Martin Kühn

Neues Spiel, neues Glück!

Die Grünen suchen das Politische

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Die Etablierung der ökologischen Frage folgte keinem Naturgesetz. Gerade deshalb ist die Existenz der Grünen ein politischer Erfolg. Was fangen die nachwachsenden Altersgruppen mit diesem Erfolg an? Unser Autor verweist auf drei Paradoxien und auf das, worauf nicht verzichtet werden kann. Die Grünen kommen nicht umhin, die individuelle Freiheit auf ein gutes Leben (im Zweifel beschleunigte Zukunftsvernichtung) durch die Freiheit des demokratischen Handelns für ein umweltverträgliches Maß zu begrenzen. Nur mit diesem Freiheitsverständnis lassen sich auch die verschiedenen Gerechtigkeitsdimensionen bündeln – und die Freiheit der Zukünftigen erhalten. Dazu braucht es eine normative Perspektive des Ökologischen und den starken Bürger.

»Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht – erst recht.« (Juli Zeh: Spieltrieb)

»Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.« (Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker)

Wer, wie, was

Mit seinem Rückzug spielte Joschka Fischer den Ball weiter, wechselte sich aus dem Spiel und forderte die Nachfolgenden dazu auf, eine neue Taktik zu entwerfen. Wenn ein großer Spieler eine Mannschaft verlässt, erst recht, wenn ein Großer des Spiels – vielleicht der letzte Spielmacher der alten Schule – das Feld verlässt, hinterlässt das immer eine Lücke. In Zeiten des Übergangs ist es Zeit für grundsätzliche Fragen. Welche Strategie schlagen wir ein? Auf welcher Philosophie, oder besser, welcher Idee, basiert das neue Spiel und das Spiel der Neuen?

Wer Playback singt, singt nicht wirklich. Fischer traf mit der Symbolik unseren Zeitgeist der Uneigentlichkeit. Vieles wird gesagt, ohne etwas zu bedeuten. Vieles wird wiederholt, ohne es zu hinterfragen. Vieles wird ironisiert, aber was nehmen wir selber noch ernst? Die Frage steht im Raum: Was will die Nach-Fischer-, die neue Generation der Grünen eigentlich? Auf der Suche nach dem Eigentlichen wird die jüngere Generation nicht die Extreme eines Joschka Fischer durchlaufen müssen, dessen Rock’n’Roll ja ein breites Spektrum an Melodien beinhaltete. Vom Pflasterstein bis hin zur Kammermusik der Diplomatie.

Leicht wird es nicht für die Jüngeren, waren es womöglich gerade die Grenzerfahrungen der Fischer-Generation, die ihr den Weg durch die Institutionen vorgaben. Der Weg der Neuen zu einer Bedeutung davon, worin das Grünsein aller Grünen besteht, zielt auf eine Vorstellung davon, was uns politisch wirklich bewegt. Anders gefragt: Was ist das Politische, an dem sich die Politik der Grünen in den nächsten fünfundzwanzig Jahren ausrichtet? Das Nachdenken über das Politische tritt an die Stelle der oft vermissten Vision, die uns Politik erklären soll. Das Politische entspringt der Aufklärung, die nicht alles erklären kann, weil sie ohne einfache Antworten auskommen muss. Das Politische ist reflexiv, seine Lösungen enthalten schon die nächsten Probleme. Die Widerspenstigkeit dieses Politischen beschrieb Alexander Schuller treffend wie folgt: »Je bedrohlicher Aufklärung in den Sog ihrer Widersprüche gerät, desto wahrhaftiger wird sie.«(1)

Mangelnde Wahrhaftigkeit mündet in Langeweile. Findet eine politische Partei keinen Zugriff zur Wirklichkeit, steht sie neben der Zeit und wird unpolitisch. Die Bürger spüren das und wenden sich ab. Das betrifft eher schleichend die Volksparteien, die Repräsentanten der alten Bonner Republik. Ihr Verlust an programmatischer Kontur geht einher mit einem dauerhaften Schwund an Wählern und Mitgliedern. Eine Gefahr auch für die kleineren Parteien, gerade aufgrund ihrer geringeren Masse. Cohn-Bendit nannte die drei Kleinen kürzlich im taz-Interview Orientierungsparteien.(2) Geht ihnen selbst die Orientierung verloren, trifft sie das direkt in ihrem Selbstverständnis und kann dazu führen, dass sie den Boden unter den Füßen verlieren.

