Joscha Schmierer

Wider die Provinzialisierung und Verdeutschung von 68

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Alles schien zusammen zu kommen: antikoloniale Befreiung, chinesische Kulturrevolution, Aufstand gegen sowjetische Besatzer, Revolte gegen den Status Quo. 1968 muss als internationales Ereignis ernst genommen werden, wenn es begriffen werden und nicht hinter den 68ern, hinter politischen und kognitiven Routinen verschwinden soll. Der Generationenbegriff taugt so wenig zu einer Erklärung wie die einfache Chronologie vom 2. Juni 1967 bis zum »Deutschen Herbst«. Unser Autor hält es für sinnvoller, sich der Strukturen und Brüche zu vergegenwärtigen und von einer unterschiedlichen Wahrnehmung und Verarbeitung von 1968 als einem unerhörten Ereignis auszugehen.

In den Be- und Entschuldigungswellen, die alle zehn Jahre und manchmal auch zwischenrein über »die 68er« hereinbrechen, ist 68 selbst als unerhörtes Ereignis schon fast ganz untergegangen. Einen stolzen Buchtitel wie 1968 – The year that rocked the world(1) würde sich ein Autor in Deutschland kaum leisten. Immanuel Wallerstein, der amerikanische Historiker, spricht ohne Vorbehalt von der »Weltrevolution von 1968, in der die Forderung der vergessenen Völker der Welt nach ihrem rechtmäßigen Platz in der Machtstruktur des Weltsystems und den intellektuellen Analysen der Wissensstruktur zum Ausdruck kam«.(2) Das sind keine nachträglichen Literarisierungen. »Ich sage nur China, China, China!« brach es aus Bundeskanzler Georg Kiesinger heraus, als der Bundestag seinerzeit über die Studentenbewegung debattierte. Dass rund um den Globus die Dinge zum Tanzen gebracht werden und der Status quo erschüttert wird, war ein zeitgenössischer Eindruck.

Während unserer Zeit im provisorischen Bundesvorstand des SDS Mitte 1968 übersetzten und redigierten Jochen Noth und ich nebenher ein Buch von Pariser Situationisten für den Metzler Verlag. Unter dem Titel Chienlit, fein als Chaos übersetzbar, waren dort die Ereignisse des französischen Mai zusammenmontiert mit faits divers aus aller Welt. Nichts stand für sich allein. Es sollte alles in den Blick genommen werden, um zu verstehen, was sich in Paris abspielte. Und was sich dort abspielte, strahlte nach überallhin aus.

1968 war ein kosmopolitisches Jahr und wurde damals auch allseits so verstanden.

Zeuge Karl Heinz Bohrer

In den kampagneartig angezettelten und vorangetriebenen »Enthüllungen« um den Außenminister als jungen Mann in den ersten Monaten von 2001 sah Karl Heinz Bohrer, als FAZ-Feuilletonchef Ende der Sechzigerjahre teilnehmender Beobachter der Auseinandersetzungen in Frankfurt am Main, dieses Vergessenmachen am Werk. Es gab ja nichts zu enthüllen, es war ja alles bekannt. Es ging darum, mit einer Bildersequenz die Sichtweise auf das Geschehen zu verfälschen und prügelnde Polizisten in Opferlämmer zu verwandeln. Joschka Fischer sollte als Exponent der 68er vor der Alternative stehen, sich als gewalttätiger Schläger zu bekennen und zurückzutreten oder sich ins Büßergewand zu hüllen und Abbitte zu tun.

Karl Heinz Bohrer fand im Februar 2001, »die derzeitige abstrakte, moralisierende Bewertung des Gewaltbegriffs ist intellektuell völlig defizitär. Wer damals Angriffe berittener Frankfurter Polizei gegen unbewaffnete Studentenmassen gesehen hat und im Wortabtausch mit den verantwortlichen Offizieren sich von deren polizeistaatlicher Mentalität überzeugen konnte, 20 Jahre nach dem Ende des ›Dritten Reichs‹, dem erscheint die heutige Indignation, es seien Steine geworfen worden, von jener Begriffsstutzigkeit, die keine Antwort verdient.« Keine Antwort zu geben, konnte sich Fischer freilich nicht leisten. Bohrer fährt fort: »Generalisieren wir die Frankfurter Polizeigewalt: Seit der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg bis zur mörderischen Verletzung Rudi Dutschkes ergaben die die Revolution träumenden Orte Paris/Frankfurt/Berlin ein politikstrategisches und zeithistorisches Umfeld von emphatischerer Natur, als es unterbelichtete Interviewjournalisten im Gespräch mit pensionierten Polizeiveteranen heute auch nur ahnen können. Im Lichte der derzeit stattfindenden Banalisierung von 68 durch die harmlose Brille von 2001 (dazu gehört auch Fischers Entschuldigung beim vor 25 Jahren malträtierten Frankfurter Ordnungshüter) kommt es zur äußerlichen Verfälschung der Kategorien: Die Charakteristik eines existentiellen und historischen Sprungs in eine neue Ära wird verdeckt von den Tugenden der Angestelltengesellschaft.«

Bohrer sieht einen »strukturellen Zusammenhang« im »umstürzlerischen Gehabe einer intellektuellen und weniger intellektuellen Minderheit«, die von Baader-Meinhof bis zum Suhrkamp Verlag gereicht hätte: »Die Gemeinsamkeit lag im Hass gegen die Mentalität der Blockwarte, die sich unter anderem ja noch immer an der Reaktion der westdeutschen Bevölkerung, dem Frankfurter und Berliner Kleinbürgertum gegenüber den 68ern zu Wort meldete. Die Gemeinsamkeit lag aber auch in einem Begriff von ›Fantasie‹, der glaubte, Berge versetzen zu können.« Und die »Fantasie« wurde durch 68 selbst genährt.

