Michael Ackermann

Privatisierung oder Staatsfreundschaft?

Das Ringen um die öffentlichen Güter

Die Absurdität des anhaltenden und pauschalisierenden Geredes von Überregulierung, Bürokratie und permanentem Staatsversagen offenbart sich schon darin, dass Deutschland mittlerweile zu den Ländern mit den niedrigsten Beschäftigungsquoten im öffentlichen Sektor gehört. Wenn jedoch die staatliche Daseinsvorsorge wirklich auf eklatante Weise in Schlendrian, Korruption und Gleichgültigkeit versinkt, dann stinkt, wie in einigen Gegenden Italiens nun schon länger, der Müll als Ausdruck öffentlicher Verwahrlosung im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel. Das Ringen um die öffentlichen Güter wird existenziell.

Zum schalen Witz des nicht nur in Deutschland seit langem gepflegten Diskurses für den »Abbau des Staates und der Bürokratie« gehört es, dass er sich um die Realität nur wenig schert. Noch immer singen die »Initiative Neue soziale Marktwirtschaft« oder der »Konvent für Deutschland« ihr Lied von zu hohen Sozialleistungen, Steuern und einem Zuviel an Gesetzen. Als habe es die seit Jahren stattfindenden Umbauten und Einrichtungen von Profit-Centern in den Verwaltungen, die »Dienstleistungsinitiativen« und »Verschlankungen«, die Verlängerung der Arbeitszeiten et cetera gar nicht gegeben, ist auch in dem Konvolut Mut zum Handeln. Wie Deutschland wieder reformfähig wird immer noch alles Bürokratie und fehlt es überall an Initiative und Eigeninitiative. Das alles wirkt nicht nur angesichts der bis auf die Mittelschichten durchschlagenden Ergebnisse der Agenda 2010 völlig abwegig, es hat auch mit den ökonomischen Kenndaten nichts mehr zu tun.

Die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse in Deutschland hat mittlerweile europäische Spitzenwerte angenommen. Die Arbeitskosten gehen seit Jahren nach unten, bei den Lohnstückkosten und Lohnnebenkosten verhält es sich ähnlich. Gleichzeitig sind die Reallöhne in den letzten zehn Jahren zurückgegangen, und die Krankheitsquote liegt schon länger auf dem niedrigsten Niveau seit der Gründung der Bundesrepublik. Was aber steigt, sind Armut und Armutsrisiko, während die Steuerlast der Unternehmen (insbesondere die der Großunternehmen) seit Jahren kontinuierlich sinkt.

Seit dem Ende der 1980er-Jahre ist die Annahme, dass sich Staat, Bürokratie und ein omnipräsenter Öffentlicher Dienst ungehemmt ausdehnen, zu einem Volksvorurteil geronnen. Dabei setzte just zu diesem Zeitpunkt in Europa, in Japan und den USA eine gegenläufige Entwicklung ein, ist (west-)europaweit die Beschäftigtenquote(1) im Öffentlichen Dienst von da an fast überall stetig gesunken. Nur Frankreich weicht von diesem Trend ab. Bis zum Jahre 2005 ist dort die Beschäftigungsquote auf 23,0 Prozent angestiegen – sie liegt damit aber noch immer weiter unter jener in den skandinavischen Ländern, in denen die Quote auf hohem Niveau rückläufig ist.