Wieso, weshalb, warum

Die (partei-)politische Etablierung der ökologischen Frage folgte keinem Naturgesetz. Die Grünen als Partei hätten auch scheitern können. Die Existenz der Grünen ist keine Notwendigkeit und gerade deshalb ein politischer Erfolg. In der historisch kurzen Zeitspanne von fünfundzwanzig Jahren besteht die Partei als Partei, als parlamentarische Partei und als Regierungspartei, auf allen Ebenen.

Die Gründergeneration der Grünen hat alles bewiesen, was zu beweisen war. Alle Zweifel wurden ausgeräumt. Das geschafft zu haben, ist eine große Leistung. Anfang der Achtziger galt es die Breite eines Spektrums von Jutta Ditfurth bis Herbert Gruhl in einer Organisation zu integrieren. Vergleichbar mit einer Bandbreite von Sahra Wagenknecht bis Klaus Töpfer, aber ungleich schriller, weil fundamentaler. Wer würde sich das heute noch antun?

Über die rot-grüne Bundesregierung wurde oft geschrieben, dass sie verspätet an die Macht gekommen sei, dass ihre Zeit schon vorbei gewesen sei, bevor sie überhaupt zu regieren begann. Womöglich war es aber doch der richtige Zeitpunkt.

Am Anfang stand die schwierige Frage der Zustimmung zum Einsatz militärischer Gewalt im Kosovo-Konflikt. Die Debatte darüber rührte tief am grünen Selbstverständnis. Mit der Zustimmung zu Fischers Kurs akzeptierten die Grünen, dass sie in der Frage von Krieg und Frieden nicht länger der Möglichkeit ausweichen konnten, schuldig zu werden.(3) In der Konfrontation des Widersprüchlichen waren die Grünen politisch. Viele schrieben sogar, die Grünen würden eine Debatte stellvertretend für die deutsche Gesellschaft führen. Damit waren wir auf der Höhe der Zeit und (außen-)politisch in der Berliner Republik angekommen. Der Versuch der Legitimierung des Einsatzes mit Hilfe der Instrumentalisierung des Holocaust war allerdings übertrieben. Genauso übrigens wie die begriffliche Einstufung des islamistischen Terrors als »neuen Totalitarismus«. Der Terror ist von seinem Wesen her kontingent und nicht total. Er kann einen treffen, muss aber nicht.

Während also außenpolitisch die Perspektive stimmt, gilt das für den Blick nach innen weniger. Nach 1989 traten die Bemühungen um eine zukunftsorientierte nachhaltige Entwicklung hinter das alte Muster der nachholenden Entwicklung zurück. Das alte Rezept erfuhr eine Neuauflage: Ökonomische Akzeptanzbeschaffung für die Demokratie. Vorrang hat die wirtschaftliche Integration, der die politisch-kulturelle schon folgen werde. Das ist bis heute der Status quo, den die Grünen zwar ökologisch modernisieren wollen, vom Grundsatz aber nicht in Frage stellen. Werden wir damit der Zukunft gerecht?

Die neuen Länder können ihre Ausgaben nur gut zur Hälfte selber erwirtschaften, sind dauerhaft abhängig von Transferzahlungen. Von dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse im Osten selber (geschweige denn zwischen Ost und West) hat man sich inzwischen verabschiedet. Als förderwürdig gelten nur noch so genannte Wachstumskerne, alle anderen Regionen überlässt man mit einer infrastrukturellen Mindestversorgung sich selbst. Diese Strategie gilt inzwischen als Vorbild für die zu erwartenden Entwicklungsunterschiede in ganz Deutschland. Wie soll aber in den wirtschaftlich abgehängten Regionen dann noch Akzeptanz für die Demokratie wachsen? Das Ausmaß der Probleme mit rechtsextrem und fremdenfeindlich motivierter Gewalt in den neuen Ländern ist inzwischen bundesweit bekannt, wird aber politisch immer noch nicht ernst genug behandelt.