Bohrer schätzt 68 mehr als viele 68er, denen er das »Vergessen von 68« mit anlastet. Im Verlauf ihrer Amnesie hätte sich »der strukturell wichtige Prozess« vollzogen: »nämlich die Verwandlung der bellikosen Qualitäten von 68 in die pazifistische Epoche danach. Dieser Umschlag von der Aggressivität zum Friedenssinn erklärt das Verhalten der alten 68er und enthält die eigentlich zerstörerische Qualität. Es kommt nur darauf an, zu verstehen, was hier Aggressivität und Friedenssinn bedeuten. Immerhin hat sich Fischer zunächst mit einem Wort zur schüchternen Gegenwehr entschlossen: Es sei eine revolutionäre Situation gewesen.«

Zu trennen zwischen 68, der »facettenreichsten Nachkriegsepoche«,(3) und den 68ern, die sich post festum irgendwie zurechtfinden, ist analytisch fruchtbar. Auffällig ist, dass Bohrer den Antrieb der Auseinandersetzung ganz in die Gesellschaft der Bundesrepublik verlegt, so dass die globalen Umrisse von 68 nur mit dem beiläufigen Hinweis auf Paris angedeutet sind. Auch diese Einschränkung trägt zum Verschwinden von 68 hinter den 68ern bei. Denn die bewegen sich ja seither in viel beschränkterem Rahmen, als er von 68 gezogen war, und schlüpfen teilweise gern in die Rolle des Ritters von der traurigen Gestalt.

Zeuge Ralf Dahrendorf

So wie »1968« in Europa verwendet werde, sei die Bedeutung des Jahres durchaus provinziell, meint dagegen Ralf Dahrendorf in seinem Heldenbuch über die »Erasmier«,(4) für die es eine Zeit der Desillusionierung geworden sei. Zu Recht verweist er auf die chinesische Kulturrevolution, in der er das »große Weltereignis der Zeit« sieht. Allerdings besteht ihre Bedeutung für ihn nur in der Größe der Verbrechen. Darin folgt er uneingeschränkt Jung Chang und Jon Halliday: »Staatlich veranlasste Tötungen erreichten ihren Höhepunkt in jeder Provinz (Chinas) im Jahr 1968.« In ihrem Buch über den Schuldigen an der Spitze des Staates, Mao, sprächen die beiden »von drei Millionen allein in diesem Jahr und von 100 Millionen, die auf die eine oder andere Weise litten. Dass Europas 1968er den Namen Maos auf ihrem Schilde trugen, ist weder nachvollziehbar noch verzeihlich.« Aber selbst im europäischen Kontext habe »1968« eine zu enge Bedeutung; »denn dies war auch das Jahr des Prager Frühlings und seines mörderischen Endes. Der Name Dubcek hätte der Freiheit verpflichteten Demonstranten besser gestanden als der fernöstlicher oder lateinamerikanischer Todesschwadroneure. Es ist im Grunde kaum fassbar, dass die Aktivisten der Pariser und Berliner und Turiner ›Kulturrevolution‹ zumindest objektiv auf der Seite derer standen, deren Panzer die Freiheitsbewegung in der Tschechoslowakei niederwalzten.«(5)

Das ist nur so dahin gesagt. Im Bewusstsein der protestierenden Studenten in Westberlin und Westdeutschland waren die Auseinandersetzungen in Polen und der Tschechoslowakei durchaus präsent. Der Text zur Kritik des Monopolsozialismus von Kuron und Modzelewski, den Protagonisten der polnischen Dissidenten, wurde zu einem viel gelesenen Standardtext in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion.(6) Es war ja gerade das Charakteristikum der Zeit, dass nicht nur alles miteinander zusammenzuhängen, sondern sich sogar in die gleiche Richtung zu entwickeln schien und so als gemeinsamer, weltweiter Aufbruch verstanden werden konnte: antikoloniale Befreiungsbewegungen, Kämpfe gegen diktatorische (Militär-)Regimes in Lateinamerika und Europa (Spanien und Griechenland), Proteste gegen die Sowjetherrschaft in Polen und der CSSR, die chinesische Kulturrevolution als Weg, um es anders zu machen als Moskau, und nicht zuletzt die Rebellion im Westen, »die sich über die kalifornischen Universitäten über die Vereinigten Staaten von Amerika und dann nach Europa ausbreitete und die dabei ihren Charakter als Antikriegsdemonstration zu einer antiautoritären Bewegung verlagerte.«(7)

Die »fernöstlichen Todesschwadroneure« in China hatten sich im Übrigen ausdrücklich gegen den sowjetischen Einmarsch in der CSSR gewandt und den »lateinamerikanischen Todesschwadroneuren« in Kuba wurde es übel genommen, dass sie sich nach einigem Zögern Gründe zusammengesucht hatten, die den Einmarsch letztlich rechtfertigen sollten. Es gab in Italien und Westdeutschland Demonstrationen und Kundgebungen gegen den Einmarsch. Aber richtig bleibt der Hinweis auf die chinesische Kulturrevolution als wichtigen Bestandteil von 68 als globalem Ereignis. Nicht umsonst lässt Bernd Cailloux in seinem Roman Das Geschäftsjahr 1968/69 den einen Teil der Belegschaft seines frühen und früh gescheiterten Alternativbetriebes Peking Rundschau lesen, während andere »dreimal täglich den heißen Löffel brauchten«.(8)

Die Kulturrevolution hatte ja zur erklärten Absicht, die Widersprüche zwischen Hand- und Kopfarbeit wie zwischen Stadt und Land in Angriff zu nehmen und der Herrschaft einer Parteibürokratie entgegenzutreten. Sie wurde als Bewegungsform verstanden, um nach der Eroberung der politischen Macht durch die Kommunisten den sowjetischen Weg zu vermeiden. Sie elektrisierte, und zwar als Beispiel für die Selbstermächtigung der Gesellschaft gegenüber zementierten Herrschaftsverhältnissen. Wenn sie nichts als bloße Hülle eines von oben angestoßenen Massenverbrechens gewesen sein soll, so war es doch diese Hülle, die faszinierte, und waren es nicht die Verbrechen, die sich unter ihr verbargen.

