Tim Engartner

Schöne neue Welt der Deutschen Bahn

Vom nationalen Schienenunternehmen zum Weltkonzern

Die seit eineinhalb Jahrzehnten zu beobachtende Abwärtsentwicklung des verkehrspolitischen Hoffnungsträgers Schiene setzt sich fort, sodass Bahnreisende zwischen Flensburg und Passau immer häufiger das Nachsehen haben: Stilllegung von Strecken in peripheren Bedienungsgebieten, Ausdünnung der Fahrtakte, Konzentration auf den ICE-Hochgeschwindigkeitsverkehr – die DB AG lässt die margenschwachen heimischen Schienen hinter sich, während sie zur selben Zeit im Ausland zu profitableren neuen Ufern aufbricht.

Bahnchef Hartmut Mehdorn, dessen Schreibtisch Bulle und Bär als Symbol für die Börse zieren, kommt der Vision seines Amtsvorgängers Heinz Dürr stetig näher: dem Wandel von einem nationalen Schienenverkehrsunternehmen zu einem global agierenden Mobilitäts- und Logistikkonzern, zu dem mittlerweile 525 Gesellschaften in 152 Staaten zählen. »Die Welt des DB-Konzerns wird von Jahr zu Jahr größer – und sie dreht sich auch schneller«, heißt es zutreffend in der Imagebroschüre Menschen bewegen – Welten verbinden, die derzeit in vielen ICE-Zügen ausliegt.(1)

Dass die Deutsche Bahn (DB) AG ihre Zukunft nicht mehr im Schienenverkehr zwischen Delmenhorst, Dinslaken und Düren, sondern auf dem weltweit boomenden Logistikmarkt zwischen Dallas, Delhi und Den Haag sieht, lässt sich auch am neuen Schriftzug unterhalb des DB-Labels erkennen: »Mobility Networks Logistics« steht nun selbst auf den Fahrscheinen. Dieser erweiterte Unternehmensname dokumentiert für jedermann sichtbar die strategische Neuausrichtung der einstigen Bundesbahn – und den schleichenden Bedeutungsverlust des heimischen Schienenverkehrs, der in den Bilanzen eine immer geringere Rolle spielt. Mehr als 60 Prozent ihres Umsatzes erwirtschaftete die DB im abgelaufenen Geschäftsjahr mit bahnfremden Dienstleistungen. Schenker, Bax Global, Joyau, Hangartner, Startrans, EWS, Transfesa, Panbus – die DB AG tätigte insbesondere in den letzten vier Jahren zahlreiche Zukäufe: Straßenspediteure im In- und Ausland, britische und französische Güterbahnen, einen US-amerikanischen Luft- und Seefrachtspezialisten, eine dänische Busfirma und zuletzt den englischen Regionalzugbetreiber Chiltern Railways.(2)

Weltweite Zukäufe im Logistiksektor

In dieses Bild fügen sich die jüngsten Reiseziele des Vorstandsvorsitzenden der DB AG. Unlängst schwärmte Hartmut Mehdorn als Mitglied der Wirtschaftsdelegation von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Garten des Taj Mahal Hotels von den Bahnhöfen in Agra und Jaipur, die nach dem Vorbild des Berliner Hauptbahnhofs umgebaut werden sollen. »Durchweg begeistert von der deutschen Bahnhofskultur« seien die Vertreter der indischen Staatsbahnen nach dem Besuch des monumentalen Baus am Spreeufer gewesen, so der Bahnchef.

Auch in den arabischen Raum zieht es den DB-Vorstand – nicht nur weil dort potenzielle Großinvestoren für die (Teil-)Veräußerung des letzten großen deutschen Staatskonzerns umworben werden sollen. In Saudi-Arabien bemüht sich die DB AG derzeit um den Zuschlag für den Betrieb von Güterverkehrs- und Hochgeschwindigkeitszügen sowie eines Frachtumschlagplatzes in der Retortenstadt King Abdullah Economic City. »Die Region boomt, sie besitzt damit für die DB ein erhebliches ökonomisches Potenzial«, erklärte ein führender Bahn-Manager.(3) Als wichtigstes Infrastrukturvorhaben stellten die Saudis der deutschen Delegation das Projekt »Landbridge« vor. Dabei geht es um den Ausbau der Schienenwege vom Roten Meer bis zum Persischen Golf. Der Betrieb des dann hochmodernen Gleisnetzes für Fracht- und Personenzüge soll dem Gewinner der Ausschreibung für 50 Jahre überlassen werden – ein wahrlich lukratives Engagement.