Wenn also die alte Formel der Bonner Republik – »Wohlstand für alle und mehr Demokratie« – in Addition der Slogans von Ludwig Erhard und Willy Brandt schon im ersten Teil nicht aufgeht, wir aber trotzdem mehr Demokratie wollen, müssen wir die Formel vom Kopf auf die Füße stellen: »Mehr Demokratie wagen, trotz weniger Wohlstand.«

So offen sagt das noch keine Partei. Denn mit der Umkehrung der nach innen gerichteten Integration ändert sich fast alles. Die Veränderung basiert auf einer neuen Philosophie: Vom »Und« zum »Trotzdem«. Statt eine Un(d)-Summe des »Immer-mehr« anzuhäufen, gilt es trotz Verzichts benennen zu können, auf was man nicht verzichten kann. So entsteht eine Anordnung, die das »Nebeneinander-von-allem« in ein »Weniger-ist-mehr« verwandelt. Es beschreibt zuerst, wofür man ist, danach wogegen. Das Unverzichtbare ist das grüne Mehr, der politische Kern zukünftiger grüner Politik.

Dort wo nicht alles nebeneinander Bestand haben kann, existieren Unvereinbarkeiten. In der Konfrontation mit ihnen – dem Widersprüchlichen – tritt das neue Politische zu Tage. Es geht um den Versuch zu balancieren, was sich gar nicht balancieren lässt. Auf der Suche nach dem wahrhaft Grünen fragen »Realismus und Substanz« deswegen zu Recht nach den grünen Paradoxien.(4)

Wer nicht fragt, bleibt dumm

Was sind Paradoxien? Ein Blick ins Historische Wörterbuch der Philosophie zeigt den Interpretationsspielraum des Begriffs. »Realismus und Substanz« sprechen analog von »inhaltlichen Widersprüchen« und »zentralen Konkurrenzen«. Für unsere Zwecke – auf der Suche nach dem Politischen – hilft die Abgrenzung zum Absurden weiter, so wie sie Dürrenmatt beschrieb: »Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchteten, was sie zu vermeiden suchten. Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd (sinnwidrig). Sie ist paradox.«(5)

Das Paradoxe – entgegen der Sinnwidrigkeit oder gar Sinnlosigkeit des Absurden– erhält uns ein Stück Handlungsoptimismus. Es kann so ausgehen, muss aber nicht (Kontingenz). Oder anders gesagt: Das Paradoxe enthält die Möglichkeit, konstruktiv zu sein.

Auf der Suche nach der Wirklichkeit trifft das Politische auf das Paradoxe. Kein Wunder, dass es uns heute schwer fällt, eine grundsätzliche Position einzunehmen. Hoffnung und Orientierung erhalten wir anhand einer weiteren Abgrenzung des Paradoxen, diesmal gegenüber dem Adoxon: »Der Unterschied zwischen dem Adoxon und dem Paradox liegt darin, dass das Adoxon moralische Übel betrifft, die kein Spiel vertragen, während das Paradox Gegenstände betrifft, die eine gewisse spielerische Behandlung gestatten.«(6)

Das Politische kann nur existieren, wenn Handlungsspielraum besteht. Ohne ihn regieren allein die Notwendigkeiten. Stellt sich die Überlebensfrage, ist das Politische akut gefährdet. Denn das Überleben selbst ist allein Notwendigkeit. Erst im Leben beginnt das Spiel.

Der Erhalt des Paradoxen – also der Möglichkeit des Spiels – ist politisch und Voraussetzung des Politischen. Das belegt auch der ursprüngliche Ort des Paradoxen, der in der Rhetorik der Auseinandersetzung mit der öffentlich anerkannten Meinung liegt und die Entzweiung von Subjektivität und Sozietät durchgehend voraussetzt.(7) Oder anders: In der Konfrontation mit dem Paradoxen werden wir politische Subjekte, kein Spieler gleicht dem anderen, jedes Spiel verläuft anders.

Drei Paradoxien oder: Worauf verzichten, worauf nicht

Ein Paradox ist eher ein Widerspruch zu sich selbst statt zwischen zweien oder mehreren. »Realismus und Substanz« benennen das an der Stelle, wo die gemeinschaftliche Aufgabe der permanenten inhaltlichen Reflexion als üble Quälerei beschrieben wird: »Nicht nur, dass sie Zeit raubt, sie kann sich auch gegen einen selbst richten.«(8)

Mein Eindruck ist, dass dieser Weg an der Stelle der drei aufgeworfenen Paradoxien noch konsequenter beschritten werden kann. Dazu will ich, eingehend auf die drei Fragestellungen der grünen Paradoxien, einen Anstoß geben:

Parteinahme aus welcher Perspektive?