Es war dieses Verständnis der chinesischen Kulturrevolution, das es großen Teilen der antiautoritären Bewegung ermöglichte, sich in die Traditionslinie der kommunistischen Bewegung zu stellen. Das war, wie sich zeigte, ein Weg in die Sackgasse, war aber nicht nur mit guten Vorsätzen, sondern, so schien es, auch mit einem neuartigen guten Beispiel gepflastert. Ich glaube im Übrigen auch heute nicht, dass man der chinesischen Kulturrevolution gerecht wird, wenn man sie wie Jung Chang und Jon Halliday auf die Grausamkeit eines Massenmörders zurückführt, der aus der chinesischen Revolution immer schon nur seinen sadistischen Lustgewinn ziehen wollte.(9)

Zwar versteht Dahrendorf 1968 als »frontale Attacke auf die Vernunft«, zugleich aber als »Ausdruck einer tiefgreifenden Veränderung kultureller Verhaltensmuster«. Im Rückspiegel sei es ein »Modernitätsschub«, zu dem »Frauenemanzipation und Wissensgesellschaft, Bürgerinitiativen und Umweltbewusstsein, Toleranz gegenüber anderen und Interesse am Entfernten gehören. Es war allerdings auch der Einbruch des Relativismus, und als dessen anderes Janusgesicht des Fundamentalismus in die aufgeklärte Welt der offenen Gesellschaft.« So offen kann die Gesellschaft freilich nicht gewesen sein, in der die schönen Früchte der Veränderung nur in Verknüpfung mit einer »frontalen Attacke auf die Vernunft« zu haben waren.

Formen, 68 verschwinden zu lassen

Aus unterschiedlicher, teils entgegengesetzter Perspektive blicken Bohrer und Dahrendorf auf 68 als bedeutendes Ereignis. Dass sie 68er seien, wird ihnen niemand vorwerfen.

Ein Ereignis hat immer etwas Überraschendes, es produziert Anstöße und Folgen, mit denen niemand zuvor gerechnet hatte. Es entspringt strukturellen Veränderungen und zeichnet sich in Entwicklungstendenzen ab, lässt sich aus ihnen aber weder vorab prognostizieren, noch nachträglich völlig erklären. Es ruft Staunen hervor, weil einiges zusammenkommen musste, damit es zu ihm kam. Tatsächlich ist es ein Einbruch in den Status quo und ein Ausbruch aus statistischen Erwartbarkeiten. Ein großes Ereignis prägt sowohl die, die es annehmen und weitertreiben wollen, als auch jene, die es ablehnen, bekämpfen, einhegen und ungeschehen machen wollen. Natürlich hat Ereignis etwas mit Erleben zu tun, also mit Emotionen. Es reißt mit oder stößt ab. Es produziert Erfahrungen. Und als Ereignis findet es ein Ende, auch wenn es in den durch sein Ereignen veränderten Umständen und Anschauungen weiterwirkt und lange übersehen werden kann, dass es vorüber ist. 1968 muss als Ereignis ernst genommen werden, wenn es begriffen werden und nicht hinter den 68ern, hinter politischen und kognitiven Routinen verschwinden soll.

Die gebräuchlichsten Formen, um hierzulande 68 als Ereignis verschwinden zu lassen, sind:

– das Herumfuhrwerken mit dem Generationsbegriff,

– das Spiel mit Tendenzen und Kontinuitäten,

– das Argument aus der Chronologie,

– die Engführung der Resultate in RAF und Terrorismus.

Das Ereignis in der Generationenfolge verschwinden lassen

Das Generationsargument verschiebt die Bedeutung von 68 als globalem Ereignis auf die Alterskohorte, die es angeblich gemacht hat. Dabei ist das, was 1968 rund um den Globus geschah, beim besten Willen nicht als Werk einer Generation, gar einer deutschen, zu begreifen. Natürlich gibt es ein Wechselverhältnis zwischen dem Ereignis und denen, die es mitgetragen, es akzeptiert und sich ihm hingegeben haben. Aber die 68er in Westdeutschland und Westberlin haben 68 nicht gemacht. Eher lässt sich sagen, dass sie von 68 gemacht worden sind. Das Spiel mit den Generationen holt 68 wieder in den nationalen Rahmen zurück, in dem sich die 68er post festum nolens volens bewegen. Zugleich wird dem Ereignis, indem es zu einer Generationenfrage und zum Generationskonflikt stilisiert wird, auch in der Substanz nationalisiert. Es wird in erster Linie zu einer Auseinandersetzung mit den »Nazivätern« deklariert. Das ist zumindest verkürzt. Auschwitz als Zivilisationsbruch wurde 1968 im Westen als allgemeines und nicht als spezifisch deutsches Problem wahrgenommen. Das »Nie wieder …« machte ja auch nur in einer universellen Perspektive Sinn. Mark Kurlansky zitiert in seinem Buch Mario Savio, den amerikanischen Studentenführer: »Ich bin kein Jude, aber ich habe diese Bilder gesehen. Und diese Bilder waren unglaublich. Berge von Leichen. Nichts beeinflusste mein Bewusstsein so wie diese Bilder. Für mich bedeuteten sie, dass alles in Frage gestellt werden musste. Die Wirklichkeit selbst.« Diese Bilder hätten Einfluss auf das Leben der Menschen genommen. »Ich weiß sicher, dass sie auf mein Leben Einfluss nahmen – vielleicht nicht in dem Maße wie das ›Nie wieder‹-Gefühl, das die Juden zweifellos hatten, doch kam es diesem Gefühl sehr nahe. Denn auch Nichtjuden kannten dieses Gefühl.«(10) Und ganz sicher kannten es auch deutsche Nichtjuden.

