Ernst Köhler

Spielball der Großmächte?

Viele zerren von außen und von innen am Kosovo

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Wie geht es weiter mit dem Kosovo? Wird ihm der Weg in die beaufsichtigte Unabhängigkeit erst wieder verstellt, nun durch Russland? Wie einig ist sich die EU? Was sagen die Albaner selbst dazu? Unser Autor hat sich ein Bild von der veränderten politischen Situation vor Ort gemacht. Die Bevölkerung steht in kritischer Distanz zu ihren Parteien, äußert sich schonungslos deutlich über ihre politische Elite. Kein Pathos mehr, der Akzent liegt auf konkreten Aufgaben. Was aber, wenn die Unabhängigkeit verweigert wird?

Der Besucher muss sich umstellen

Die Lage ist unhaltbar. Zurück führt kein Weg. Unter die serbische Staatsgewalt wird das kleine Land nicht mehr kommen. Das will auf der weiten Welt nur noch Serbien, das aber gar keinen Platz für das Kosovo hat. Keine Integrationsbereitschaft. Was Russland eigentlich will, weiß nur Russland. Aber den Weg nach vorn, in die beaufsichtigte Unabhängigkeit, scheint es ernstlich verstellen zu wollen. Bis auf weiteres jedenfalls – Präsident Putin hat sich in der Kosovofrage so weit exponiert, dass er sich bis zu den Duma-Wahlen Ende 2007 und den Präsidentschaftswahlen Anfang 2008 möglicherweise nicht mehr korrigieren will oder kann. Eine in ihrer Sinnlosigkeit und Schädlichkeit unerträgliche Zeitspanne, gemessen mit den Maßstäben des verquälten Kosovo. Zwischen Belgrad und Prishtina gibt es in der entscheidenden Frage keinen Kompromiss. Aber der Ahtisaari-Plan ist ein sorgfältig ausgearbeiteter Lösungsversuch, der den Serben im Kosovo außerordentliche, in Europa einzigartige Rechte zusichert. Jetzt steht er wieder zur Disposition. Erst ist seine Vorlage aus Rücksicht auf die Wahlen in Serbien verzögert worden, jetzt steht er ganz in Frage. Die EU hat sich auf eine Entscheidung der Statusfrage innerhalb der UNO festgelegt, aber die UNO ist entscheidungsunfähig.

Wir fragen Joachim Rücker, den deutschen Chef der überfälligen, im Land tief diskreditierten und inzwischen müde auf ihre Ablösung wartenden UN-Verwaltung in Prishtina (UNMIK), wie groß die Geduldsreserven der albanischen Mehrheitsgesellschaft im Kosovo eigentlich seien: »Die Situation ist ruhig. Die Menschen hier sehen ja, was läuft. Auch in den Zeitungen kann man es lesen. Die Leute durchschauen den Prozess.« Überzeugend klingt das nicht. Die Handlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit der Welt, die Ratlosigkeit und die sich bereits abzeichnende Uneinigkeit der EU drängen sich freilich jedermann hier auf. Die Frage ist nur, ob der Durchblick die Leute besänftigen kann. Oder sie nicht eher auf das geradezu klassische Denkmuster vom Balkan, von der albanischen Nation auf dem Balkan als dem Spielball der Großmächte und ihrer rücksichtslosen geopolitischen Ambitionen zurückwirft. Die Menschen befinden sich hier nicht auf der Tribüne eines politischen Welttheaters. Es geht um ihre eigene Zukunft. Weiter unten in der Hierarchie des UN-Protektorats räumt man denn auch freimütig ein, dass man nicht weiß, wie das Kosovo auf die neue Evidenz, die neue Fühlbarkeit seiner Ohnmacht reagieren wird. Ortskenntnis und Beobachtungsschärfe machen zudem vorsichtig und skeptisch: Je länger jemand hier arbeitet, desto weniger sicher scheint er sich zu sein. Auch der Gewaltausbruch vom Frühjahr 2004 war überraschend gekommen.