Grüne Perspektive richtet sich auf das Politische der Grünen. Wenn die Grünen mit der ökologischen Frage die Überlebensfrage stellen, so tun sie dies nicht im Sinne einer Politik der Notwendigkeiten, sondern im Sinne einer Politik der Freiheit zum Erhalt des Politischen. Das Politische braucht Handlungsfreiheit, also Alternativen. Ist es zu spät zu handeln, verliert das Politische seinen Sinn, auch wenn wir trotzdem ein Apfelbäumchen pflanzen.

Wo ist das Paradox? Es liegt in der Freiheit selbst begründet. Sie gefährdet sich selbst. »Die Freiheit des guten Lebens, des Energieverbrauchs und der Mobilität wird neu definiert werden müssen, oder die Klimakatastrophen werden kommen, wie sie kommen.« Andreas Zielcke schrieb diesen Satz jüngst in einem SZ-Leitartikel.(9) Er sieht also noch Spielraum. Der Weg aus der Krise sei derselbe, der uns in sie hineinführte: »Ohne die Demokratisierung der Ansprüche an den Lebensstandard würde der Klimawandel nicht stattfinden, und ohne demokratischen Konsens ist er nicht aufzuhalten.«(10)

Die Freiheit des guten Lebens, das ist die negative (individuelle) Freiheit, »die Abwesenheit von Hindernissen für mögliche Wahlentscheidungen und Betätigungen – das Fehlen von Hindernissen auf den Wegen, die jemand einzuschlagen beschließen kann.«(11) Spätestens seit der Wachstumsbeschleunigung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die negative Freiheit in den westlichen Industrienationen materialistisch besetzt. Mit ihr verband sich eine Wohlstandsmehrung, die wiederum mehr Freiheiten im Sinne von Optionen und Lebenschancen eröffnete. Neben den westlichen Industrienationen prägt ihre expandierende Dynamik den Lebensstil (Produktions-, Konsum-, und Mobilitätsverhalten) eines wachsenden Anteils der Weltbevölkerung. Hierin liegt die Ursache für den Klimawandel, der nur durch demokratischen Konsens aufzuhalten sei, so Zielcke.

Der demokratische Konsens entspringt der positiven Freiheit, dem In-Freiheit-Handeln, dem Recht des Bürgers, in den öffentlich-politischen Raum zugelassen zu werden, als Teilnehmer an öffentlichen Angelegenheiten. Die politische Aufgabe der Grünen ist es, auf demokratischem Wege (positive Freiheit) die negative Freiheit auf ein (umwelt-)verträgliches Maß zu begrenzen, und dabei gleichzeitig das größtmögliche Minimum an persönlichem Freiraum zu erhalten. Angesichts der gestellten Überlebensfrage können sie nur so Handlungsspielräume erhalten und erweitern, von denen wiederum die Möglichkeit positiver Freiheit (Demokratie) selber abhängt. Aus der Perspektive der Freiheit stehen sie politisch vor einem doppelten Paradox, auf das sie politisch »Trotzdem« antworten:

Die Grünen beschränken die negative Freiheit in ihrem und im Interesse anderer Werte, und verzichten trotzdem nicht auf ein größtmögliches Minimum an persönlichem Freiraum. Ein Freiraum, den die Umwelt verträgt, also der zum Beispiel CO2-neutral ist.

Das Paradox der positiven Freiheit in dieser Republik besteht darin, dass sie einerseits durch die Wende von 1989 mehr Demokratie erhalten hat, andererseits nun gerade in Freiheit einen Bedeutungsverlust nicht nur, aber gerade auch im Osten seit der friedlichen Revolution von 1989 erlebt hat.