Beschäftigungsquoten Öffentlicher Dienst,  
international
  2005  
Schweden 31,7%
Dänemark 30,4%
Finnland 25,6%
Frankreich 23,0%
UK 18,8%
Belgien 18,3%
Italien 16,0%
USA 15,7%
Spanien 15,0%
Österreich 12,9%
Irland 12,0%
Deutschland 11,1%
Niederlande 11,0%
Japan 8,7%

Verlauf der Quote in Deutschland seit 1960:

1960  8,0 %
1968  10,9 %
1974  13,0 %
1984  15,5 %
1990  15,1 %
2005  11,1 %

(Quellen: OECD, EU-Kommission)

Für manchen vielleicht überraschend dürfte an dieser Stelle der im internationalen Vergleich nicht nur niedrige Deutschland-Wert von 11,1 Prozent des Jahres 2005 sein, sondern auch der Verlauf dieser Quote seit 1960. Im Verhältnis zum Jahr nach dem Mauerfall wurde die Beschäftigungsquote im Öffentlichen Dienst um fast 30 Prozent gesenkt. In absoluten Zahlen ausgedrückt: Am Anfang der 1990er-Jahre waren noch 6,7 Millionen im Öffentlichen Dienst tätig, 2007 waren es nur noch 4,5 Millionen.

Wer das für eine segensreiche, weil öffentliche Mittel sparende Entwicklung hält, muss sich mit den Verhältnissen in den skandinavischen Ländern konfrontieren lassen. Uwe Becker verweist in seiner Untersuchung »Was ist dran am skandinavischen Modell?« (Leviathan, 2/08) nicht nur auf die hohe Erwerbsquote allgemein und die Frauenerwerbsquote im Speziellen, er hebt auch die hohe öffentliche Erwerbsquote in den skandinavischen Ländern als eine positive Entwicklung hervor. Zumal das hohe Beschäftigungsniveau im Öffentlichen Dienst mit hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten und niedriger Arbeitslosenrate einhergeht. Ein Zustand, der hierzulande häufig als schiere Unmöglichkeit angesehen wird. Der Autor gibt zu bedenken, dass die Finanzierung von öffentlicher Arbeit für das Gemeinwesen produktiver ist als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit. Die Senkung der Arbeitslosigkeit findet in den skandinavischen Ländern durch die Finanzierung hoher Raten öffentlicher Beschäftigung statt – die »im skandinavischen Stil auch wenig qualifizierten Arbeitnehmern ein faires Einkommen und soziale Wertschätzung garantiert«, wie Becker pointiert. Ein Zustand, von dem sich gerade Deutschland immer weiter entfernt. Hier nehmen Arbeits- und Chancenlosigkeit der gering Qualifizierten ständig zu.

Becker hebt grundsätzlich hervor, dass es »mehrere Wege zu Konkurrenzfähigkeit und Wachstum« gebe. Ein Weg könne durchaus sein, die öffentlichen Güter nicht gering, sondern hoch zu schätzen. Wie Weert Canzler in seinem Aufsatz in dieser Kommune weist auch Uwe Becker in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die unterschiedliche Regionalentwicklung in Deutschland gesonderte Blickperspektiven ermöglicht. »Bei Deutschland sind … nicht nur die Folgekosten der Vereinigung, sondern auch das Ost-West- wie auch das Nord-Südgefälle zu berücksichtigen. Konstruierte man eine Einheit von Bayern, Baden-Württemberg und dem angrenzenden hessischen Regierungsbezirk Darmstadt, dann erhielte man einen Raum, der hinsichtlich der Einwohnerzahl und der Wirtschaftskraft mit Skandinavien vergleichbar« ist. Mit diesem Bild macht auch er darauf aufmerksam, dass wir es innerhalb von Deutschland mit erheblichen Ungleichzeitigkeiten und teilweise extremen Abweichungen von den Durchschnittswerten zu tun haben. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass Erfolg oder Misserfolg von staatlicher Struktur- und Sozialpolitik nur begrenzt »politisierbar« und vordergründig ausschlachtbar ist. Es gibt also keine einheitliche Messlatte, mit der man auf den Strukturwandel reagieren könnte/müsste.