Andererseits hat sich das politische Klima seit 2004 merklich gewandelt. Das sollte man auch bei allen Spekulationen über die aktuelle Sicherheitslage berücksichtigen. Alle unsere albanischen Gesprächspartner legen den Akzent auf die konkreten Perspektiven, besser, Aufgaben des Landes. In dieser Deutlichkeit, Entschiedenheit ist das neu. Vom Unabhängigkeitspathos der unmittelbaren Nachkriegsjahre ist kaum mehr etwas zu spüren. Es hängt den Leuten offenbar inzwischen zum Halse heraus. Es ist ihnen einfach zu leer, zu populistisch, zu manipulativ. Viele Albaner äußern sich sogar schonungslos kritisch über ihr Land, das seine unfähige und selbstsüchtige politische Elite zu lange geduldet habe. Über die Parteien hier, die noch gar keine seien – in den Worten eines Gesprächspartners aus einem Ministerium in Prishtina: »... die nicht einmal wissen, was und wer sie sind.« Schlecht kommt auch die Verwaltung weg. Ein Vertrauter von Hashim Thaci – Führer einer der großen Parteien (PDK) und möglicherweise einmal der erste Premierminister des unabhängigen Kosovo – hebt das historische Defizit eines professionellen und nur dem Gemeinwesen verpflichteten Civil Service im Kosovo hervor. Der Kerntopos patriotischer Selbstkritik gilt der jetzt acht Jahre lang praktizierten Zusammenarbeit der lokalen politischen Elite mit der Protektoratsverwaltung im Interesse der Machtsicherung und Selbstbedienung, im beiderseitigen Interesse der Konfliktvermeidung. Aus hiesiger Sicht war und ist das eine schmutzige Allianz, die das Land willentlich dort festgehalten hat, wo es sich nach dem Krieg befand. Wir treffen auf diesen Typ durchdringender Kritik sogar dort, wo wir sie am wenigsten erwartet hätten: in den Kreisen des Geheimdienstes der PDK – die großen politischen Parteien (neben PDK: LDK, die alte Partei Ibrahim Rugovas, und AAK, die Partei Ramush Haradinajs) haben hier ihre eigenen Dienste aufgebaut. Zu unserer Überraschung möchten auch diese Leute ihren Parteichef anscheinend über sich selbst, über die noch aus UCK-Zeiten stammenden Strukturen und Rücksichten in der Partei hinaustreiben. Er scheint ihnen der Gefangene eines Anachronismus, einer früheren Phase der Parteibildung. Sie geben ihm eine Chance, aber nicht mehr. Der Parteiführer steht auch innerparteilich auf dem Prüfstand. Er hat sich zu bewähren – auch in der Reform, durch die gezielte Öffnung der Partei für junge, im Westen ausgebildete Leute.

Einen von ihnen sprechen wir ausführlich. Er ist Jurist, Ende 30, war als Flüchtling in Deutschland und später noch einmal im Rahmen einer beruflichen Fortbildung als junger Richter. Heute ist er Verwaltungsleiter eines lokalen Gerichts in einem der früheren Zentren der UCK (der sich zwei seiner jüngeren Brüder denn auch angeschlossen hatten). Auch er selbst steht der PDK nahe – »wenn heute auch nicht mehr so nahe wie früher«. Er begreift den implementierten Ahtisaari-Plan als den Geburtsakt eines neuen liberal-demokratischen Staates. Zugleich hält er aber die tief greifenden Kontrollrechte der geplanten EU-Mission vor allem im Bereich der Justiz für unabdingbar. Das eine schließt das andere nicht aus – diese komplexe Haltung verweist auf die Erfolgschance der kommenden europäischen Staatsanwälte und Richter, gerade wenn sie ihr Mandat ernst nehmen und keine faulen Kompromisse im Stile der UNMIK mehr machen.

Im Kosovo macht sich heute ein neues Selbstbewusstsein geltend. Sogar im pauperisierten, gegenwärtig noch marginalisierten Kosovo. Wenn man dem neuen Buch von James Pettifer und Miranda Vickers über die »albanische Frage« (The Albanian Question, 2007) folgen will, gehört es in einen weiteren Kontext – den des jüngsten politischen und ökonomischen Aufstieges der Albaner im südlichen Balkan: in Albanien nach der Anarchie von 1997, die auch eine Befreiung von autoritären Herrschaftsverhältnissen war; im Kosovo nach dem Krieg 1998/1999, der den serbischen Staat definitiv aus dem Land entfernt hat; in Mazedonien nach dem kurzen Bürgerkrieg von 2001, in dem die albanische Minderheit elementare Bürgerrechte durchsetzen konnte. Der Besucher darf das Kosovo nicht mehr nur im Rahmen der Zerfallsgeschichte Jugoslawiens sehen. Er sollte es vielmehr in den heute vielfältig zusammenwachsenden, polyzentrischen und trans-nationalstaatlichen albanischen Raum einfügen. Die Menschen im Kosovo tun es sowieso schon längst.