Worin liegt unser Handlungsoptimismus dann begründet? Antwort: Wir können dem ersten Paradox der Freiheit nicht konstruktiv begegnen, ohne auf das zweite Paradox damit zu antworten, trotzdem nicht darauf zu verzichten, politisch zu sein. Beide Arten der Freiheiten prallen untereinander als auch mit anderen absoluten Werten (wie Gerechtigkeit, Gleichheit oder Sicherheit) letztlich unversöhnlich aufeinander. Dass gerade darin der Grund für das Primat der Freiheit liegt, hat Isaiah Berlin wie folgt beschrieben: Gerade »weil Ziele eben kollidieren, weil man nicht alles haben kann«,(12) bestehe in der »Notwendigkeit zwischen absoluten Ansprüchen zu wählen, ... eine unausweichliche Eigentümlichkeit des menschlichen Daseins. Das verleiht der Freiheit, ... ihren Wert, sie ist Selbstzweck, nicht zeitweiliges Bedürfnis.«(13)

Die Notwendigkeit der (Wahl-)Freiheit sei gebunden an den Zwang zum Verzicht. »Dass wir nicht alles haben können, ist eine notwendige, keine kontingente Wahrheit.«(14) Wenn also überhaupt eine Notwendigkeit, dann die Notwendigkeit der Freiheit. Sie beinhaltet auch die Notwendigkeit der Freiheit zum Freiheitsverzicht, die immer wieder neu definiert werden muss. Von den Grünen in erster Linie anhand der Ökologie. Sie ist elementarer Bestandteil einer zivilen Praxis der Freiheit, die sich selbst beschränkt, um sich nicht selbst zu zerstören. Freiheit trotz und wegen Nachhaltigkeit heißt dann die (paradoxe) Formel des Politischen aus grüner Perspektive.

Parteinahme für wen?

Die ökologische Frage als Überlebensfrage betrifft jeden, auch die noch nicht Geborenen. Das Politische der Grünen nimmt Partei für alle. Ausgeschlossen davon sind nur jene, die Gewalt dazu einsetzen, die Legitimation des Politischen selbst – und damit auch die Möglichkeit grüner Politik – in Frage zu stellen.

Fritz Kuhn fasste in seiner Rede auf dem grünen Zukunftskongress im Herbst 2006 zusammen: »Wir produzieren falsch, wir bauen falsch, und wohnen falsch, wir bewegen uns falsch, und wir ernähren uns falsch.« Stellt sich die Frage: Gibt es eine richtige Politik im falschen Leben?

Allein die Tatsache, dass Grüne eine solche Politik wollen, ist politisch paradox. Denn wenn die Grünen tendenziell aus der gebildeten und gut verdienenden Mittelschicht kommen, sind genau sie die Profiteure von all dem, was falsch läuft. Oder anders gesagt, sie machen mehr falsch als andere. Sie sind die Produzenten, sie bauen, sie wohnen (großzügig), sie sind die Mobilen und sie konsumieren im Überfluss. Alles in allem womöglich einen Tick umweltbewusster, aber macht das schon den Unterschied?

Selbst wenn die Grünen wollen, stellt sich noch die Frage, ob sie eine solche Politik auch können. Die rot-grüne Bundesregierung hat die von Kuhn aufgezählten falschen Entwicklungstendenzen nicht umkehren, bestenfalls mildern können. Innenpolitisch war Rot-Grün mehr Episode denn Epoche. Außenpolitisch gilt eher das Gegenteil.

Wenn die Grünen es ernst meinen mit der Formel: »Gleiche Freiheit für alle«,(15) dann hätte das zur politischen Konsequenz, dass jene, die besonders stark in den Genuss von (negativer) Freiheit kommen – so wie der grüne Durchschnitt – auf mehr zu verzichten hätten als andere, die weniger persönlichen Freiraum im Sinne von Produktions-, Wohn-, Bau-, Mobilitäts- und Konsumoptionen haben.

Vor diese Herausforderung gestellt, eröffnet sich das von »Realismus und Substanz« angesprochene »Potenzial für eine solidarische Politik«.(16) Schöpfen die Grünen dieses Potenzial aus? Oder liegt womöglich gerade in dem Widerspruch zwischen eigenem Lebensstandard und umweltverträglichem Lebensstandard ein Grund für die von Franz Walter diagnostizierte Passivität vieler Anhänger der Grünen, die zwar grün wählen, aber nicht mitmachen, und für die von Cohn-Bendit kritisierte Angst der Grünen vor der Auseinandersetzung?(17)