In unmittelbarer Nähe des Flughafens Peking kündet ein hochmoderner mehrstöckiger Bau vom Aufbruch der DB AG zu neuen Ufern: »Schenker-Stinnes Logistics« prangt in großen Lettern auf den mächtigen Außenwänden des Gebäudes. Hier eröffnete die Logistik-Tochter der DB AG vor knapp drei Jahren ihre China-Zentrale mit mehr als 16.000 Quadratmetern Lager- und Bürofläche. Ins Reich der Mitte zieht es die DB AG, weil sie dort den größten Wachstumsschub im Gütertransport erwartet. Allein die chinesische Schenker-Tochter, die mit knapp 1,4 Milliarden Euro etwa ein Zehntel zum Gesamtumsatz der Bahntochter beiträgt, soll nach dem Willen des Vorstands um 20 Prozent pro Jahr wachsen. Mit der Übernahme der US-Spedition Bax Global Inc. im November 2005 hat sich die Zahl der Schenker-Niederlassungen in China auf siebzig verdoppelt, was angesichts eines in den letzten vier Jahren in der Region »Asia Pacific« um 190 Prozent gestiegenen Umsatzes weiteres Wachstum verspricht.(4) Man wolle weiter an einem »unverändert dynamischen Markt« partizipieren, »vor allem in den Bereichen Textil, Schuhe, Möbel, aber auch im Hightech-Segment«, so Andreas Becker, Chef der Schenker-China-Organisation. Bei den diesjährigen Olympischen Sommerspielen wird die DB-Tochter als offizieller Dienstleister für Spedition und Zollabfertigung in China tätig sein. Die Bahn kommt – zwar nicht auf der heimischen Schiene, dafür aber per Flieger, LKW und Schiff im fernen Asien.

Ein frühes Zeichen für die von der Bahnführung vorangebrachte Erschließung neuer Transport- und Logistikmärkte ist die Übernahme der Stinnes AG mitsamt ihren mehr als tausend Standorten. Die 2,5 Milliarden Euro teure Akquisition des in Mülheim an der Ruhr ansässigen Spediteurs ließ die DB im Juli 2002 zum größten Straßenspediteur Europas aufsteigen. So entwickelte sich die Stinnes AG, unter deren Dach die Railion Deutschland AG (ehemals DB Cargo) und Schenker zusammengeführt wurden, mit mehr als 65.000 Mitarbeitern und einem zweistelligen Milliardenumsatz zur wichtigsten Ertragssäule des Unternehmens. 1991 von der Deutschen Bundesbahn verkauft, erwirtschaftet Schenker nun einen doppelt so hohen Umsatz wie die Schienengüterverkehrssparte Railion, indem sie unter anderem Transportleistungen von der birmesischen Hauptstadt Pyinmana bis zum finnischen Fährhafen Turku erbringt.

Nahtlos fügt sich der 1,1 Milliarden US-Dollar teure Kauf des US-amerikanischen Logistikkonzerns Bax Global Inc. in die Strategie der DB AG, weitere Akquisitionen auf dem Gebiet der luftfahrt- und straßengebundenen Logistikdienstleistungen zu tätigen.(5) Der Aufstieg zum weltweit zweitgrößten Luftfrachttransporteur sowie zu einem der drei umsatzstärksten Akteure im nordamerikanischen Stückgutgeschäft wurde durch Kredite und den Verkauf profitabler DB-Tochterfirmen wie der Deutschen Eisenbahnreklame (DER) und der Deutschen Touring GmbH finanziert.(6) Bedeutsam ist diese transnationale Akquisition, weil sie erstmalig erkennen ließ, dass die horizontale Geschäftsfelderweiterung von der mächtigen Bahngewerkschaft Transnet nicht nur geduldet, sondern von ihrem ehemaligen Vorsitzenden Norbert Hansen, der nun als Arbeitsdirektor in Diensten der DB AG steht, ausdrücklich begrüßt wurde. Mit den Stimmen der Belegschafts- und Gewerkschaftsvertreter billigte der DB-Aufsichtsrat im Dezember 2005 die intern zunächst ausgesprochen umstrittene Transaktion.