Allerdings hat jahrelange antistaatliche Polemik im Verbund mit den Defiziten politischer Gestaltungsfähigkeit das Verständnis von moderner Staatlichkeit tief greifend zersetzt. Das liegt auch daran, dass über mögliche Veränderungspotenziale und -notwendigkeiten hinaus Politik und Staatlichkeit in einem herrschenden Diskurs fast durchgängig zu Antipoden von Zivilgesellschaft und demokratischer Selbsttätigkeit der BürgerInnen erklärt worden sind. Wie schwer diese Bürde mittlerweile auf der Gesellschaft lastet, erläutert Berthold Vogel in Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft. Einerseits hat sich der bevormundende und deaktivierende Staat längst in eine Evaluierungs- und Privatisierungsspirale begeben und eine große Menge gemeiner Güter »freigesetzt«. Andererseits ist im Zuge der Privatisierungsabläufe immer deutlicher geworden, dass »die moderne, industrielle Gesellschaft in all ihren Stufen und Gliederungen, in all ihren Lagen und Milieus, in all ihrer Vitalität und Aktivität staatsbedürftig wie keine Gesellschaft zuvor« ist. Denn »das soziale und wirtschaftliche Geschehen ist ohne staatliche Daseinsvorsorge schlichtweg funktionsunfähig«. Zwischen Regulierung und Deregulierung geht es in einem längst unübersichtlich gewordenen Mix ständig hin und her.

Zur Diskussion stehen deshalb für Vogel auch »nicht neuerliche Verstaatlichungs- oder Planungsphantasien«, vielmehr gelte es »die praktische Charakteristik des Wohlfahrtsstaates als ›arbeitender Staat‹« zu erkennen. Die Sphären der öffentlichen Arbeit und der privaten Ökonomie lassen sich keineswegs immer säuberlich trennen. Und die Behauptung, die Privaten würden durchgängig schneller, besser und wirtschaftlicher arbeiten, hat ihre mythische Kraft längst verloren. Die verbreitete Klage über die Mängel von Staatstätigkeit und die Unfähigkeit der politischen Klasse sowie die grassierende Politikverdrossenheit beruhen nach Vogel auf einem »faktischen Zuwachs an Staatsaufgaben bei gleichzeitig abnehmender Handlungsfähigkeit des Staates«. Auch »die begrenzte Steuerungskraft des Rechts bei anhaltender Durchrechtlichung der Gesellschaft« gehört demnach zu den Paradoxien des neuen Wohlfahrtsstaates, welche gar nicht nach einer Seite allein auflösbar sind. Nicht umsonst haben die Privatisierungsschübe im öffentlichen Bereich quasi naturwüchsig Regulierungsbehörden und Bundesnetzagenturen, also die Neuschaffung von staatlichen Institutionen hervorgebracht.(2) Sie müssen Wettbewerb auf neuen Märkten überhaupt erst ermöglichen und kontrollieren.

Für Vogel zeigt die jüngere Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, »dass die Funktionsfähigkeit und die Qualität des Öffentlichen Dienstes in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lebenszufriedenheit der Menschen stehen«. Da es dabei um mehr als nur emotional wärmende Schutzzonen und Sicherheitsbedürfnisse geht, da es sich dabei auch um demokratische Gestaltungsaufgaben und Entscheidungsprozesse handelt, haben die Privatisierungswellen der letzten Jahre die Lebenszufriedenheit gerade nicht gesteigert. Im Gegenteil. Die Unzufriedenheit mit und die »Entfremdungsgefühle« gegenüber der Demokratie nehmen zu, wie zuletzt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt. Dabei bilden die Beweggründe eine zunehmende soziale Spaltung in der Gesellschaft ab. Während die Randständigen die wachsende soziale Kälte und den staatlichen Druck auf ihre Existenz beklagen, reden sich die Angehörigen der Mittelschichten über zu hohe Steuern durch »Vater Staat« in Rage. Für die einen wirkt die Streichung der Pendlerpauschale existenziell, für die anderen fällt damit nur ein – ökologisch zweifelhafter – Zuschlag auf ihr vergleichsweise auskömmliches Einkommen weg. Während sich für die einen »der Staat« auf vielen Ebenen auf dem Rückzug befindet, taxieren die anderen das vervielfältigte Angebot privater Energieunternehmen. Die einen sehen sich auf die prekären Verhältnisse der öffentlichen Schule in ihrem Stadtteil verwiesen, während sich die anderen die beste Schule für ihren Nachwuchs aussuchen und die Kinder kilometerweit mit dem Auto transportieren. Die einen grübeln nach über den nächsten Tag, die anderen über die Verteilung des Erbes. Gemeinsam erleben sie nur die Erhöhung der Abwassergebühren (wegen der Einsparung beim Verbrauch!) und die Schließung des gemeindeeigenen Hallenbades. Und allen gemeinsam ist, dass ihnen ihre jeweilige Herkunft die Aussichten präsentiert.