Wie sind Solidarität, Gerechtigkeit und eine möglichst gleiche, größtmögliche persönliche Freiheit für jeden in Freiheit, unter umweltverträglichen Bedingungen gleichzeitig im Spiel zu halten? Den Krieg eines jeden gegen die Umwelt können die Menschen nur gemeinsam beenden, wenn sie in einer Ergänzung des Gesellschaftsvertrages die Freiheit zum Freiheitsverzicht auf fast alles so rechtfertigen, dass ihr möglichst viele, potenziell jeder, auch die Ungeborenen, zustimmen können, weil sie Bedingungen beschreibt, die jeder für gerecht hält und die jeden in die Lage versetzt, den Versuch einer Balance zwischen der Notwendigkeit der Freiheit und der Notwendigkeit der Freiheit zum Freiheitsverzicht wertzuschätzen.

Die Frage nach den Bedingungen des Überlebens in Freiheit hält aus meiner Sicht die verschiedenen Gerechtigkeitsdimensionen im Kern zusammen.(18) So enthält das Politische der Grünen in Ergänzung des Gesellschaftsvertrages auch einen Generationenvertrag, dem die zukünftigen Generationen heute zustimmen könnten, da es zukünftiger Maßstab unserer persönlichen Freiheit ist, sie nicht auf Kosten kommender Generationen zu erweitern.

Die soziale Komponente (Verteilungsgerechtigkeit) dieser Bedingungen ist ein besonders schwer wiegendes Problem, denn auf die Frage, ob es eine sozialere Frage gebe als die des Überlebens,(19) lässt sich aus der Perspektive des Politischen, erst recht des grünen Politischen, nur antworten: Nein, das ist ja gerade das Problem.

Die Überlebensfrage ist die Bedrohung des Politischen, weshalb der Kern des grünen Politischen darauf abzielt, dass sich diese Frage möglichst gar nicht oder zumindest immer weniger stellt. »Wie alle einschränken, ohne manche auszuschließen«,(20) lautet die soziale Frage der Nachhaltigkeit. Soziale Gerechtigkeit ist dann aus der Perspektive des Politischen der Grünen kein Wert an sich, sondern eine zu spezifizierende Bedingung für den Erhalt des Politischen.

Parteinahme von wo aus?

Was bleibt vom Politischen, wenn wir als Gesellschaft der von uns geschaffenen Gefahren nicht Herr werden und in Gestalt des Staates und in Gestalt des Marktes im Sinne des grünen Politischen versagen? Was bleibt (wenn etwas bleibt), sind die Bedingungen des Politischen, die im Zweifel ohne Staat und ohne Markt überlebensfähig sind. Der politische Kern der Gesellschaft ohne Staatsgesellschaft und ohne Marktgesellschaft fragt nach dem Bürger und der demokratisch verfassten Bürgergesellschaft und ihrer politischen Stärke. Jeder will stark sein: Staat, Markt, Bürger. Doch auf der Suche nach einer Anordnung, die Orientierung schafft, geht es auch um Prioritäten. Das grüne Politische setzt sie: Zuerst starke Bürger. Sind sie stark genug, können sie (potenziell) das Politische selbst dann erhalten, wenn Staat und Markt versagen (zu schwach sind). Dagegen entwickeln sich ein starker Staat und ein starker Markt ohne starke Bürger unweigerlich in Richtungen, die wir Grüne politisch nicht wollen.

Hat das Politische der Bürgerschaft einen festen Ort? Eher nicht, aber es kann an vielen Plätzen verortet werden, ist also erweiterungsfähig. Der Blick des Bürgers richtet sich heute auf mehrere Ebenen, von denen ich die Stadt herausstellen möchte. Die Renaissance der Städte ging in den freiheitlichen Revolutionen von 1989 einher mit einer Renaissance des Politischen, das auf den Plätzen mitten in den Städten greifbar wurde.

Grüne im dicht besiedelten Deutschland sind heute in der Mehrzahl Bürger einer Stadtregion. Statt in der Produktion sind die meisten Grünen im Dienstleistungssektor tätig, selbstständig oder häufig im öffentlichen Dienst (Lehrer, Akademiker, Verwaltung, Parteifunktion). Gerade in den Dienstleistungszentren der Wissensgesellschaft, den Universitätsstädten und Großstädten, wachsen grüne Bürgermilieus. Die Zahl der Städte wächst, in denen die Machtfrage nicht mehr ohne die Grünen gestellt werden kann.