Doch ist der Vorwurf nicht von der Hand zu weisen, die deutsche Studentenbewegung hätte, indem sie in der internationalen Protestbewegung Unterschlupf fand, eine Ausflucht vor der Auseinandersetzung mit der konkreten eigenen Verantwortung gegenüber Judenvernichtung und Vernichtungskrieg gesucht. Freilich bestand diese Ausflucht gerade nicht in der Schuldablagerung auf die Elterngeneration, sondern in der Generalisierung der Gefahr des Zivilisationsbruches, der in dieser Weise doch zuallererst in der deutschen Geschichte stattgefunden und dort tiefe Spuren hinterlassen hatte.

So oder so trägt der innerdeutsche Generationenkonflikt auch für Westdeutschland und Westberlin weniger zum Verständnis von 68 bei, als oft angenommen wird. Er war eher Folge als Anstoß von 68. 68 war gegenwarts- und zukunftsorientiert, nicht vergangenheitsbezogen. Die Ereignisse bewegten sich in einem globalen Möglichkeitshorizont. Kaum jemand betrieb in erster Linie nationale Vergangenheitsbewältigung. Sie war ja in der Tat schon vor 68 in Gang gekommen. Die intensivere Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit von Politikern und Professoren war eine Reaktion auf ihre Bemühungen, diesen Möglichkeitshorizont einzuschränken. Auf das »Dritte Reich« wurde zurückgekommen. Aber es war nicht der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung.(11) Das kann man schlecht finden, spricht aber jedenfalls nicht für die unter Psychologen gängige These, die Rigorosität der Auseinandersetzung und die Gewalt seien einer Selbststilisierung der 68er zum Opfer der Nazivernichtung entsprungen.

68 konstituierte eine Generation, war aber nicht ihr Werk und Ergebnis der gemeinsamen Herkunft, von der Heinz Bude in Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938–1948 spricht.(12)

Die einzelnen Teilnehmer am Ereignis hatten oft sehr unterschiedliche Vorgeschichten, alters- und milieubedingt. Oft wird zum Beispiel übersehen, dass nicht wenige Träger dieser angeblichen »Revolte von behüteten und versorgten Bürgerkindern, die soziales Elend gerade nicht erfahren hatten«,(13) in prekären sozialen Verhältnissen aufwuchsen, in denen, weil der Vater im Krieg gefallen war und als Geldverdiener ausfiel, oft jeder Pfennig zweimal umgedreht werden musste. Ihre Auseinandersetzung mit der Vätergeneration fand jedenfalls nicht mit den eigenen Vätern statt. Vielleicht täuscht mich ja die Erinnerung: Aber ich hatte in den Disputen mit kaum umgefärbten Lehrern nie das Gefühl, mich mit Ersatz- oder Quasivätern herumzuschlagen. Es ging um Auffassungen und Denkfiguren wie »historische Grenzen«, die wieder hergestellt werden müssten, um Behauptungen wie die, dass die Amerikaner das ganze Schlammassel mit dem »Vordringen der Russen« hätten verhindern können und müssen, wenn sie schlau genug gewesen wären, sich vor Kriegsende mit den im Osten kämpfenden deutschen Armeen zu verbünden. Und es ging noch 1961 bei der Ferienarbeit auf dem Bau zum Beispiel darum, dass der ganze Trupp das hohe Lied auf Hitler sang, außer dem Polier. Als ich den auf meiner Seite glaubte und meinte, man könne schließlich nicht über die Vernichtung von sechs Millionen Juden hinwegsehen, antwortete der: Darum ginge es nicht. Hitler hätte ruhig noch mehr Juden umbringen können. Was er überhaupt gegen Hitler hatte, ging in dem Streit unter, in dem ich jetzt dem ganzen Trupp ohne Ausnahme gegenüberstand. Sonst waren die Kollegen aber in Ordnung. Am 13. August rannten sie mir allerdings mit dem Nageleisen hinterher, das sie wie eine Maschinenpistole unter den Arm geklemmt hatten, und spielten Krieg. Der käme ja jetzt. Jetzt werde es auch für mich ernst. Das war nicht bös gemeint. So waren sie halt, die Bauarbeiter damals. Eine Auseinandersetzung mit den Nazivätern war der Disput jedenfalls nicht. Teilweise waren sie keine zwanzig Jahre älter.

In solchen Auseinandersetzungen bildete sich keine Generation, sondern bildeten sich unterschiedliche Individuen. Von einer politischen Generation jedenfalls kann man erst mit und seit 68 sprechen. Aber auch nach 68 unterschieden sich bekanntlich die Wege. Je mehr sich die 68er von 68 entfernen, desto diffuser wird der Generationsbegriff und desto mehr verliert sich das Ereignis in den unterschiedlichsten Erzählungen.

Die Schwäche des Generationsbegriffes für die Analyse der Bedingungen einer prägenden Zäsur durch Ereignisse zeigt sich auch darin, dass, nachdem die 68er erst einmal entdeckt waren, es kein Halten mehr gab beim Aufspüren immer neuer Generationen. Mit Ereignissen brauchten sie gar nichts zu tun zu haben. Sie mussten nur mehr oder weniger erfolgreich lanciert werden.

»Kann man Generationen erfinden?«, fragte der Schriftsteller Ingo Arend 1999: »Und ob. Wer glaubt im Gender-Zeitalter noch an ›natürliche‹ Generationsfolgen? Die Generation 68 war genauso eine aus dem Boden gestampfte Identitätskohorte wie die Generation Mitterand, die Generation 78 genauso eine Erfindung wie die Generation 89. Jüngste Kreation der Generationenküche war die ›Generation Berlin‹, jene Truppe ›undogmatischer Pragmatiker‹, die die Hamburger ZEIT erfunden hat. In chicen amerikanischen Bagellokalen in der mondänen Berliner Mitte kauen sie der Berliner Republik tabulos die neuen intellektuellen Stichworte vor.«(14)

Das »genauso« ist im einen oder anderen Vergleich ein bisschen übertrieben. Dass Generationen erfunden werden – die Generation Golf war Arend vielleicht zu blöd, um sie zu erwähnen – lässt sich freilich genauso wenig bestreiten wie andererseits die Existenz von mehr oder weniger ganze Gesellschaften prägenden Ereignissen. Manchmal bleiben sie halt aus (für die 78er z. B.) und manchmal prägen sie subjektiv nicht entsprechend ihrer objektiven Bedeutung (89).