Warten auf die Deutschen

Der Juni hatte es in sich. Die Bereitschaft des französischen Präsidenten in Heiligendamm, die Statusfrage dann eben für weitere sechs Monate auf Eis zu legen, ist hier als ein Affront, als ein Rückfall in ein Großmachtgebaren von vorgestern empfunden worden. Ein Schachzug auf Kosten der Bauern. Man räumt durchaus ein, dass Sarkozy den Russen damit die Möglichkeit nehmen wollte, im Sicherheitsrat ihr Veto tatsächlich auszuspielen. Die Verunsicherung und der Vertrauensverlust gehen dennoch tief. Auch deshalb kann Präsident Bush mit seinem Auftritt in Tirana so etwas wie eine Euphorie hervorrufen. Die Supermacht wendet sich den Albanern zu, die Supermacht zumindest respektiert ihr Anliegen. Was für ein Moment: Das große Amerika reicht dem albanischen Adam die Hand. Aber wir sind hier nicht in der Sixtinischen Kapelle. Im Kosovo hält sich das politische Glücksgefühl nur ein paar Tage. Messianische Empfindungen sind hier überhaupt Mangelware. Die amerikanische Diplomatie folgt dem Präsidenten auf dem Fuße und verwässert sein Versprechen sogleich wieder. Der Weltgeist ist schon wieder weg.

Das Stocken, die gegenwärtige Selbstblockierung der internationalen Kosovo-Politik ändert nichts daran: Die USA sind und bleiben die große Hoffnung der Albaner. Die einzige, die letzte, möchte man sagen – wenn es da nicht die Deutschen gäbe. Ein deutscher Diplomat aus dem Vorbereitungsteam für die geplante neue EU-Mission sagt im Gespräch, die Amerikaner seien völlig entschlossen, den »Status« – das heißt die kontrollierte Unabhängigkeit des Kosovo, so wie sie der Ahtisaari-Plan vorsieht – bis Ende 2007 unter Dach und Fach zu bringen. Auf die Frage nach der möglichen Rolle der deutschen Außenpolitik dabei fragt er zurück: »Sie meinen, ob die Deutschen gemeinsam mit den Amerikanern die Unabhängigkeit auf den Weg bringen sollten?« Gemeint ist hier: zur Not auch außerhalb der Vereinten Nationen, ohne Resolution im UN-Sicherheitsrat, ohne formelle Aufhebung der bislang geltenden Resolution 1244 aus dem Jahre 1999. Der aktive Diplomat fragt nur – wenn auch sichtlich gelöst, nachdenklich und aufgeschlossen. Er zeigt freilich auch gleich die schwer abschätzbaren Risiken einer solchen Vorgehensweise auf: Ohne UN-Mandat geriete die KFOR unter Druck. Einzelne Länder könnten nämlich ihre Truppen abziehen. Ohne Resolution bliebe der neue Staat auf unabsehbare Zeit aus den Vereinten Nationen ausgesperrt. Und möglicherweise auch aus den entscheidenden Finanzinstitutionen der Welt. Sollte Europa sich über die Kosovofrage auseinander dividieren, würde sich die Integration des Landes in die EU weiter dehnen und komplizieren. Und überraschend etwas ganz Handfestes: es wäre nicht einmal sicher, ob der Flughafen in Prishtina offen bleiben könne. Von Serbien und seiner möglichen Reaktion auf eine Unabhängigkeit des Kosovo ohne Zustimmung der UNO spricht der Diplomat dabei noch nicht einmal.

Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung des Parlamentes in Prishtina – später basisdemokratisch legitimiert durch ein Referendum, wie es der Ahtisaari-Plan zur Irritation, zum Befremden der allermeisten unserer albanischen Gesprächspartner nicht vorsieht; die umgehende Anerkennung des neuen Staates zunächst einmal durch die USA, die gesichert erscheint, und durch Deutschland, die sehr viele Menschen hier erwarten oder sich doch wünschen; das klare Bekenntnis des jungen Staates zu Europa und der glaubwürdige Willen der Führung, den Ahtisaari-Plan in seiner Substanz – einschließlich seiner restriktiven und aus der Sicht der Albaner ausgesprochen fragwürdigen Auflagen – praktisch und dann eben einseitig umzusetzen. Freilich nicht als das große Design für die gesamte Zukunft des Kosovo, wie es manche Internationale offenbar zu sehen geneigt sind. Sondern nur als einen ersten Schritt, als eine Episode des Konfliktmanagements. Das Paradigma des Protektorats hat sich im Kosovo irreversibel verschlissen, es ist auch im hoffnungsvolleren Zeichen der EU nur als kurzfristige Starthilfe für den neuen Staat vorstellbar und akzeptabel. Das hoch geschraubte Konzept der Dezentralisierung im Ahtisaari-Plan wird sich bewähren müssen – andernfalls dürfte es mittelfristig revidiert werden. Das alles zusammengenommen wäre vielleicht keine gute Lösung für das Land. Sie wäre mit vielen Unsicherheiten und wahrscheinlichen Komplikationen belastet. Sie dürfte dennoch unvermeidlich werden, wenn die internationale Gemeinschaft nicht sehr bald, nicht schon in den nächsten Wochen handelt. Die Führer des Landes stehen bereits mit dem Rücken an der Wand. Ein ausgezeichneter Kenner der kosovarischen Parteienlandschaft, der seit fünf Jahren für die EU hier tätig ist und auch albanisch spricht, sagt uns, dass sich die Regierung und Parteiführungen in der Hauptstadt schon jetzt einem massiven Druck aus der »Provinz« ausgesetzt sehen. Die einseitige Unabhängigkeitserklärung wäre schließlich kein Aufstand. Sie wäre vielmehr ein politisches und verantwortliches Handeln, dem sich angesichts der Unschlüssigkeit der Staatengemeinschaft die Legitimität kaum absprechen ließe.

Die Deutschen sind ein durchwachsenes Thema hier. Sie sind anerkannt im Kosovo, im Großen und Ganzen sogar beliebt. Vor allem die deutschen KFOR-Truppen, aber nicht nur sie. Auch etwa Joachim Rücker und seine »geradezu amerikanische« Hemdsärmeligkeit in der Handhabung des Privatisierungsprozesses finden Respekt. Aber es gibt auch einen gravierenden Kritikpunkt. Wenn das Gespräch andauert und eingehender wird, bekommt man ihn regelmäßig serviert: Die Deutschen leisten hier etwas; sie investieren viel – nicht nur Geld. Aber sie machen politisch nichts daraus. Politisch bleiben sie hinter ihrem materiellen Beitrag für das Land weit zurück. Es fehlt ihnen der Machtanspruch. Im genauen Gegensatz zu den Amerikanern, die davon überreichlich haben und immer das politische Maximum aus ihren Leistungen herausholen. Woher diese falsche Bescheidenheit? Auch gebildete Leute sprechen hier in diesem Zusammenhang von einem »Komplex« der Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg. Das mag auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung im Ganzen zielen, dann ist es nicht akzeptabel. Das Problem ist nicht die angebliche Selbstgeißelung der Deutschen. Das Problem ist vielmehr das obskurantistisch-positive Bild der Nazis in der provinziellen albanischen Erinnerungspolitik. Etwas ganz anderes ist es, wenn die albanische Kritik sich gegen den unbezweifelbaren Wunsch einer Mehrheit der Deutschen nach weniger weltpolitischer Verantwortung, nach weniger militärischem Engagement in der Welt richtet. Das sitzt dann. In diesem Fall hört man besser zu. Wenn wir unsere deutschen Gesprächspartner in Prishtina mit diesem albanischen Vorwurf konfrontieren – dem Vorwurf der künstlichen Selbstverkleinerung aus Drückebergerei, dem Vorwurf des politischen Biedermeier, akzeptieren sie ihn zögernd, wortkarg und etwas verlegen.