Natürlich birgt die bürgerliche Etablierung immer das Risiko in sich, einem »staatstragenden Mainstream«(21) zu erliegen, statt mit Leidenschaft den einen Schritt voraus zu denken, der die Dynamik des Städtischen begründet und das zukünftige Stadt-Bild formt. Die Qual der Konkretisierung ist auf kommunaler Ebene besonders erforderlich und besonders anschaulich. Sie ergänzt sich mit einer neuen Grundsätzlichkeit, die damit beginnt, grundsätzlich die kommunale Ebene politisch wichtiger zu nehmen, wodurch sie es auch werden wird.

Das Politikfeld Stadt-Politik ist das Politikfeld der Zukunft. Die Städte sind Orte des Paradoxen, in denen sich die erwarteten Möglichkeiten und die angetroffenen Realitäten ihrer Bewohner oft widersprechen. Das erlebbare Paradox macht die Städte zu Orten des Politischen, in denen trotz der vorgefundenen Realitäten der Sinn für andere Möglichkeiten entstehen kann. Eine große Zahl globaler Herausforderungen sind Themen der Städte, etwa der Treibhauseffekt. Es wäre Aufgabe einer expliziten grünen »Groß-Städte-Politik«, sowohl vor Ort in den Städten als auch auf den übergeordneten politischen Ebenen, die Formel des grünen Politischen – Freiheit trotz und wegen Nachhaltigkeit – anhand spezifischer Groß-Stadt-Politiken zu konkretisieren. Vorbilder gibt es bereits. Aber der Weg von »Best Practice« zu »Common Practice« ist noch weit.

Politische Urbanität in der demokratischen Stadt kann regionalen Stadtbürgerschaften den Handlungsspielraum ermöglichen, der notwendig ist, um die von den Stadtgesellschaften gelebte Urbanität zu zivilisieren, indem sie ihre eigenen negativen Freiheiten so weit beschränken wie nötig und ihre politischen Freiheiten so weit erweitern wie möglich. Ein größtmögliches Minimum an persönlicher Freiheit bleibt jedoch unverzichtbar für ein gutes Leben, obwohl Einschränkungen in materieller Hinsicht ihm nicht unbedingt widersprechen, denn es gibt gute Gründe, »Glück und Nachhaltigkeit zusammen zu denken«.(22)

Vom Playback zum Payback

Die normative Perspektive des Ökologischen(23) lenkt die Grünen auf das Politische, das sie gleichzeitig befremdet. Playback ist das Signum einer Generation, die gegenüber ihrem eigenen Tun immer in gewisser Distanz steht. Wir sind nie ganz wir. Befremdet sind jüngere Grüne auch von der Politik der Älteren, der bisherigen Politik, weil sie genau diese Befremdung gegenüber dem Politischen politisch bisher nicht auf einen Begriff bringen konnte.

Die Einnahme einer eigenen grundsätzlichen programmatischen Haltung lässt erkennen, worauf Grüne heute politisch nicht verzichten können, wodurch auch deutlicher wird, was sie politisch alles in Frage stellen können. Das, worauf sie nicht verzichten können, ist der eigentliche Grund für sie politisch zu sein und der Kern des Politischen aus ihrer grünen Perspektive. Um ihm begrifflich habhaft zu werden, bedarf es auch eines Wandels der politischen Sprache, indem sie schräg zu den Texten und Melodien der unpolitischen Talk-Shows einen neuen Ton in das Spiel des Politischen einbringen.

Das Unbehagen in ihrem grünen modernen Leben speiste sich immer aus dem unbestimmten Gefühl, auf Kosten der Umwelt und den Freiheitsoptionen anderer und zukünftiger Generationen zu leben. Wenn es eine gemeinsame Identität von jüngeren Grünen gibt, dann diese, das Unbehagen über ihr generationsspezifisches Schicksal im Sinne des Unausweichlichen eines unabänderlichen Verlaufs durch gemeinsames Handeln als Gemeinsamkeit des Geschicks politisch neu zu bestimmen. Voraussetzung dessen ist, »das, was wir gewohnt sind, als Gegensätze und Sich-Widersprechendes zu verstehen, wieder zusammenzudenken«.(24) Mit der Übung im politischen Denken beginnt grüne Pflicht, etwas auf das Konto zukünftiger Generationen zurückzuzahlen, von dem heutige Generationen sich so schamlos bedienen. Womöglich ist es der einzige Bonus auf unserer Payback-Card, der später politisch eingelöst werden kann.

