Balduin Winter

Die neue »neue Weltordnung«

Traumatische Situationen am laufenden Band schildert der Prophet Jeremia im Alten Testament. Atheismus und moralische Verrottetheit der Völker Palästinas bündeln sich mit der Destruktionswut eines Gottes, dessen Gestaltungsfantasie darin besteht, sein auserwähltes Volk bis auf wenige Personen in der babylonischen Gefangenschaft zu vernichten. Über die Völker Ägyptens, Mesopotamiens, der Levante und Persiens trampelt er hinweg, als wären sie Ungeziefer. Die Überlebenden haben dennoch für diesen Berserker-Gott »der Stadt Bestes« zu suchen und, so die theologische Mainstream-Interpretation, die »neue Weltordnung« zu errichten.

Daran knüpfen Mystiker und Fundamentalisten mit Verschwörungs- und »Zehn-Reiche«-Theorien oder der Mär vom fünften apokalyptischen Reiter an. Den Missionsgedanken übernahm auch die Politik im Zuge des Ersten Weltkriegs, als sich die »alte Weltordnung« der europäischen balance of power, das System des Mächtegleichgewichts, für friedliche Regelungen der internationalen Beziehungen als unfähig erwies. Der Abstieg des britischen Empires korrespondierte mit dem Aufstieg der Vereinigten Staaten, US-Präsident Woodrow Wilson versuchte, nach diesem Großkrieg den Völkerbund als Mittel für eine neue Weltordnung zu installieren. Bekanntlich scheiterte der Versuch, viel später erst erlebte der Begriff der Weltordnung eine Neuauflage. Nach dem Fall der Sowjetunion und der damit wieder sich ungehindert fortsetzenden Globalisierung brachte ihn George H. W. Bush auf die Tagesordnung der Ära nach dem Kalten Krieg, in der die USA als einzige Supermacht übrig geblieben war. In den 1990ern drehten sich die Diskussionen vorwiegend darum, welchen Charakter die Weltordnungsmacht USA besäße, ob Imperium à la Rom oder sonst etwas. Aber schneller als die meisten Prognosen von UNO, Weltbank oder CIA vollzog sich der Aufstieg Asiens und anderer Weltregionen. Die USA hingegen, provoziert durch die Anschläge vom 11. September 2001, beschlossen einen offensiven Kampf für Freiheit und Demokratie unter Einbeziehung präemptiver Mittel und verstrickten sich in einen zermürbenden und bis heute anhaltenden War on Terror.

Unverkennbar klingen in der neuen Diskussion über die »neue neue Weltordnung« (Faared Zakaria in Foreign Affairs 5-6/08) die uralten Töne der Jeremiade an. Hatte einst Francis Fukuyama die »demokratische Flut« als »Endpunkt der ideologischen Evolution« charakterisiert, so beklagt Niall Ferguson die nunmehr zu registrierende »demokratische Ebbe« (Welt, 9.2.08). David Rieff bedauert in einer älteren Ausgabe von Mother Jones, dass die USA die internationalen Beziehungen »auf den Kopf gestellt haben«; es gelte »Abschied zu nehmen von der Weltstaatsbürgerschaft«, vor der Zukunft müsse man Angst haben, mit dem Irakkrieg habe man, trotz Klimaerwärmung, »eine kältere Welt« betreten, die an Hobbes erinnert. Der derzeit hoch gehandelte US-Politologe Parag Khanna strahlt zwar maximalen Optimismus aus, was die EU betrifft, bezeichnet jedoch die Möglichkeit eines feindseligen Bündnisses USA-EU gegen die VR China als seine »größte Furcht« (MacLeans Magazine, Kanada, 19.6.08). In der Zeit (29.11.07) skizziert Jürgen Habermas ein sehr heterogenes aktuelles Problem-Konglomerat: »Höchste Priorität genießen vor allem fünf Probleme: das Umkippen lebenswichtiger ökologischer Gleichgewichte; die Verteilung knapper Energieressourcen; die internationale Sicherheit; die globale Durchsetzung elementarer Menschenrechte und eine faire Weltwirtschaftsordnung, die das Wohlstandsgefälle und die globale Ungleichverteilung von Lebenschancen dauerhaft überwindet.« Habermas spricht zwar nicht direkt von Weltordnung, erwartet sich aber eine neue Weltwirtschaftsordnung und eine neue Weltinnenpolitik, also politische Ziele jenseits der Anarchie der Nationalstaaterei. Völlig offen lässt er jedoch, wie das gehen soll. Mit Blick auf die aktuelle US-Außenpolitik kritisiert er die politische Konzeption des Neokonservatismus, wobei er den außenpolitischen Realismus nur als Softvariante des hegemonialen Liberalismus ohne Argument gleich mit abkanzelt, um selbst das normative Steckenpferd der uneigennützigen Weltorganisation zu reiten, jenes Programm eines US-Präsidenten, das es »wieder aufzunehmen« gilt. Woodrow Wilson? Das ist selbst für ein SPD-Kulturforum etwas zu wenig differenziert. Seine zweideutige Prognose: »Eine amerikanische Regierung, die an die veränderte Welt des Jahres 2030 denkt, kann nicht wollen, dass sich China morgen so verhält wie Bushs Amerika heute.«

