Dunja Melcic

Zaghafte Wende, viele Unwägbarkeiten

Serbien nach den Wahlen

 Was hat denn die Einigung der serbischen Demokratischen Partei (DS) mit den »Milosevic-Sozialisten« (NZZ), und damit die neue Koalitionsregierung in Belgrad, möglich gemacht? Für alle sichtbar war Serbiens Präsident Boris Tadic, zugleich Chef der Demokraten, die treibende Kraft der problematischen Regierungsbildung, die sich mit der Bezeichnung »proeuropäisch« schmückt.(1) Es fragt sich aber, was die wundersame Wandlung Tadics aus einem wankelmütigen Biedermann zu einem durchsetzungskräftigen Macher bewirkt hat.

Nahe liegend wäre es, dass Tadic aus seiner Bestätigung als Präsident bei der Präsidentschaftswahl im vorigen Februar neue Selbstsicherheit geschöpft hätte. Allerdings erschien er auch danach als jemand, der Kostunica (DSS) stets nachgibt, obwohl dieser als Koalitionär der DS seinen Partner Tadic nicht nur als Präsidentschaftskandidat nicht unterstützte, sondern sogar ostentativ vor der Wahl verkündete, er wisse gar nicht, ob er wählen gehen würde. In der vorigen Regierung behielt Kostunica den Posten des Ministerpräsidenten, obwohl die DS fast doppelt so viele Mandate gewann wie die DSS. Tadic konnte sich mit seinem Kandidaten nicht durchsetzen; es war ihm lediglich gelungen, mehr Minister in der Regierung zu haben. Es gelang ihm nicht, den Chef des Geheimdienstes, Rade Bulatovic, abzusetzen, obwohl dies im Koalitionsvertrag vorher festgeschrieben wurde. (Bulatovic wurde nach dem Attentat auf Djindjic unter dem Verdacht auf Beihilfe verhaftet, von Kostunica in Schutz genommen und 2004 zum Chef des Nachrichtensicherheitsdiensts ernannt.)

Es gibt – wie auch immer vage – Anzeichen dafür, dass etwas in den wichtigsten Kreisen Serbiens passiert ist. Man könnte vielleicht für den Anfang titeln: »Kostunica hat man fallen lassen!« Die wichtigsten Kreise sind: Erstens die alte Herrenriege der nationalistischen Vordenker, fast alle in der berüchtigten serbischen Akademie, SANU, versammelt; und zweitens, die Geheim- und Sicherheitsdienste (eine Hydra aus vielfältigen Geheimdiensten, die nunmehr unter dem neuen Namen BIA, »Bezbednosno-informativna agencija«, firmiert). Der dritte der einflussreichsten Kreise Serbiens, die Serbische Orthodoxe Kirche (SOK), ähnelt auch einer Geheimorganisation und befindet sich gerade in Machtkämpfen um die Nachfolge des dahinsiechenden Patriarchen Pavle, der allerdings sein Szepter nicht ablegen will. Trotz Turbulenzen ist sich die SOK in einem einig: Sie setzt weiterhin auf Nationalisten, den sich fromm gebenden Kostunica und Seseljs Radikalen, und hält die neuen Koalitionäre für Verräter.

Die erwähnte Akademikerriege ist sozusagen Boris Tadics Zuhause. Sein Vater Ljuba war und ist eine zentrale Figur des nationalistischen postkommunistischen Aufbruchs im Serbien der Achtzigerjahre. Die andere war und ist der Schriftsteller Dobrica Cosic. Die Familien sind seit je befreundet. Ich kann nur mutmaßen, dass Vater Ljuba und Onkel Dobrica zusammen mit einigen anderen wichtigen Figuren aus dieser Clique eine Art Wende vollzogen haben. Von Dobrica Cosic weiß man, dass er trotz seiner porentiefen Imprägnierung durch den ethnizistisch-nationalistischen Geist Anflüge von Realismus hat. Vor Jahren schon (vor allem noch vor dem Kosovo Krieg) war er zur Einsicht gelangt, dass Serbien Kosovo nicht halten können wird. Gleichzeitig hat er immer gepredigt, dass Serbien seinen eigenen Weg gehen soll und sich nicht an der Demokratie westlichen Typs orientieren sollte. Nach dem verlorenen Kosovokrieg (1999), das heißt nachdem Serbien alle »postjugoslawischen Kriege« (Sundhaussen) verloren hatte, elaborierte er eine Vision von Serbien als einer Dorfzivilisation vermeintlicher byzantinischer Prägung. Grosso modo könnte man sagen, dass diese Vision zu Kostunicas Weltbild und Politikverständnis irgendwie passte. Sie passte sicherlich nicht zu Djindjics Vorhaben einer echten Annäherung an Europa. Das »Schicksal der Nation« vor Augen muss der greise Cosic zur Einsicht gelangt sein, dass das Land doch eine europäische Zukunft braucht. Dass diese neue europäische Orientierung keine fundamentale Kehrtwende vom serbischen Sonderweg impliziert, darf man als gewiss voraussetzen.