Erfolgreich suchte der Bahnvorstand den Schulterschluss mit den Gewerkschaften auch, als über die Verlagerung der Konzernzentrale in die Freie und Hansestadt Hamburg diskutiert wurde. Vordergründig wurde die Ankündigung als Reaktion auf die von der Bundesregierung seit langem intendierte, aber im Frühjahr 2006 erstmals entschlossen vorgetragene Kürzung der Regionalisierungsmittel gedeutet. Hintergrund dieses »Schachzugs« war jedoch schon damals das unternehmerische Ziel, die Hafenbetreibergesellschaft HHLA zu erwerben und damit zur weltweiten Nummer eins im Seeverkehr aufzusteigen. Derweil reichen die Ambitionen des Konzerns über den Land- und Seeverkehr hinaus. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zitierte den gelernten Luftfahrtingenieur Mehdorn mit den Worten: »Ich kann mir gut vorstellen, dass wir in 30 Jahren auch Flugzeuge betreiben.«(7) Schon jetzt verkauft die DB AG Flugtickets und ist als Airline vom internationalen Luftfahrtverband IATA zugelassen. Daher rührte ihr Interesse am Flughafen Berlin-Tempelhof, der nach dem erfolglosen Volksentscheid vom 27. April nun wohl endgültig geschlossen werden wird.

Haltepunkt der DB AG: »Wembley Stadium«

Bei der Akquisition von Bahnunternehmen ist das »Unternehmen Zukunft« (Eigenwerbung) nicht nur auf dem europäischen Festland aktiv. Zu Jahresbeginn erwarb die DB AG Laing Rail Ltd., sodass Großbritannien zum größten Auslandsmarkt des einstigen »National Carrier« aufstieg. Nun ist die DB AG aber nicht nur 50-prozentiger Anteilseigner der Tochtergesellschaften Wrexham, Shropshire and Marylebone Railways (WSMR) und London Overground Railways Operations Ltd. (LOROL). Sie darf nun auch den bei Branchenkennern als »Perle« geltenden Bahnbetreiber Chiltern Railways ihr eigen nennen. Das Unternehmen, das im vergangenen Jahr mehr als 17 Millionen Fahrgäste beförderte und aufgrund der herausragenden Kundenzufriedenheit zum »Passenger Operator of the Year« gekürt wurde, betreibt exklusiv den Londoner Bahnhof Marylebone, um von dort die Strecke in Richtung Birmingham zu befahren.(8) Somit wird nun auch die berühmte Station »Wembley Stadium« von der DB-Tochter angefahren.

Hinter der 170 Millionen Euro teuren Akquisition von Laing Rail verbirgt sich ein doppelter Schachzug: Einerseits kann die DB AG mit dieser ausländischen Großakquisition ihre im Inland stagnierende Personenverkehrssparte ausbauen; andererseits soll Laing Rail mit der größten britischen Güterverkehrsbahn, der English Welsh and Scottish Railway (EWS), verschmelzen, die die DB AG im Sommer 2006 für rund 460 Millionen Euro erworben hat. Ob sich die erhofften Synergieeffekte realisieren lassen, bleibt abzuwarten. In jedem Fall soll Laing Rail als Plattform für weitere Zukäufe jenseits des Ärmelkanals fungieren. Im Laufe des Jahres soll sich der Intermodalverkehr durch den Kanaltunnel verdreifachen; schon jetzt bestehen im Kombinierten Verkehr Direktverbindungen zwischen dem englischen Industriestandort Daventry und Brüssel sowie Manchester und Duisburg sowie Mailand.(9)

Zwar lässt es sich angesichts eines prognostizierten jährlichen Anstiegs des Güterverkehrsaufkommens um 2,8 Prozent bis 2015 als Wettbewerbsvorteil deuten, dass die DB AG nun dank zahlreicher Zukäufe über ein integriertes Vertriebsnetz verfügt, das den Kunden eine verkehrsträgerübergreifende Transportkette bietet.(10) Gleichwohl stellen sich die Geschäftserfolge bislang nicht zugunsten des traditionellen Kerngeschäfts ein, wie der verkehrspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Horst Friedrich, vor dem Hintergrund der Bilanzkennzahlenentwicklung konstatiert: »Im Kerngeschäft Schienenverkehr liegt die Bahn auf dem Ergebnisniveau von vor zehn Jahren. Geld verdient sie nur im zugekauften Logistikbereich und im hoch bezuschussten Nahverkehr.«(11)