Diesen Satz würde der Hobbesianer Robert Kagan auch unterschreiben, wenn auch aus anderen Motiven. Denn ihm erscheinen die aufsteigenden Mächte, allen voran China, eine wachsende Gefahr. Umso schlimmer, dass sich diese »Autokratien« untereinander gegen die Demokratien verständigen. Kagans neues Buch Die Demokratie und ihre Feinde. Wer gestaltet die neue Weltordnung? dreht sich darum, dass sich global eine Neugruppierung der Kräfte zwischen Demokratien und Autokratien vollzieht: »Wir sind in ein Zeitalter der Gegensätze eingetreten.«

Man möchte meinen, auch die vorherigen – siehe Jeremia oder Eric Hobsbawms Zeitalter der Extreme – sind nicht ganz so harmonisch verlaufen. Methodisch macht er es sich für seine Globalanalyse recht einfach. Seinen Hauptwiderspruch an den Anfang gestellt sucht er sich Bestätigung in allen Weltregionen. Tatsächlich gibt es Gegensätze überall. Die »alte Rivalität zwischen Liberalismus und Autokratie ist neu entflammt«, dazu noch ältere Fehden »zwischen radikalen Islamisten und den modernen säkularen Kulturen und Mächten«.

Bei den beiden Hauptfeinden, den Autokratien China und Russland, wird gar nicht klar, dass es strukturelle Systemunterschiede beider Mächte gibt. Autokratie ist Autokratie. Gibt es unterschiedliche Qualitäten? Den Herrschern von China und Russland billigt er Überzeugungen zu, »nicht anders als den Autokraten der Vergangenheit«, jedoch keine so »in sich geschlossenen und systematischen« mehr wie der Marxismus oder der Liberalismus. Diese Überzeugung besteht, so Kagan, in der starken Hand und in der Verachtung der Demokratie. Beide haben aus ihrer turbulenten Geschichte gelernt, »dass politische Zerrüttung und innere Spaltung andere zur Einmischung und Ausplünderung einladen.« Dagegen verwehren sich beide, deshalb sind beide Machthaber »nicht einfach nur Autokraten: Sie glauben an die Autokratie.« Das war es schon. Präzisere Aussagen sucht man vergeblich.

Gesellschaftliche Prozesse, die grundlegende Strukturen verändern, interessieren ihn nicht. Russland hat die Gnade der Demokratisierung – und die Auslieferung seiner Ressourcen an das westliche Kapital – verpasst, also zieht Weltpolizist Kagan den Schlagstock. China hat zwar begonnen, die kapitalistische Produktionsweise in sein kommunistisches Staatssystem zu integrieren, denkt jedoch nicht daran, Letzteres aufzugeben – kein Gedanke darüber, ob hier vielleicht qualitativ etwas anderes im Entstehen ist, das weder alter Kapitalismus noch alter Kommunismus ist. Ob China in zwanzig Jahren nur eine mit den USA rivalisierende Supermacht ist, wie Habermas andeutet und Kagans von Gewissheiten determiniertes Denken geradezu festklopft, ist heute noch gar nicht abzusehen.

Für die USA, dieser »speziellen Version von Nationalismus und Ambition«, ist es selbstverständlich, dass sie »bei der Gestaltung einer ihren Wertvorstellungen entsprechenden Welt« aggressive und sanfte Gewalt anwendet. Dass sie die mit globaler Führerschaft verbundenen »ungewöhnlichen Lasten« auf sich nimmt, verpflichtet die Geführten zu Dankbarkeit. Was aber, wenn diese andere Meinungen haben und darüber diskutieren wollen? Hier wird Kagans Buch besonders farblos. Er beschwört den Kampf der Demokratien gegen die Autokratien und fordert »ein Konzert der Demokratien« – aber er greift einfach keine Meinungsverschiedenheiten, keine Kritik, keine Gegensätze unter den Demokraten auf. Die gibt es nicht. Die großen Weltfragen – Klima, Energie, Ernährung – fallen bei ihm völlig unter den Tisch der Macht. Letzten Endes heißt für ihn Weltordnung: Wahrung der amerikanischen Vorherrschaft mit allen, auch kriegerischen Mitteln, durch »moralisch gewagte Schritte, um unsere Zivilisation zu erhalten«.