Das Spiel mit Tendenzen und Kontinuitäten

Enzensberger beherrscht dieses Spiel perfekt. So beantwortet er jüngst in einem Essay über »Die falschen Fünfziger. Eine westdeutsche Reminiszenz«(15) die Frage, ob man es damals mit einer Restauration zu tun gehabt hätte, so: An »allerhand Versuchen« habe es damals nicht gefehlt, »allerhand Sonderbarkeiten wiederherzustellen: den Obrigkeitsstaat, die Zensur, den Anstandsunterricht und dergleichen mehr. Der Ärger, den das hervorrief, war verständlich. Nur dass es den ›Nonkonformisten‹ an den einfachsten marxistischen Grundkenntnissen fehlte. Somit konnten sie nicht ahnen, dass jede Rückkehr zu den schlechten alten Zeiten von Weimar völlig ausgeschlossen war und dass die verhasste Restauration ganz von selber, hinter dem Rücken aller Beteiligten, sehr bald ihren Geist aufgeben würde. Dafür sorgte die Entfaltung der Produktivkräfte ebenso wie die beginnende Globalisierung. Ungeschoren kam nicht die Staatsmacht mit allen Hoheitsallüren davon, sondern einzig und allein das Kapital. Als es so weit war, hatten auch die Fünfziger das Zeitliche gesegnet. Im Grund ist die Bundesrepublik Deutschland ja nicht 1949, sondern ungefähr 1962 oder 1963 gegründet worden, ganz ohne Proklamationen und Feierstunden. Damals hatte sich die Mehrheit ihrer Bewohner mit der Demokratie abgefunden oder sogar angefreundet, und so wurde es fortan immer schwieriger, zwischen Konformisten und Nonkonformisten zu unterscheiden. Gegen Ende des Jahrzehnts gab es zwar noch einmal allerhand Krach, angezettelt von einer kleinen Minderheit – ein viel beredetes Durcheinander, von dem bis heute manche Veteranen schwärmen. Auch dieses tragikomischen Tumults soll hier gedacht werden; denn wenigstens eines haben wir ihm ohne Zweifel zu verdanken: den endgültigen Abschied von den deutschen Fünfzigern. Friede ihrer Asche! Mögen sie nie wiederkehren.«

So unbekümmert von der unaufhaltsamen Entfaltung der Produktivkräfte und ihrer progressiven Wirkung ist schon lange nicht mehr geredet worden. Die also hatte das ihre schon getan, als es überflüssigerweise noch einmal zu allerhand Krach kam. Man hört ja jetzt öfters, dass der Krach allenfalls noch Durcheinander brachte in eine Entwicklung, die längst auf gutem Weg war.

Zweierlei fällt auf:

Ganz stillschweigend und hinterrücks soll sich als Tendenz vollzogen haben, was gemeinhin als widersprüchlicher gesellschaftlicher Lernprozess verstanden wird: die Entfaltung von Demokratie. Mit den Erinnerungen von Karl Heinz Bohrer trifft sich Enzensbergers Rückblick nicht ganz, mit meinen an die frühen Sechzigerjahre auch nicht.

68 als Nachklapp zu einer im Prinzip gelungenen innerdeutschen Entwicklung zu kennzeichnen, deshalb eben tragikomisch, blendet alles Geschehen außerhalb des schön gemalten Schrebergärtchens Bundesrepublik aus.

Beides zusammen bietet ein gutes Beispiel für das Vergessenmachen von 68 durch einen Prototyp des 68ers.

Gerd Koenen seufzt voller Mitleid in seiner Schlussbetrachtung zu Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977: »Ach, Achtundsechzig! Damals war gerade mal Halbzeit gewesen. Der Generationsbruch, der sich um dieses Jahr herum vollzog, war nur eine blinde Reaktion oder ein fernes Echo auf eine Geschichte, die vor unserer bewussten Lebenszeit lag und 1945 so radikal wie nur irgend möglich geendet hat, aber als psychische Realität fortbestand – nicht nur in Deutschland. Das Rote Jahrzehnt, das sich anschloss – ein großes Spukschloss. Betrachtet man die wirkliche politische und sozialkulturelle Geschichte der alten Bundesrepublik, sieht man eine geradezu erdrückende Kontinuität, eine Entwicklung mit gelegentlichen Sprüngen, aber ohne tiefere Brüche.«(16)

68 also bestenfalls ein Semikolon in den ruhigen Gewässern bundesrepublikanischer Entwicklung? Die »geradezu erdrückende Kontinuität« beruhte ja darauf, dass man den Eindruck hatte, nichts tun zu können. Selbst wenn man etwas machte und zum Beispiel Wehrdienst verweigerte. Die Ostermärsche erschienen mir immer als verschrobener Ausdruck dieser Belanglosigkeit: Klampfe schlagen und das noch mit der DDR im Rücken! 68 durchbrach genau diese Befindlichkeit. Mag sein, dass es keinen Bruch in der »wirklichen« Geschichte der Bundesrepublik bedeutete, es bedeutete aber einen Bruch in der persönlichen Geschichte von Tausenden Individuen: Sie gewannen den Eindruck, etwas tun zu können. Und dieser Eindruck entsprang nicht der Kontinuität der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik, sondern der überraschenden internationalen Situation. Es war einiges zusammengekommen.