Auch Wilhelm Pällmann, der bis Anfang der Neunzigerjahre als Vorstandsmitglied der DB wirkte, kritisiert in regelmäßigen Abständen »die Entwicklung der DB AG zum weltweit operierenden Global Player mit Tochtergesellschaften in aller Welt«.(12) Gerechtfertigt scheint diese Kritik, weil sich das Unternehmen »mit der Bonität der Bundesrepublik Deutschland im Rücken … einen weltweit operierenden Logistikdienstleister zusammengekauft«(13) hat, sodass Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn, anmerkt: »Ich habe ein Problem damit, dass nationale Champions staatliches Spielgeld bekommen, um im Ausland teuer zuzukaufen.«(14) Schließlich lässt die erwähnte Bilanzentwicklung der DB AG erkennen, dass die strategische Neuausrichtung nicht nur als Triebfeder für eine Abkehr vom einstigen Kerngeschäftsfeld Schienenverkehr wirkt, sondern zugleich die negative Bilanz des schienengebundenen Transports innerhalb des Konzerns verschleiert.

Schulden, Marktanteilsverluste und Expansionsbestrebungen

Von der weiteren Liberalisierung des europäischen Schienenverkehrsmarktes zum 1. Januar 2010 will der zweitgrößte Logistikkonzern der Welt abermals profitieren. Weitere Zukäufe werden von der Unternehmensführung zur Überlebensfrage hochstilisiert: »Bisher beherrschen die größten acht Logistiker nur acht Prozent des Weltmarkts«, mahnt Mehdorn, »die große Konzentration auf wenige Anbieter wird kommen.«(15) »Gut verankert im Heimatmarkt Deutschland und mit starken Armen auf den wichtigen drei Kontinenten«, so stellt sich der Bahnchef die Zukunft vor – und blendet dabei ein zentrales Problem aus: Eine solche Strategie kostet sehr viel Geld, das die Bahn derzeit (noch) nicht hat. Schon jetzt beläuft sich der Nettoschuldenstand des Unternehmens auf mehr als 30 Milliarden Euro, obwohl es 1994 mit der Eintragung in das Handelsregister der Stadt Berlin vollständig entschuldet worden war.(16)

Um im internationalen »Logistikmonopoly« mitspielen und sich potenziellen Investoren als möglichst wertvolle »Braut« anpreisen zu können, benötigt die DB AG dringend Geld, weshalb sie derzeit im Einvernehmen mit dem Bund als alleinigem Anteilseigner »ihr« Anlagevermögen veräußert. Weitere fünf bis acht Milliarden Euro sollen durch den für dieses Jahr geplanten Börsengang in ihre klammen Kassen gespült werden. Außer Acht gelassen werden mit der mehrmals aufgeschobenen, nunmehr für die zweite Jahreshälfte avisierten Kapitalprivatisierung der DB AG zahlreiche Besonderheiten des Bahnwesens, vor allem in Gestalt so genannter säkularer Investitionen: Der Bahnsektor zeichnet sich durch hohe Fixkosten und einen immensen Bedarf an sehr langfristigen Investitionen aus. Dieser generationenübergreifende Zeithorizont steht in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zu den kurzfristigen Rentabilitätsinteressen börsennotierter Unternehmen, deren Erfolg sich nach dem Willen der Anteilseigner nicht erst in einigen Jahren, sondern nach Möglichkeit bereits in den nächsten Quartalszahlen niederschlagen soll.