Vor diesem Hintergrund wirkt das Plädoyer von Berthold Vogel für eine Kultur der »Staatsfreundschaft« keineswegs naiv. Gegen die geschichtspolitischen Dimensionen des Staatsbegriffs in Deutschland (als Obrigkeits- und Klassenstaat) setzt er einen positiven Bezug auf die Sozialstaatlichkeit. Mit Staatsfixierung oder -hörigkeit hat das nichts zu tun. Es geht um ein Staatsverständnis, in dem das Ringen der BürgerInnen um Entscheidungen und Gestaltung ihres Gemeinwesens nicht durch ökonomistische Setzungen vordemokratisch ausgebremst, sondern im politischen Prozess behandelt wird. Deswegen hält Vogel »eine Diskussion über das Verhältnis von privatem und öffentlichem Wohlstand für erforderlich«. In einer solchen Diskussion »muss deutlich werden, dass die Erhebung von Steuern keine staatlich dekretierte Strafmaßnahme ist, sondern die Ermöglichung eines teilhabegewährenden Wohlfahrtsstaats«. Handelt es sich dabei um eine wohlmeinende, aber illusionäre Utopie? Aus skandinavischer BürgerInnenperspektive erschiene das Fragezeichen schon als völlig absurd.

1

Der Vergleich nationaler Beschäftigungsquoten ist sehr voraussetzungsvoll. Die sehr niedrige Quote der Niederlande kann womöglich auf eine andere Art der Gestaltung des Schulwesens zurückgeführt werden. Schulen werden in den Niederlanden grundsätzlich privat betrieben, erhalten aber staatliche Zuschüsse. In Skandinavien liegt das Schulwesen in kommunaler Hoheit und ist wettbewerblich organisiert. Die französische Schule wiederum ist eher republikanisch-zentralistisch organisiert und übernimmt durchgängig auch Versorgungsleistungen der Kinder und Jugendlichen. Auch die Beschäftigungsquoten sind also kulturell, politisch und sozialgeschichtlich pfadabhängig und damit auch nur begrenzt vergleichbar und aussagefähig.

2

»Unverdient ist auch der Ruf der Europäischen Union, politischer Vorreiter der Deregulierung von Arbeitswelt und Wohlfahrtsstaat zu sein … sie hat im Laufe der Jahre für die Durchsetzung insbesondere arbeitsrechtlicher Mindeststandards sowie für die Einrichtung sozialer Sicherheitsnetze gerade in Ländern mit niedriger rechtlicher Regulation gesorgt.« (Vogel)

Literatur:

Roman Herzog u. a.: Mut zum Handeln. Wie Deutschland wieder reformfähig wird, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2008

Uwe Becker: »Was ist dran am skandinavischen Modell«, in: Leviathan 2/08, Berlin 2008

Friedrich-Ebert-Stiftung: Persönliche Lebensumstände, Einstellungen zu Reformen, Potenziale der Demokratieentfremdung und Wahlverhalten. Erstellt vom Münchner Institut Polis/Sinus, 2008

Berthold Vogel: Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, Hamburg: Hamburger Edition 2007

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2008