Das Spiel mit der Chronologie

Die Chronologie erleichtert es, 68 als globales Ereignis in einem deutschen roten Jahrzehnt verschwinden zu lassen. Begonnen hätte es mit dem 2. Juni 1967 und geendet hätte es im »Deutschen Herbst« 1977. Kommune I und RAF wurden so dieses Jahr für den Spiegel in mehreren Nummern die medialen Helden. Waren die Leute von der Kommune I »Polit-Künstler oder Terroristen«, fragten Matthias Matussek und Philipp Oehmke(17) Rainer Langhans oder Andreas Bader? So werden Einsprengsel zu Polen stilisiert, zwischen denen die Studentenbewegung hin und her gerissen worden wäre.

Norbert Frei gab als Zeit-Historiker zu bedenken: »Im Sinne der generationsprägenden Wucht der Ereignisse des 2. Juni wäre es – zumindest mit Blick auf die Bundesrepublik – historisch eigentlich präziser, von den ›67ern‹ statt von den ›68ern‹ zu sprechen. Denn so gewiss dem Tod Benno Ohnesorgs ein Moment des Zufälligen innewohnte, so gewiss bündelte und dynamisierte erst sein Tod die Bewegung.«(18) Richtig an der Begründung dieses Versuchs einer Namensänderung ist, dass erst in den Schweigemärschen nach dem 2. Juni 1967 in Westdeutschland die vielen, individuell kritischen, ja rebellischen Studenten sehen konnten, dass sie und ihre paar Freunde und Freundinnen nicht allein dastehen. Insofern waren diese Schweigemärsche eine entscheidende Erfahrung. Zugleich war bezeichnend, dass es Schweigemärsche waren. So waren sie für alle zugänglich, blieben aber beim Ausdruck gemeinsamer Trauer und Betroffenheit hängen. Ihre Bedeutung lag in der Zahl ihrer Teilnehmer, nicht in einer klar artikulierten politischen Botschaft. Verstünde man den 2. Juni als isoliertes deutsches Ereignis, hätte es mit diesen Schweigemärschen auch sein Bewenden haben können. Aber so war’s ja nicht.

Die neu angestoßene Selbstverständigung unter bisher schweigenden Studenten verlief von Anfang an in einem internationalen Kontext: Solidarität mit dem vietnamesischen Befreiungskrieg und Schulterschluss mit der amerikanischen Protestbewegung. Dieser internationale Kontext machte aus den nach Frei westdeutschen 67ern aktive Beteiligte an dem globalen Ereignis 68.

Begriffsgeschichte macht Sinn, Historiker sollten aber nicht versuchen, neue Begriffe in die Welt zu setzen, statt den vorhandenen nachzuspüren. Einerseits ist es trivial und werden offene Türen eingerannt, wenn auf die Bedeutung des 2. Juni hingewiesen wird, andererseits wird einer nachträglichen Eindeutschung von 68 das Wort geredet, mit der, wenn sie seinerzeit tatsächlich gegolten hätte, der 2. Juni wahrscheinlich ein isoliertes Datum geblieben wäre.

Die Engführung der Resultate

In den Daten 2. Juni 67 und Herbst 77 ist angelegt, das eine Datum als Ergebnis des anderen wahrnehmen zu können. Die regelmäßigen zehnjährigen Gedächtnisübungen für beide Daten finden zudem immer ein Jahr früher statt als die für 68. Da liegt es medial nahe, auch inhaltlich den Bogen zwischen den beiden deutschen Daten zu schlagen und den störenden Kosmopolitismus von 68 zu überspringen.

Wolfgang Kraushaar hat es verstanden, den Eindruck intimer Zeitgenossenschaft und aktenkundiger Allwissenheit des Historikers gleichermaßen zu kultivieren. Gerade jetzt, vierzig Jahre nach dem 2. Juni und 30 Jahre nach dem »Deutschen Herbst« tritt er wieder als Herausgeber einer zweibändigen großformatigen und dickleibigen Aufsatzsammlung hervor.(19) Dort versucht er in einem eigenen Aufsatz nachzuweisen, dass der »Dezisionismus« von Rudi Dutschke bereits an den bewaffneten Kampf der RAF herangeführt habe.(20) In einem anderen Aufsatz deutet er an, der Sprengstoffanschlag der RAF auf das Springer-Hochhaus von 1972 sei Klimax und Konsequenz der Anti-Springer-Kampagne Ende der Sechzigerjahre gewesen.(21)

Ich weiß nicht, was Kraushaar antreibt, Rudi Dutschke unter dem Stichwort Dezisionismus auf Teufel komm raus zum Vorreiter der RAF und zum Nachsprecher von Carl Schmitt machen zu wollen. Seinerzeit sagten sich auf einmal viele, dass etwas gegen den Vietnamkrieg unternommen werden müsse, und fragten sich, was das denn genau sein könne. Im Spannungsfeld zwischen den Notwendigkeiten der Unterstützung des Befreiungskrieges und den eigenen Möglichkeiten entwickelten sich Entscheidungssituationen. Dutschke beschwor sie besonders nachdrücklich und drängte zur Entscheidung. Entscheidungen haben selbst bei höchst rationaler Analyse der Entscheidungsbedingungen ein Moment von Voluntarismus und Wette. Dass es in Teach-ins und bei Demonstrationen Entscheidungen zu treffen galt und Entscheidungen getroffen wurden, zog eine neue Redeweise nach sich und eröffnete einen neuen Erfahrungshorizont. Entscheidungen über gemeinsames Handeln zu treffen, war für die Studentinnen und Studenten an den Massenuniversitäten ganz neu und attraktiv. Bisher hatten immer andere entschieden und niemand hatte sich in der Lage gesehen, den eigenen Dissens als kollektiven Einspruch anzumelden. Wenn es gängig wurde, auf politische Entscheidungen hin zu denken, zu schreiben und zu diskutieren, bleibt es doch absurd, den Umgang mit dieser neuen Situation via »Dezisionismus« auf RAF und Terrorismus eng zu führen, weil einige sich für diesen Weg entschieden haben.