Der Grund für die vom Schienenverkehr losgelösten Expansionsbestrebungen liegt auf der Hand. Wie im Personenverkehr hat die DB AG in den vergangenen Jahren auch im schienengebundenen Güterverkehr trotz der zum 1. Januar 2005 eingeführten Schwerverkehrsabgabe (»LKW-Maut«) Marktanteile verloren. Nur 15,8 Prozent der Güterverkehrsleistungen werden gegenwärtig noch über die Schiene abgewickelt (vgl. Graphik). Kaum zu glauben, dass dies 1950 zwei Drittel waren. Selbst die Deutsche Post AG als langjähriger Großkunde der DB wickelt gemeinsam mit ihrem Frachtdienstleister DHL mittlerweile nahezu den gesamten Transport von Paketen und Briefen über den Straßen- und Luftverkehr ab. Die aus dem bahnhofsnahen Umfeld in die Nähe von Autobahnanschlussstellen verlagerten Postzentren dokumentieren diese Entwicklung eindrucksvoll.

Während DB Schenker mit Aktivitäten im Straßen-, Luft- und Seeverkehr den Umsatz im abgelaufenen Geschäftsjahr um mehr als sechs Prozent auf 14,1 Milliarden Euro steigern konnte, verharrte der unter Railion firmierende Schienengüterverkehr mit 3,9 Milliarden Euro nahezu unverändert auf dem Niveau des Vorjahres. Gleichzeitig wurde die Zahl der industriellen Gleisanschlüsse in den vergangenen 15 Jahren um mehr als zwei Drittel reduziert, obwohl der Düsseldorfer Hafen, der »Rheinbogen Wesseling« bei Köln und der Container-Shuttle-Zug zwischen den Hamburger und Bremer Häfen zeigen, wie mit Gleisen versehene Industriezonen zu einem spürbaren Mehrverkehr auf der Schiene beitragen können.(17)

Rückzug aus dem heimischen Schienenverkehr

Während die DB AG ähnlich wie die Deutsche Post AG auf weltweite »Einkaufstour« gegangen und zu einem Global Player in der Logistikbranche herangewachsen ist, wurde der Wandel von der vielfach zu Unrecht gescholtenen »Behördenbahn« zu einem kundenorientierten Dienstleister im Personenverkehr verfehlt. Die auf zahlreichen Strecken vorgenommene Ausdünnung der Fahrtakte, die Stilllegung ländlicher Trassen, die Abschaffung des InterRegio, das an vielen Stellen marode Schienennetz sowie der geplante Verkauf von zwei Dritteln der Bahnhofsgebäude lassen nicht erwarten, dass die Wünsche der Fahrgäste nach flexibel nutzbaren, preiswerten und pünktlichen Zügen in absehbarer Zeit erfüllt werden.

Während die Mitarbeiterzahl in der Transport- und Logistiksparte kontinuierlich ansteigt, werden im Bereich Personenverkehr immer weniger Menschen beschäftigt. Dies kann angesichts der Konzernstrategie kaum verwundern: Künftig ist bundesweit nur noch in 83 Bahnhöfen der »Kategorien 1 und 2« ein so genannter personenbedienter Service vorgesehen. Dabei bereiten die Fahrkartenautomaten, Telefon-Hotlines und Internet-Buchungsplattformen selbst technisch versierten Zugreisenden häufig Probleme. Und auch der im Rahmen von Sonderaktionen gewählte Vertrieb von Fahrscheinen über Lidl, McDonald’s und Tchibo kann den Schalterverkauf nicht dauerhaft ersetzen – zumal diese Vertriebswege bislang nur höchstens zweimal im Rahmen von Sonderaktionen genutzt wurden und der Beratungsbedarf in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen ist. Auch deshalb haben regionale Bahnbetreiber in Oberschwaben, im Karlsruher Umland und auf Usedom den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, indem sie durch die DB AG geschlossene Bahnhofsgebäude inklusive Fahrkartenschalter saniert sowie neu eröffnet haben – mit größtenteils beachtlichem Erfolg: Allein die Usedomer Bäderbahn konnte ihre Fahrgastzahlen von 1993 bis zum Jahresende 2006 auf 3,4 Millionen Fahrgäste verzwölffachen.(18)

Dünn besiedelte und von Wirtschaftszentren entfernt liegende Gebiete gelten privaten Anbietern wie der DB AG als unattraktiv, da das geringe Nachfragevolumen weder die vornehmlich aus Streckennetzerweiterungen resultierenden, immensen Fix- noch die Gesamtkosten zu decken vermag. Demgegenüber muss den Verkehrsbedürfnissen der Allgemeinheit beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes Rechnung getragen werden, wie Art. 87e Abs. 4 GG zu entnehmen ist: »Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird.«