Vermutlich ist es in der Altherrenriege zu einer Meinungsverschiedenheit gekommen. »Onkel Dobrica« hat es sich anders überlegt, etwa so: Der von Boris Tadic und Kostunica als Doppelspitze repräsentierte Schwebezustand geht nicht mehr.

Möglich ist, dass sich Cosic selbst aktuell gar nicht geäußert hat, sondern ein anderer Kumpel aus derselben Riege. Nämlich Mihajlo Markovic, der als Chefideologe der SPS firmiert. Er und so gut wie der ganze alte Vorstand der Partei (SPS) sprachen sich vehement gegen eine Koalition mit der DS und die Annäherung an proeuropäische Kräfte aus. Die nächste Frage ist: Wer hätte den jungen Sozialistenchef Ivica Dacic (42) überhaupt umstimmen können? Ist es überhaupt vorstellbar, dass der Jungspund, der seit 1992 Posten in der SPS bekleidet, als er von Milosevic zum Parteisprecher gemacht wurde, sich auf eigene Faust der Autorität Markovics und anderer alter Parteigrößen zu widersetzen wagte? Wohl kaum. Dass die andere serbische Autorität dieser Gehorsamsverweigerung und der Annäherung an den demokratischen Erzfeind der Sozialisten Pate stand, erscheint hingegen als wahrscheinlich. Milosevics Nachfolger erzählte, Cosics Romane hätten sein Weltbild entscheidend geprägt, und wies damit zumindest auf seine Hochachtung für den »Vater der Nation« hin, den sein früherer Gebieter wiederum nicht gut riechen konnte. Gemunkelt wurde in Belgrad übrigens schon, dass Cosic und Tadic sen. und weitere bekannte Personen aus Akademiekreisen hinter dem neuen Kurs der serbischen Politik stünden. Dies impliziert folglich eine Spaltung in diesen Kreisen, in denen der Gegenpol um Markovic das proeuropäische Projekt »Hochverrat« nennt.

Aber zunächst sträubte sich auch Sozialistenchef Dacic gegen eine Koalition mit der DS, die unter Zoran Djindjic die hauptsächliche und erfolgreiche Gegnerin Milosevics war. Die SPS, einst heimische Säule in Milosevics Kriegen und Kaderpotenzial der heutigen KP-Nachfolgerin, belegte die Politiker der DS mit Schimpfkanonaden, die wenig inventiv, dafür aber brutal waren: unsere Kerkermeister, unsere Mörder, Mafiosi. Im Weltbild der Sozialisten gelten nämlich Milosevic, zahlreiche serbische Angeklagte in Den Haag – viele davon mittlerweile als Kriegsverbrecher verurteilt – sowie andere in Serbien verurteilte Kriminelle und Mörder mit dem SPS-Pedigree als Opfer Zoran Djindjics und der Demokraten. Allmählich hörten dann die Kanonaden auf, aber Dacic zierte sich weiterhin. Der andere Schandfleck in der Regierung, der Vorsitzende einer kleinen, vom ermordeten Kriegsverbrecher Arkan gegründeten Partei und Verbündeten der SPS, Dragan Markovic Palma, sprach sich immer lauter gegen eine Koalition mit den Radikalen und Kostunicas DSS aus, die zunächst und allzu siegesbewusst mit Dacics Koalition verhandelten. Doch dann schleuste ihn Tadic in den Kongress der europäischen Sozialisten Ende Juni in Athen herein, wo die DS bis dato den Beobachterstatus hatte, während die Sozialisten, die keinerlei internationale Affiliationen haben (bis vielleicht auf Weißrussland), somit zum ersten Mal das internationale Parkett betraten. Die freundliche Hilfe des griechischen Gastgebers soll auch nicht unerwähnt bleiben, aber auch nicht die Empörung unter bosnischen, kroatischen und slowenischen Schwesterparteien.