Wer sind die Neuen? Zunächst zählt der Satz: »Es gibt keine alten oder jungen Spieler, es gibt nur gute oder schlechte.« Die Jüngeren sind die nach 1968 Geborenen. 1968 ff. Generationenbegriffe entstehen meist erst retrospektiv. Junge grüne Zukunft ist also offen. Uns als politische Generation zu verstehen, wäre paradox, eint uns doch der Horror vor Kollektivierung, was aber gerade aus Sicht des grünen Politischen nicht unpolitisch sein muss. Gemeinsam haben wir vieles, ob wir wollen oder nicht.

Unseren politischen Taufspruch verfasste 1972 der »Club of Rome« und sprach von den »Grenzen des Wachstums«. Unser Geburtstagsgeschenk zur Volljährigkeit war eine Revolution. Mit ihr hatten wir mehr Glück als Verstand, denn sie war friedlich und erst durch sie können wir nun unseren Taufspruch mit eigenem Leben erfüllen, denn nur in Freiheit haben wir auch die Freiheit zum Freiheitsverzicht: 1989 ff. Spätestens mit der Geburt unserer eigenen Kinder endet unser politisches Kinderspiel. Nach den einstürzenden Neubauten in New York und Schwedt/Oder sind jetzt wir »dran«. Noch rollt die Kugel, aber es gibt keine Freispiele mehr.

1

Alexander Schuller: »Das Chaos kommt immer wieder zurück«, in: FAS, 23.7.06.

2

Vgl. »Warum sind die Grünen so ängstlich und sprachlos?«, Interview mit Daniel Cohn-Bendit und Franz Walter, in: taz, 10./11.2.07.

3

Vgl. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band: »Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung«, München 2002, S. 654.

4

Vgl. »Grüne Paradoxien. Diagnose und Orientierung auf unwegsamem Terrain«, in: Realismus und Substanz, Grüne wohin? Interventionen zur Zukunft grüner Politik, September 2006, www.realismus-und-substanz.de/rus/texte.htm, S. 13–19.

5

Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Anhang, 21 Punkte zu den Physikern, daraus Punkt 9 bis 11, Zürich.

6

Ebd., S. 83.

7

Vgl. ebd., S. 84.

8

»Zwischen den Orten. Vom Nebeneinanderstellen und Anordnen grüner Politik«, in: Realismus und Substanz, a. a. O., S. 24.

9

Andreas Zielcke: »Vermeidbare Apokalypse«, in: SZ, 24.2.07.

10

Ebd.

11

Isaiah Berlin: Freiheit, Frankfurt am Main 1995, S. 42.

12

Ebd., S. 53.

13

Ebd., S. 252.

14

Ebd., S. 253.

15

»Zwischen den Orten«, in: Realismus und Substanz, a. a. O., S. 30.

16

»Grüne Paradoxien. Diagnose und Orientierung auf unwegsamem Terrain«, in: Realismus und Substanz, a. a. O., S. 17.

17

Vgl. taz (FN 2).

18

Vgl. »Realismus und Substanz. Die neue soziale Frage beantworten. Ein Sozialstaatsmodell für das Globalisierungszeitalter«, Positionspapier, Juli 2005, S. 16.

19,

Vgl. »Realismus und Substanz – Call for Papers ›Grüne Paradoxien‹, Antwort auf Frage 1 von Sebastian Basedow und Anna Lührmann«, in: Realismus und Substanz, a. a. O., S. 90 u. S. 112.

20

Ebd, S. 102 (David Fiedler).

21

Vgl. Reinhard Loske u. a.: »Für einen neuen Realismus in der Ökologiepolitik«, www.boris-palmer.de/Dokumente/Debatte/Neuer%20Realismus_Endfassung.pdf, S. 3.

22

Fred Luks: »Das Glück der Nachhaltigkeit und die Nachhaltigkeit des Glücks«, in: GAIA 15/4 (2006), S. 250.

23

»Grüne Paradoxien«, in: Realismus und Substanz, a. a. O., S. 15.

24

Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1965, S. 288.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2007