Angesichts der unzureichenden Netzinstandhaltung – allein in Nordrhein-Westfalen sind rund 2500 Langsamfahrstellen ausgewiesen – drohen strukturschwache Regionen zu einem land of waste zu degenerieren. Schon jetzt zwingt die Kürzung der Regionalisierungsmittel die Landesregierungen und Verkehrsverbünde zu einem »Kahlschlag« im Nahverkehr – trotz gestiegener Mehrwertsteuereinnahmen, die in nahezu allen Bundesländern dazu verwendet werden, die vom Bund reduzierten Mittelzuflüsse wenigstens teilweise aufzufangen. Obschon die Anteile am Schienennetz nach derzeit geltendem Recht mehrheitlich beim Bund verbleiben müssen, droht der Rückzug aus der Fläche – oftmals als »Konzentration auf die betriebswirtschaftlich optimale Netzgröße« euphemistisch verklärt – weiter fortgesetzt zu werden.

Dass der gesamtgesellschaftliche Mehrwert eines funktionierenden Bahnsystems kaum berücksichtigt wird, hat hierzulande Tradition. Schon 1974 hatte sich der damalige Bundesfinanzminister Helmut Schmidt zu der inzwischen legendären Bemerkung verstiegen, dass die Bundesregierung angesichts der kriselnden Konjunktur zu entscheiden habe, ob sie sich eine Bundeswehr oder eine Bundesbahn leisten wolle. Aus derlei Äußerungen erwuchs Anfang der Neunzigerjahre im parlamentarischen Raum die Forderung, aus dem »kränkelnden Dinosaurier im Schuldenmeer«(19) eine Aktiengesellschaft zu formen, deren Management nun endlich den Wandel einleiten sollte: von einer Bundesbehörde, der »Beförderungsfälle« anvertraut werden, zu einem kundenorientierten Dienstleister, der sich seiner Fahrgäste annimmt. Dass dieser Versuch misslang, zeigt eine im April 2003 von der Financial Times Deutschland in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage, die der DB AG in punkto Kundenfreundlichkeit das schlechteste Image unter den 100 umsatzstärksten deutschen Unternehmen attestierte.(20)

In diesem Kontext wird regelmäßig auf das den Kunden zugute kommende, »belebende Element« des Wettbewerbs verwiesen, das unter den gegenwärtigen Bedingungen beschnitten würde: »Der Wettbewerb bleibt auf der Strecke«; »Fairer Wettbewerb käme der Umwelt zugute«; »Ausgebremst. Im Streit um mehr Wettbewerb auf der Schiene ist ein Kompromiss in Sicht«.(21) Dabei wird stets auf den intramodalen Wettbewerb, das heißt die Konkurrenz zwischen den 340 (überwiegend privaten) Bahnbetreibern, Bezug genommen – und verkannt, dass die DB AG schon jetzt einem Qualitäts- und Preiswettbewerb ausgesetzt ist, wie er intensiver kaum sein könnte, nämlich dem intermodalen Wettbewerb. So muss sich die Bahn gegenüber den Konkurrenten im Straßen-, Luft- und Wasserverkehr behaupten, weil nahezu sämtliche ihrer Leistungen über diese Verkehrswege ersetzt werden können. Auch Hartmut Mehdorn räumte unlängst ein, dass der gewünschte Wettbewerb zwischen den verschiedenen Bahngesellschaften unliebsame Ergebnisse zeitigen könne: »Alle Firmen fahren mit den gleichen Zügen auf den gleichen Gleisen zum gleichen Strompreis. Die Züge kommen entweder von Siemens oder von Alstom; deren Preise sind auch bekannt. Eine der wenigen Variablen, die es im Wettbewerb gibt, sind Löhne und Gehälter. Wir sollten uns schämen, wenn es in diesem Land dazu kommt, dass Wettbewerb zu Lasten der Kleinsten und am wenigsten Verdienenden gemacht wird.«(22)