68 als Ereignis

Das Jahr begann voller Optimismus. Auf allen Ebenen, antikolonialer Befreiungskampf, Rebellion gegen die Herrschaftsverhältnisse im Sowjetblock, Kampf gegen die Diktaturen in Europa und in Lateinamerika, Kulturrevolution in China und Protestbewegung im Westen ging es voran. Dem Kurzschluss, die Bewegungen in den verschiedenen Weltteilen seien ihrer Form nach identisch, erlagen nur wenige, aber dass diese Bewegungen unter sehr verschiedenen Umständen doch alle in die gleiche emanzipatorische Richtung, letztlich in Richtung Sozialismus drängten, schien plausibel und wurde ja auch durch Sprecher von Bewegungen aus allen Ecken der Welt artikuliert.

Die Bündelung der Stoßkraft all dieser verschiedenen Bewegungen in Richtung Emanzipation und letztlich Sozialismus war das Metaereignis des rund um den Globus äußerst ereignisreichen Jahres: Heute ist diese Häufung von Ereignissen auch vielen 68ern nicht mehr präsent. 68 selbst war angespannte Aufmerksamkeit als eigenes fast tägliches Erleben von vielen Tausenden in Westberlin und Westdeutschland. Ob man in den verschiedenen Ebenen dieser Kämpfe eine Aufgabe der politischen Vermittlung sah oder ob man von den Verschiedenheiten abstrahierte und die Auseinandersetzungen rund um den Globus auf ein und denselben Kampf reduzierte, entschied über politische Strategien und Organisationsformen, entschied darüber, ob Nähe zwischen den verschiedenen Bewegungen gesucht wurde oder unmittelbare Identifikation in der Tat für möglich gehalten und angestrebt wurde. Wenn irgendwo bewaffneter Kampf, warum dann nicht auch hier? Was am einen Ende der Welt ganz richtig sein kann, wird anderswo den gemeinsamen Zielen schaden, wenn es nachgeahmt wird. Doch diese Differenzen änderten nicht unbedingt etwas am gemeinsamen Erleben der eigenen Teilnahme an weltweiten Kämpfen gegen den repressiven Status quo.

Was aber 1968 als Bündel verschiedener Bewegungen gleicher Stoßrichtung oder gar unmittelbar als eine weltweite Bewegung wirkte, erwies sich in den folgenden Jahren als Eindruck des Augenblickes, in dem sich verschiedenartige Bewegungen kreuzten, um dann ihren jeweiligen Weg weiterzugehen. Wie weit und wie lange man über diese Auseinanderentwicklung hinwegsehen konnte und 68 als Ereignis strategisch verhaftet blieb, entschied wiederum über politische Aktions- und Organisationsformen.(22) Ich halte es für politisch sinnvoller und für historisch fruchtbarer, analytisch von der unterschiedlichen Wahrnehmung und Verarbeitung von 1968 als unerhörtem Ereignis auszugehen, statt entweder alle Konsequenzen aus 68 über einen Leisten zu schlagen oder die Anstöße, die von 68 ausgingen, nicht dort, sondern in der deutschen Vergangenheit und ihren Auswirkungen auf eine durch sie von frühester Kindheit an geprägte und unabhängig von 1968 immer schon ausgebildete Generation zu suchen. Um es offen zu sagen: Letzteres halte ich für blanken Unsinn.

1968 bleibt ein optimistisches Jahr, obwohl schon hier Rückschläge und Niederlagen zu verdauen waren. Dass sie als vorübergehend angesehen wurden, wurde dadurch erleichtert, dass die weltweiten Bewegungen insgesamt durch die Brille der westlichen Studentenbewegungen gesehen wurden, die selbsttätige und sich selbst organisierende sozial gestützte politische Bewegungen waren. 1968 schien sich aus dieser Perspektive die Weltgesellschaft zwar nicht mit einer Stimme, aber überall doch selbst zu Wort zu melden. So wurden die hierarchische Organisation der antikolonialen Befreiungsbewegungen und das militärische System von Befehl und Gehorsam, das sie prägte, nicht wahrgenommen oder doch unterschätzt. Auch die moralischen und mentalen Auswirkungen eines irregulären und unter totaler Anspannung geführten Guerillakrieges auf die Bedingungen des zivilen Aufbaus nach dem Sieg wurden unterschätzt. Wie dann der Augenschein trügen kann, habe ich vor allem in Kambodscha selbst direkt erlebt.

Doch wird zum Beispiel die Unterstützung des Befreiungskampfes gegen das Siedlerregime in Rhodesien nicht dadurch desavouiert, dass die Unterstützer nicht voraussahen, wie die ZANU durch ihren Sieg korrumpiert wurde und Mugabe sich von einem asketischen Führer des Befreiungskampfes zu einem machtversessenen grausamen Diktator wandelte.

Dass die chinesische Kulturrevolution nicht nur am Ende in einen groß angelegten Einsatz der Volksarmee mündete, sondern in sich selbst stark militarisiert war und durch die Initiierung von oben, durch das »revolutionäre Hauptquartier« um Mao, geprägt blieb, wurde durch die westliche Brille der Studentenbewegung unsichtbar. Vielen Augenzeugen vor Ort ging es nicht besser. Sie ermutigten die Selbsttäuschung.

Wurden ausgehend von 68 die einen Entwicklungen zu unkritisch gesehen, so wurden andererseits die Elastizität der westlichen Demokratien, ihre Integrations- und Attraktionskraft von nicht wenigen nur als konterrevolutionäre Versuchung und Einverleibungsbemühung wahrgenommen. Dies verstärkte die sektiererischen und zunehmend binnenorientierten Tendenzen der Organisationen, die aus 68 hervorgingen. So blieb den revolutionären Kräften im Westen meist lange verborgen, dass ihre Rolle darauf hinauslief, Dämme zu durchbrechen, die bereits unterspült waren und so oder so schließlich nicht zu halten gewesen wären. Claus Leggewie, für den 68 als Chiffre eine »echte Weltrevolution« bezeichnet, lässt das behaupten: »Einige ›Enragierte‹ wollten noch einmal den Sturm auf die Bastille in Szene setzen, aber was folgte, war eher die subkulturelle Erosion der alten Welt, nicht der erwünschte politische Systemwechsel oder gar die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Mochten die Studenten und Schüler sich als proletarische Avantgarde verkleiden und mancher Arbeiterführer wieder von der Sozialisierung träumen, das Datum 1968 markiert den definitiven Übergang in nachindustrielle und postsozialistische Verhältnisse.«(23) Für mich ist das Ausdruck einer Strukturgeschichte, die nach dem Prinzip denkt, es läuft, wie es läuft. Ereignisse wie Abwege und Fragmentierungen werden nur als Zwischenfälle und Begleiterscheinungen wahrgenommen, wenn überhaupt.