Michael Howard, Mitbegründer des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London, spricht in seinem Essay »Warum wir uns nicht im Krieg befinden« (FAZ, 19.6.08) von der »Weltgesellschaft«, die seit dem Westfälischen Frieden eine Entwicklung mit epochalen Einschnitten durchgemacht hat. Die Staatenwelt hatte damals das »Gewaltmonopol« errichtet. Krieg und Frieden sind seither, ungeachtet gesellschaftlicher Veränderungen, Sache des Staatsinteresses, der Staat konnte sich auf seine Bürger stützen. »Das Kriegsziel war einfach: Sieg.« Der Frieden mit dem Verlierer stärkte die Macht des Siegers, ließ aber »die grundlegende Struktur des Staatensystems und die Souveränität seiner Mitglieder unangetastet«.

Dieses »westfälische Muster«, so Howard, traf nur auf die Vereinigten Staaten nicht zu, als Woodrow Wilson die Kriegsziele seiner Verbündeten nicht billigte. Er führte einen Krieg »mit der Absicht, die Welt zu verändern«, zu Freiheit und Demokratie, eben: für eine neue Weltordnung. Der Auftritt der Sowjetunion in der Weltarena ließ eine neue Dimension des kriegerischen Konflikts möglich werden, enorm verschärft durch neue Waffensysteme wie die atomare Rüstung. »Epochal«, betont Howard, wurde aber erst der 11. September als Symbol der Aufkündigung des Gewaltmonopols, worauf die USA »gefährlich falsch« reagierten. Denn nun wird die Weltordnung »bedroht durch die Veränderung des gesamten Staatensystems, das etwa dreihundert Jahre lang den Rahmen für die internationalen Beziehungen vorgegeben hat«.

Gegenüber Kagan fällt auf, dass Howard großen Wert auf die globalen materiellen und gesellschaftlichen Umwälzungen legt – und auf die Kehrseite der Globalisierung, die Massen der Verlierer, die abgekoppelten Krisenregionen. Die alten, oft ungelösten Widersprüche sind nicht verschwunden, sie werden teils verschärft, teils überwölbt von neuen Typen von Widersprüchen, die mit den konventionellen politischen Mitteln nicht zu lösen sein werden. Weiterhin wird es die Probleme aus dem Westfälischen System geben, etwa »Kriege aus schlecht definierten Grenzen« oder auch zwischen Großmächten. Doch tritt die Rivalität großer Mächte gegenüber der Unfähigkeit schwacher Staaten zurück, »Kontrolle über ihre eigenen Bürger oder über hochexplosive Regionen auszuüben«. Die Gegensätze sind nicht einfach jene der politischen Systeme, wie sie Kagan beschreibt, sondern existenziellerer Natur: »Die Welt ist immer mehr gespalten, nicht zwischen Freiheit und Tyrannei, auch nicht zwischen Demokratie und Diktatur, sondern zwischen Staaten, die sich erfolgreich als Angehörige einer Weltgemeinschaft anpassen, und jenen, die es nicht tun.«

In mancher Hinsicht korrespondieren Howards Ausführungen mit Faared Zakarias Thesen im ersten Kapitel seines neuen Buches The Post-American World (W. W. Norton & Co., New York) – eine Art Kurzfassung existiert auch im Maiheft der Foreign Affairs: »The Future of American Power«. Zakaria geht vom Aufstieg der Mächte im Rahmen der Globalisierung aus und ortet drei große Phasen: im 16. Jahrhundert mit dem Aufstieg Europas, den Aufstieg der Vereinigten Staaten und nun »the rise of the rest«, den die USA überleben müssen und können. Er greift den Niedergang des britischen Empires auf, geht auf die Ökonomie ein, nimmt sich Niall Fergusons Vergleich des Burenkrieges mit dem Irakkrieg vor. Im Vergleich sieht er vor allem Unterschiede und tröstet die allmählich zweifelnde amerikanische Seele: Materiell stehen die USA weit stärker da, wissenschaftlich sind sie die Supermacht, verfügen über ein großes demografisches Plus – allerdings der Krieg, überhaupt, die Politik: »Sie haben in hohem Maße eine dysfunktionale Politik entwickelt.« Sie sind viel zu wenig auf sein neues Umfeld vorbereitet. Auch er sieht dort als wesentlich die »Diffusion der Macht von Staaten zu anderen Darstellern«. Amerika sollte aufhören, der Welt ein »anmaßender Hegemon« zu sein und stattdessen »eine Art globaler Vermittler« werden, der »enge Beziehungen zu den anderen Großmächten schmiedet« und seine Rolle der Supermacht gegen »Beratung, Mitarbeit und Kompromiss« tauscht. Denn die Welt steht heute mittendrin in »der Geburt einer echten globalen Ordnung«.

Robert Kagan: Die Demokratie und ihre Feinde. Wer gestaltet die neue Weltordnung? Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt, München (Siedler Verlag) 2008 (128 S., 16,95 €)

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2008