Fehlende Gesamtverkehrskonzeption

Bis heute fehlt es an einer Gesamtverkehrskonzeption, die den Verkehrsträger Schiene aus seinem Nischendasein befreit. Versäumt wurde bislang insbesondere die Neujustierung der Steuer- und Abgabenarchitektur. So wird der Verkehrsträger Flugzeug nach wie vor nicht mit der Kerosinsteuer und somit auch nicht mit der Öko- als Annexsteuer belastet. Verschärft wird die Situation dadurch, dass die Bahn als umweltverträglichstes Verkehrsmittel beim Betrieb auf nicht elektrifizierten Strecken sowohl Mineralöl- als auch Ökosteuer zahlt. Während der grenzüberschreitende Flugverkehr von der Mehrwertsteuer ausgenommen ist, zahlt die Bahn im Nahverkehr den ermäßigten und im Fernverkehr den vollen Satz der Umsatzsteuer von nunmehr 19 Prozent. Wie in anderen Gesellschaftsbereichen lasten die Steuern auch hier auf den falschen Schultern – mit dramatischen Fehlallokationen und negativen Folgen für Mensch und Umwelt.

So werden die externen Kosten, die der Verkehr durch Unfälle, gesundheitliche Beeinträchtigungen infolge von Lärm und Luftverschmutzung sowie den Verbrauch natürlicher Ressourcen verursacht, allein für die Bundesrepublik auf mehr als 130 Milliarden Euro pro Jahr taxiert. Von den knapp 100 Milliarden Euro, die dem Personenverkehr anzulasten sind, entfallen vier Fünftel auf den straßengebundenen Personenverkehr. Die externen Kosten des Flugverkehrs, der weniger als die Hälfte der Verkehrsleistung der Bahn erbringt, sind mit circa 5,3 Milliarden Euro mehr als dreimal so hoch wie die der Bahn.(23) Werden die Staukosten in die Berechnungen der externen Kosten einbezogen, vernichtet der Verkehr – wie im Grünbuch »Towards fair and efficient pricing« nachzulesen ist – innerhalb der EU circa zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wobei 92 Prozent dieser Kosten dem Straßenverkehr zuzurechnen sind.(24) Auch die Bilanz des Flugzeugs fällt ernüchternd aus: Das Emissionsvolumen der Treibhausgase ist rund dreimal höher als bei der Bahn.(25) Mehr noch als für den Straßen- gilt somit für den Luftverkehr, dass die erzeugten Umweltbelastungen durch den Marktpreis nicht gedeckt und unzureichend über Steuern aufgefangen werden.

Neben der Frage der verkehrsträgergerechten fiskalischen Belastung bleiben trotz der intensiven, langen und kontroversen Debatte um die Ausgestaltung der Privatisierung weitere wichtige Fragen unbeantwortet: Wie soll die DB AG ihrer gleich mehrfach im Grundgesetz verankerten Pflicht zur Daseinsvorsorge nachkommen, wenn sie künftig allein marktüblichen Gewinn- und Effizienzkriterien Rechnung tragen soll? Wie soll institutionellen Investoren entgegengetreten werden, die der Unternehmensführung eine konsequente Shareholder-Value-Orientierung aufzwingen? Welche finanziellen Zuwendungen soll die DB AG in Zukunft erhalten, um den – bei betriebswirtschaftlicher Betrachtung – defizitären Verkehr in den peripheren Bedienungsgebieten, sprich: den ländlichen Regionen, zu betreiben?

Denn auch die nun beschlossene (Teil-)Privatisierung trägt den verfassungsrechtlichen Bestimmungen (insbesondere Art. 87 e Abs. 4 und Art. 72 Abs. 2 GG) nicht Rechnung. Einmal mehr wird ignoriert, dass Verkehrsadern die Lebensadern einer Gesellschaft sind, die für niemanden verschlossen sein dürfen. Die derzeitige Entwicklung erweist sich als fatal, weil ein wachsender Personenkreis – man denke an die stetig steigende Zahl Erwerbsloser und älterer Mitmenschen – mangels materieller Ausstattung oder aufgrund fehlender gesundheitlicher Voraussetzungen auf keinen alternativen Verkehrsträger ausweichen kann. Letztlich konkretisiert sich in dem nunmehr für Herbst avisierten Börsengang die Demontage des Sozialstaats. In einem reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland muss der Staat dafür sorgen, dass auch in der Lüneburger Heide, in der Sächsischen Schweiz und im Bayerischen Wald noch Züge verkehren – auf den Markt ist dort kein Verlass.

1

DB AG (2008): Menschen bewegen – Welten verbinden, Berlin.