Spiegel des Freiheitswillens

Albin Kurti, der inzwischen auch von unseren großen Zeitungen beachtete Sprecher der kosovo-albanischen Oppositionsbewegung »Vetevendosje« (Selbstbestimmung), empfängt uns in seiner Wohnung im Zentrum von Prishtina. Er darf sie nicht verlassen. Das zuständige Gericht hat ihn am 6. Juni unter Hausarrest gestellt. Mit den Medien darf er kommunizieren, auch mit den Mitgliedern seiner politischen Bewegung. Ein paar Tage nach unserem Besuch wird er aber wieder ins Gefängnis kommen, wo er nach den eskalierten Protestaktionen am 10. Februar 2007 in der Nähe des Parlaments auch zunächst war. Genauer gesagt war er in mehreren Gefängnissen, wie er uns sagt. Man hat ihn von einem zum anderen Gefängnis transferiert. Kein Direktor habe ihn haben wollen. Wohl weil man befürchtet habe, er könne seine Mitgefangenen agitieren. Wir passieren zwei Polizisten im Treppenhaus, denen gegenüber wir uns ausweisen müssen. Als wir zurückkommen sind es vier, es findet gerade die Wachablösung statt. Auch draußen sind offenbar genügend Beamte, aber in Zivil. Die Vereinten Nationen lassen sich diese Angelegenheit etwas kosten. Einem von uns beiden, einem Journalisten aus dem Lande selbst, ist es zu viel. Der deutsch-albanische Kollege hat auch die Auseinandersetzungen im Februar miterlebt. Er hat selbst gesehen, wie internationale Polizeibeamte ihre Gewehre auf die Menschen richteten und aus allernächster Nähe ihre Gummigeschosse auf sie abfeuerten. »Es war plötzlich wieder wie unter Milosevic.« Zwei junge Leute sind auf diese Art bekanntlich erschossen worden. Die Täter sind längst zu Hause, in Rumänien. Sie haben sich nicht vor Gericht verantworten müssen. »Mit Immunität hat das nichts zu tun. Die wird aufgehoben, wenn der Verdacht auf ein Verbrechen vorliegt. Aber man hat nicht nachweisen können, wer genau aus der Gruppe von internationalen Polizisten es war. Es hat nicht für eine Anklage gereicht. Aber immerhin haben wir doch Konsequenzen gezogen, der Chef der internationalen Polizei ist zurückgetreten«, wird uns Joachim Rücker dann sagen. Albin Kurti hingegen stellt man vor Gericht. Und die Anklagepunkte könnten ihn für Jahre hinter Gitter bringen: »Endangering United Nations and Associated Personnel«; »Participation in a Group Obstructing Official Persons in Performing Official Duties«; »Call to Resistance«.

Die persönliche Reaktion meines Kollegen ist für mich der Schlüssel zum Phänomen Albin Kurti im gegenwärtigen Kosovo. Man kann nicht sagen, dass man ihn zum Märtyrer stilisiert. Man macht keine Ikone der Resistance aus dem jugendlichen Mann jenseits aller etablierten und nichtetablierten politischen Parteien, der immer noch etwas vom ehemaligen Studentenführer an sich hat. Die wenigsten, mit denen wir sprechen, überzeugt er rundum – wie einen 21 Jahre alten, vor beruflichem Tatendrang fast platzenden Fotoreporter, der sich gerade an einer renommierten internationalen Journalistenschule in Prishtina eingeschrieben hat. Die meisten distanzieren sich in der einen oder anderen Weise politisch von Kurti. Nur punktuell, wie etwa ein Ex-Journalist, 40, der kurz vor dem Abschluss seines Aufbaustudiums in internationalem Recht steht und dem zumindest der Gewaltbegriff von »Vetevendosje« zu eng ist. Sei es denn keine Gewalt, Flaschen mit roter Flüssigkeit gegen öffentliche Gebäude zu werfen? Altvertraute Debatte. Oder genereller, grundsätzlicher wie eine Germanistin an der Universität hier, für die Albin Kurti keine Protestaktion organisieren sollte, die er dann nicht unter Kontrolle hat. Keine Spur von Kult also. Aber doch die Anerkennung des politischen Idealismus, der diesen Mann bestimmt und vor allen anderen politischen Führern im Land auszeichnet. Die Haltung wird als authentisch empfunden. Das Wort »Autokrat«, sonst geradezu inflationär verwendet im politischen Sprachgebrauch von Prishtina, fällt nur einmal und ohne Nachdruck. Keiner unserer Gesprächspartner möchte auf diese Stimme verzichten. Niemand betrachtet sie als gefährlich, destruktiv oder illegitim. Niemand möchte sie gar unterdrückt und zum Schweigen gebracht sehen. Das ist das Problem der internationalen Verwaltung. Die Frage ist nur, ob sie weiß, dass sie es hat.