Das alles kümmert die Freunde des serbischen, vorgeblich europäischen Weges, denn Dacic schien dadurch geknackt, zumindest ansatzweise. Zugleich aber stieg sein Appetit maßlos: Zunächst wollte er gleich den Ministerpräsidentenposten, doch der mittlerweile erheblich gestärkte Tadic wehrte ab. Freilich zum hohen Preis: Für Dacic wurde gleich eine neue Regierungsfunktion erschaffen, die von Verfassungsrechtlern für verfassungswidrig gehalten wird. Nämlich die Position eines Ersten stellvertretenden Regierungschefs mit Befugnissen, die an die des Ministerpräsidenten heranreichen, wobei der serbische Präsident persönlich den blassen Technokraten Mirko Cvetkovic in dieses Amt gegen nicht geringen Widerstand im Vorstand der DS durchboxte. Aber auch wenn diesbezügliche Befürchtungen übertrieben sein mögen, (immerhin: unter den drei weiteren Vize-Ministerpräsidenten befindet sich auch der frühere Wirtschaftsminister Mladjan Dinkic, Chef der Expertenpartei G17 Plus, der über reichlich Erfahrung in der Regierungsarbeit verfügt und durchsetzungsfähig ist), so ist Dacics Amt als Innenminister mit der Zuständigkeit für die Polizei (und Geheimpolizei?) in der neuen Regierung geradezu infam. Eine radikale Reform der Polizei und die gründliche Säuberung ihrer Reihen bis in alle Hinterecken der Geheimpolizei gehören zu den dringlichsten Aufgaben einer demokratischen Regierung Serbiens, weil diese ein Hort der Hinterlassenschaften des Systems Milosevic sind, in dem sich zahlreiche in Kriegs- und andere Verbrechen verwickelte Gestalten tummeln. Wenn man den Bock zum Gärtner macht, soll man von ihm keinerlei echte Ansätze erwarten. Doch ist nunmehr die Auslieferung von Mladic zu einer Bedingung für das Assoziierungsabkommen, also den Einlass in das Vorzimmer der EU, geworden, die nicht mehr ignoriert werden kann. Ob es dazu kommt, dass Dacic als Innenminister Milosevics Sumpf austrocknen und seinen verbrecherischen Feldherrn ausliefern wird müssen, ist noch nicht absehbar. Schritte in dieser Richtung sind bisher allein von der Regierung Djindjic unternommen und bald gestoppt worden. Djindjic bezahlte diesen Vorstoß bekanntlich mit seinem Leben. Der damalige Polizeichef, Goran Petrovic, erzählte kurz und bündig, wie so etwas abläuft: Der Minister gibt den Auftrag, die Polizei ortet den Gesuchten (binnen Tagen), verhaftet ihn, die Behörden liefern ihn aus und fertig. Mit der Verhaftung Mladics jedenfalls steht und fällt das europäische Vorzeichen der neuen Regierung.

In der demokratischen Öffentlichkeit Serbiens ist die Empörung über die Machenschaften bei der Regierungsbildung verständlicherweise gewaltig. Zu allem Überfluss wurde die peinliche Regierungsbildung von einer Idee richtig à la Dobrica Cosic, nämlich über eine (nationale?) Versöhnung zwischen DS und SPS, begleitet. Man muss so vorsichtig formulieren, weil noch nicht klar ist, wie das aussehen soll. Aber die bloße Idee, zusammen mit einer Reihe äußerster Geschmacklosigkeiten, löste Empörung aus: Tadics Vergleich der Trauer, die die Demokraten durch den Verlust des ermordeten Djindjic und die Sozialisten durch den Verlust Milosevics empfinden, die Zuteilung von Djindjics Regierungskabinett ausgerechnet dem Sozialistenchef und vielleicht am erschreckendsten das Schweigen sämtlicher DS-Abgeordneten nach wüsten Beschimpfungen und Verunglimpfungen ihres ehemaligen ermordeten Chefs durch die Radikalen während der ersten Parlamentssitzung.

Für echte Demokraten in Serbien stellt die skizzierte politische Situation ein hartes Dilemma dar. Die kleine Liberaldemokratische Partei (LDP) ist mit 13 Abgeordneten (einem mehr als die SPS) in die neue Versammlung eingezogenen – es gibt doch etwas zu gratulieren! – und fand hier eine pragmatische Antwort. Die einstige wackere Mitstreiterin Djindjics, Vorsitzende des politischen Rates der LDP und Abgeordnete, Vesna Pesic, erklärte dies so: Die LDP wird nicht für, aber auch nicht gegen die neue Regierung stimmen. Sie wird die Regierung in allen proeuropäischen Anstrengungen unterstützen, behält sich aber das Recht auf Kritik vor.

Trotz allen Unwägbarkeiten der politischen Lage nach den vorgezogenen Wahlen im Mai kann man eine Tendenz als positiv hervorheben: Das nationalistische Lager kann auf absehbare Zeit keine Wahlen in Serbien mehr gewinnen. Die DSS und SRS befinden sich auf dem absteigenden Ast und haben alle ihre Themen ausgespielt. Das Gleiche gilt für die SPS, wobei man erwarten kann, dass deren Wähler, erzürnt über Dacics »widernatürliche Ehe mit den Demokraten«, zu den Radikalen abwandern. Zaghaft wendet sich Serbien vom in den Achtzigern eingeschlagenen Weg ab. Es findet ein politischer Generationswechsel statt – mit dem Plazet der greisen nationalistischen Vordenker.

1

DS (Tadic) hatte zu den Wahlen eine Koalition »Für ein europäisches Serbien« von vier Parteien angeführt (G 17, SPO, Liga der Sozialdemokraten Vojvodinas, Demokratische Partei Sandzaks); auch die SPS nahm in einer Koalition aus drei Parteien an den Wahlen teil (Pensionisten und Einheitliches Serbien/ ehemals Arkan/); zusammen mit Vertretern der Minderheiten besteht die Regierung nunmehr aus 11 Parteien.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2008