2

Thomas Wüpper: »Der Konzern lässt die heimischen Schienen weit hinter sich«, in: Stuttgarter Zeitung, 8.11.06.

3

Ulf Brychcy, Claus Hecking »Bahn prüft Einstieg in Saudi-Arabien«, in: Financial Times Deutschland, 19.6.07.

4

Eberhard Krummheuer: »Deutsche Bahn will Börsianer mit China-Plänen begeistern«, in: Handelsblatt, 26.5.08.

5

Hartmut Mehdorn: »Die Deutsche Bahn AG wird zum europäischen Mobilitäts- und Logistikdienstleister«, in: Student Business Review, Heft Sommer, S. 21.

6

Vgl. weiterführend: Tim Engartner (2008): Die Privatisierung der Deutschen Bahn. Über die Implementierung marktorientierter Verkehrspolitik, Wiesbaden, S. 195 ff.

7

Hartmut Mehdorn (2006), »In 30 Jahren kann man vielleicht mit uns fliegen«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.12.06.

8

Peter Kirnich (2008): »Deutsche Bahn fährt durchs Königreich«, in: Berliner Zeitung, 22.1.08

9

DB AG (2008): Menschen bewegen – Welten verbinden, Berlin.

10

DB AG (2004): »Zu Lande, zu Wasser und in der Luft«, in: Welt am Sonntag, 11.1.04, Verlagssonderveröffentlichung.

11

FDP-Bundestagsfraktion (2006): »Bahn wird mit Netz nie börsenfähig«, Pressemitteilung, 31.3.06.

12

Hans-Gerd Öfinger (2005): »Pest oder Cholera? Deutsche Industrie macht Front gegen Mehdorns Weg der Privatisierung«, Berlin.

13

Kerstin Schwenn: »Privatbahnen sind gegen einen Börsengang der Bahn. Netzwerk-Geschäftsführer fordert stattdessen den Verkauf der Logistiksparte«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.12.05.

14

Zitiert nach: Jens Tartler, Claudia Wanner: »Bahn kassiert Schlappe in Netzfrage«, in: Financial Times Deutschland, 11.5.06.

15

Zitiert nach: Thomas Wüpper: »Der Konzern lässt die heimischen Schienen weit hinter sich«, in: Stuttgarter Zeitung, 10.11.06.

16

Karl-Dieter Bodack (2004): »Die deutsche Bahnreform – ein Erfolg?«, in: Eisenbahn-Revue International, Heft 11/2004.

17

Tim Engartner (2008): Tim Engartner (2008): Die Privatisierung der Deutschen Bahn. Über die Implementierung marktorientierter Verkehrspolitik, Wiesbaden, S. 211 f.

18

Dietmar Pühler (2007): »Usedomer Bäderbahn schließt 2006 mit Rekordergebnis ab«, in: Neue Usedomer Nachrichten, 2.1.07.

19

Peter Kirnich: »Die Bahn ist ein Fass ohne Boden«, in: Berliner Zeitung, 6.11.00.

20

Peter Ehrlich: »Inra-Umfrage: BMW hat das beste Image deutscher Großunternehmen«, in: Financial Times Deutschland, 10.4.03.

21

Vgl. Fritz Vorholz (2008), in: Die Zeit, 10.4.08, S. 26; Roland Heinisch (2005): »Fairer Wettbewerb käme der Umwelt zugute«, in: DB mobil, Heft 12, S. 44; Klaus-Peter Schmid: »Ausgebremst. Im Streit um mehr Wettbewerb auf der Schiene ist ein Kompromiss in Sicht«, in: Die Zeit, 10.2.05.

22

Hartmut Mehdorn: »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.6.08.

23

Werner Reh: »Die Bahn muss die Flughäfen entlasten, Gastbeitrag zu der Strategie, Kurzstreckenflüge auf die Schiene zu verlagern«, in: Frankfurter Rundschau, 31.12.03.

24

Zahlen entnommen aus: Peter Krebs (1997): Verkehr wohin? Zwischen Bahn und Autobahn, Zürich, S. 91.

25

Allianz pro Schiene (2003): Umweltschonend mobil: Bahn, Auto, Flugzeug, Schiff im Umweltvergleich, Berlin, S. 9.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2008