Man verehrt Albin Kurti nicht, man blickt nicht auf zu ihm (ein Bedürfnis, das sich zuletzt beim Tod Ibrahim Rugovas machtvoll manifestiert hat), aber man erkennt sich in ihm wieder. Was ist die Basis dieses kritischen und oft sogar reservierten Respekts? Zusammengefasst lautet die politische Botschaft Albin Kurtis und seiner Mitstreiter, dass das Schicksal der Albaner im Kosovo bisher über ihre Köpfe hinweg entschieden worden ist – in Kumanova (Mazedonien), im Abkommen zwischen der Nato und dem geschlagenen Milosevic-Regime, das bereits den UN-Sicherheitsrat ins Spiel bringt – zum Nachteil der Albaner, wie man heute sieht; über die Sicherheitsratsresolution 1244 und ihre völkerrechtliche Orthodoxie, auf die Belgrad und Moskau sich heute versteifen können; in der Herrschaftsstrategie des UN-Protektorats, das den Albanern ihre Führung genommen oder besser wegkooptiert hat (eine Variante des »indirect rule«, daher das Schlagwort »Kolonialismus«); zuletzt in Wien, wo diese Sorte Führung sich auf einen Minderheitenschutz eingelassen hat, der Belgrad erneut die besten Ansätze für seine unbeirrbaren Territorialansprüche, das heißt: für eine Teilung oder besser Zerstückelung des Kosovo bietet. Seltsamerweise fehlt in diesem Gesamtbild ausgerechnet das entscheidende regionale Ereignis der Jahrtausendwende: die definitive, gewaltsame Liquidierung der serbischen Hegemonialmacht auf dem Balkan. Das demontierte Serbien erscheint hier fast dämonisch ungebrochen. Serbien erscheint hier immer noch als der alte Leviathan. Aber auch in dieser selektiven, pessimistisch verzeichneten Form stellt sich diese Sicht der jüngsten Zeitgeschichte des Balkanraumes gegen eine Normalität, die gar nicht normal ist; gegen eine Selbstverständlichkeit, die gar nicht selbstverständlich ist: nämlich gegen die falsche Normalität und gegen die falsche Selbstverständlichkeit der internationalen Verfügung über das Kosovo. Von 1999 bis heute und morgen immer noch.

Diese Destruktion eines von oben und von außen durchgesetzten und daher scheinbar allgemein gültigen »Realitätsprinzips« ist einzigartig im Kosovo. Und sie wird in aller Öffentlichkeit vorgetragen – auf gedanklich hohem Niveau und mit im Prinzip friedlichen Kampfmitteln. Im Moment scheint das fulminante Denkangebot die Menschen nur zu berühren, unfreiwillig tief zu berühren freilich. Jedermann trägt schließlich seine eigene Realitätsgerechtigkeit in sich. Der Gestaltungsanspruch der relevanten Staaten, vor allem des Westens, findet sein Echo in der Anpassungsbereitschaft, in der praktischen Vorsicht, im alltäglichen Verantwortungsbewusstsein der großen Mehrheit der Bevölkerung im Kosovo. Aber das kann sich ändern. Wenn die in Wien ausgehandelte Lösung scheitert und das konziliante Land sich erneut in eine unabsehbare Warteschleife verwiesen sieht, könnte die kleine Bewegung Albin Kurtis Zulauf bekommen.

Auch »Vetevendosje« selbst müsste sich dann allerdings verändern. Die Bewegung müsste sich politisch verdeutlichen. Im hiesigen Büro der International Crisis Group erhalten wir ein konkreteres Bild von »Vetevendosje«. Danach denkt Albin Kurti persönlich differenzierter und weniger apodiktisch, als er im Moment nach außen zu erkennen gibt. So scheint er etwa das Verbleiben der KFOR im unabhängigen Kosovo zu akzeptieren. Seine Position in der Bewegung sei nicht eigentlich angefochten. Sie verdanke sich seinem persönlichen Charisma und seinem besonderen Ansehen in der Öffentlichkeit. Er sei so etwas wie eine Instanz und gegenwärtig nicht zu ersetzen. Andererseits sei gar nicht so klar, wie weit Kurti die Politik von »Vetevendosje« tatsächlich bestimme. Es gebe in dieser Bewegung nicht nur junge Menschen genuin demokratischer und prowestlicher Orientierung – obschon sie die Masse der Aktivisten stellten und die Proteste trügen. Im Hintergrund versuchten aber andere Kräfte an Einfluss zu gewinnen – vor allem »Dissidenten« aus der Spätphase Jugoslawiens. Was sie genau wollen und wie ihr Kosovo aussehen soll, sei unklar.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2007