Der Eindruck der prinzipiellen Bündelung von letztlich gleichgerichteten Bewegungen verstellte seinerzeit die Einsicht, dass zwischen Israel und den Palästinensern oder im Bürgerkrieg von Nigeria Konflikte zu Tage traten, in denen eine eindeutige Emanzipationslogik der Gegensätze und Feindschaften nicht zu erkennen war. Sie wurden deshalb uminterpretiert oder ignoriert. Nach Ende der Entkolonialisierung treten gerade solche Konflikte in den Vordergrund. Man kann an ihnen verzweifeln.

1968 war rund um die Welt ein Jahr gespannter Aufmerksamkeit für das, was sich auf dieser Welt tut. Es bleibt Andeutung einer Weltgesellschaft, die vielleicht immer nur in großen Ereignissen aufscheint, aber kein Status quo wird. Auch Andeutungen zeigen Wirkung. Und etwas von dieser Wirkung hält auch hierzulande an. Das zeigen selbst noch die Dauerdebatten um die 68er, ihre Ruhmes- und Schandtaten.

Ja: Ach, Achtundsechzig! Eine Provinzialisierung und Eindeutschung hat es nicht verdient.

1

Übersetzen kann man so was dann schon. Mark Kurlanskys Buch ist 2005 unter dem Titel 1968. Das Jahr, das die Welt veränderte bei Kiepenheuer & Witsch auf Deutsch erschienen.

2

Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, Berlin: Wagenbach Verlag 2007, S. 54.

3

Alle Zitate von Karl Heinz Bohrer aus seinem Artikel »Fantasie, die keine war«, in: Die Zeit 07/2001.

4

Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München: C. H. Beck 206.

5

Ebd., S. 197.

6

Jacek Kuron, Karel Modzelewski: Monopolsozialismus. Offener Brief an die Polnische Arbeiterpartei, Hamburg 1969.

7

Dahrendorf, a. a. O., S. 196.

8

Frankfurt am Main (edition suhrkamp) 2005, S. 218: »In unserem Keller prallten sehr unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinander, und in jedem spiegelte sich ein Splitter meiner abgelegten oder gerade wachsenden Bewusstseine«, schreibt der Erzähler.

9

Vgl. meine Besprechungen in Die Welt vom 1.10.05 und in Kommune 6/05, aber auch etwa die kritische Besprechung von Jean-Louis Margolin, immerhin Co-Autor des Livre noir du communisme (Paris 1997), in Le Monde vom 28.6.06.

10

A. a. O., S. 122.

11

Gerd Steffens: »Im Generationencontainer. Die 68 und ihre Nachfolger«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2001, erinnert an die Heidelberger Auseinandersetzung mit dem Historiker Conze: »Die damals gefundenen Conze-Zitate über die ›Entjudung‹ ostmitteleuropäischer Orte sollten in den 90ern dann Historikertage beschäftigen. Aber wir verstanden nicht, dass sie in einem funktionalen Zusammenhang mit der Vernichtungspolitik gestanden haben. … Verglichen mit dem, was heute bekannt ist und damals hätte bekannt werden können, wirkt unsere seinerzeitige Haltung also eher harmlos als rigoros.«

12

Frankfurt am Main 1995. Angeblich stelle sich »die Geschichte der später so bezeichneten Achtundsechziger-Generation« von »ihrer Kindheit her betrachtet als eine Geschichte misslungener Ent-Identifizierungen von ihren Eltern dar. Sie kommen nicht los von dem ihnen so früh eingepflanzten Lebensgefühl des Schuldig-Geborenseins.« (S. 37) Das passt schlecht zu anderen Feststellungen, dass sich unter den Deutschen dieser Elterngeneration seinerzeit fast niemand schuldig fühlte.

13

So Klaus von Schilling: Scheitern an der Vergangenheit. Das deutsche Selbstverständnis zwischen Re-Education und Berliner Republik, Berlin: Philo Verlag 2002, S. 138.

14

Freitag, 26.3.1999.

15

NZZ, 16.7.07.

16

Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, S. 496.

17

Spiegel 5/2007, S. 136 ff.

18

Das Jahr der Revolte, Zeit-Geschichte 2/07, S. 26.

19

Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg: Hamburger edition 2007; Martin Altmeyer hat das Opus in Kommune 3/07 angezeigt; dort auch sein Essay »Komplexitätsreduktion mit Waffe. Zur Mentalität des deutschen Linksterrorismus«.

20

»Entschlossenheit; Dezisionismus als Denkfigur. Von der antiautoritären Bewegung zum bewaffneten Kampf«, in: Wolfgang Kraushaar: Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg: Hamburger edition 2007, S. 140–156.

21

»Kleinkrieg gegen einen Großverleger. Von der Anti-Springer-Kampagne der APO zu den Brand- und Bombenanschlägen der RAF«, ebd., S.1075-1116; in beiden Aufsätzen werden mit dem »von–zu« chronologische Abfolge und Kausalität absichtsvoll vermengt.

22

Die westdeutschen Maoisten und unter ihnen vor allem der KBW waren darin besonders hartnäckig im Festhalten an dem Eindruck einer Bündelung gleichgerichteter Bewegungen.

23

Claus Leggewie: »1968 als Geschichte«, in: Aus Politik und Zeitgeschehen B 22–23/2001, S. 3.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2007