gruppen, insbesondere die »Hispanics«, oder auch die in dritter oder vierter Generation in Amerika lebenden asiatischen Einwanderer, grenzen sich nun zunehmend von der Mehrheitsbevölkerung ab. Sie leben in Enklaven, folgen ihren eigenen religiösen Vorstellungen, sprechen ihre eigene Sprache.

Aus dem amerikanischen Assimilationsmodell, dem »melting pot«, ist – wie einige behaupten – eine »salad bowl« geworden. Längst werfen nicht mehr alle Einwanderer ihre kulturellen Besonderheiten in einen »Tiegel« und nehmen den »einig machenden« Trank des »American way of life« in sich auf. Zeitgenossen wie Samuel P. Huntington beispielsweise ist das höchst unangenehm. Für ihn war Amerika in der Vergangenheit, und soll es in Zukunft weiter sein, durch eine »einzige durchdringende nationale Kultur« charakterisiert. Seinen Beobachtungen zufolge identifizieren sich die Amerikaner am ehesten mit ihrer »nationalen Kultur«, wenn das Land »bedroht« wird – denn dies führe nicht nur zur nationalen Konsolidierung, sondern auch zur kulturellen Einheit. Dem kann zugestimmt werden: Das »typisch« amerikanische Credo wurde aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen das englische Mutterland, aus dem Sezessionskrieg gegen die Südstaaten und nicht zuletzt aus den Vernichtungskriegen gegen die amerikanischen Ureinwohner gewonnen.

Huntingtons Argumentationslinie geht indessen Hand in Hand mit den Verlautbarungen indischer Ideologen wie M. S. Golwalkar, oder den rechtsgerichteten Parteien und Organisationen wie der Jana Sangh oder der BJP. Sie eint der Glaube, dass Indien eine dominante Kultur haben müsse und auch brauche. Und dies könne nur die Hindu-Kultur sein. Glücklicherweise hatte diese Ansicht keinen Einfluss auf die Gründerväter der Indischen Union, auf diejenigen, die die indische Verfassung ausgearbeitet und das Land über die ersten Dekaden regiert haben. Dass Indien eher eine »Salatschüssel« denn ein »Schmelztiegel« wurde, ist gewissermaßen auch das Verdienst der Kongresspartei und damit der Nehru-Gandhi-Dynastie. Natürlich kommt ihr die Heterogenität von Kultur- und Religionsgemeinschaften im multiethnischen Indien zugute. Bis heute stellen die Minderheitens Indien eine unverzichtbare »vote bank« für die Partei dar.

Solange die Verfassung also nicht geändert, so lange freie Wahlen abgehalten und der säkulare und föderale Demokratisierungsprozess weitergeführt wird, solange die politischen Eliten den Willen haben, mit Hilfe parlamentarischer Politik den spezifischen Begebenheiten ihres Landes Rechnung zu tragen, so lange wird das Staatswesen wohl erhalten bleiben. Zweifelsohne aber kann die Qualität des »indischen Demokratiemodells« noch verbessert werden. Insbesondere trifft das auf den Verwaltungs- und Beamtenapparat, auf die Rechtssprechung und auf andere öffentliche Institutionen zu. Viel wichtiger aber dürfte sein, ein stärkeres Klima der Toleranz auszubilden, welches nicht nur verbal zelebriert, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert und politisch vorgelebt wird. Ohne dies ist demokratisches Regieren schwer möglich.

Im Großen und Ganzen aber kann Indiens Staatsentwicklung durchaus als Erfolg beschrieben werden. Sie setzt sich ab von alternativen gesellschaftspolitischen Ordnungsmodellen, vom angloamerikanischen Liberalismus genauso wie vom französischen Republikanismus, vom atheistischen Kommunismus, aber auch von so mancher islamischen Theokratie, welche der Westen mit Nachdruck zu demokratisieren versucht.

Literatur:

Brass, Paul R. (1994): The Politics of India Since Independence, Cambridge

Chakravarty, Sumita S. (1993): National Identity in Indian Popular Cinema: 1947-1987, Austin

Hobsbawm, Eric. J. (1992): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt am Main/New York

Huntington, Samuel P. (1996): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien

Robinson, F. (Hrsg.) (1989): The Cambridge Encyclopaedia of India, Pakistan, Sri Lanka, Nepal, Cambridge

Rothermund, D./Kulke, H. (2006): Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute, München

Schlesinger, Arthur M. (1992): Disuniting of America. Reflections on multicultural society, New York

Wagner, C. (2006): Das politische System Indiens, Wiesbaden

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2007