Helmut Wiesenthal

Vor uns die schwierigen Jahre

Wandel des deutschen Parteiensystems, gesellschaftliche Desintegration und die Zukunft der Grünen

Es war die verpatzte Reformagenda eines mittelgroßen Landes im Modernisierungsprozess, die zum Wandel im deutschen Parteiensystem führte. Unser Autor beschäftigt sich zuerst mit den etwas in den Hintergrund geratenen Ursachen der neuen Parteienkonstellation, erwägt sodann Wahrscheinlichkeit und mutmaßlichen Wert der möglichen Regierungskoalitionen für die einzelnen Parteien und mündet schließlich in eine Betrachtung der Rahmenbedingungen, in denen die Grünen ihre künftige Rolle finden müssen und ausfüllen können. Dabei erscheint eines als sicher: Die ökonomischen und geografischen Gewichte in der Welt werden sich verändern – und die Herausforderungen für Deutschland noch zunehmen.

Ein neues Parteiensystem

Was bedeutet der Wandel des deutschen Parteiensystems, wie er in den Landtagswahlen von Hessen und Hamburg offenbar geworden ist? Hintergrund der Frage ist das Ende der Quasi-Balance einer Vier-Parteien-Konstellation mit den zwei »natürlichen« Lagern aus CDU/CSU plus FDP und SPD plus Grüne. Nur in oberflächlicher Betrachtung verdankt sich der Wandel allein dem Einzug der Linkspartei in die westdeutschen Landesparlamente. Er hat noch eine zweite Komponente, nämlich den abnehmenden Stimmenanteil der beiden Volksparteien. Beides zusammen bewirkt den empfindlichen Niedergang der SPD in der Wählergunst – bei der »Sonntagsfrage« auf 25 Prozent im Westen und 23 Prozent im Osten.(1) Dem Abstieg der Großen korrespondiert der Aufstieg der Kleinen: Die Klientel- sowie Programmparteien FDP, Grüne und Linkspartei mit einer Mitgliedschaft von je 45.000 bis 75.000 Personen ernten zusammen bundesweit knapp 40 Prozent Wahlbereitschaft, während die – man muss schon sagen: einstigen – Volksparteien zusammen nur noch mit gut 60 Prozent rechnen können.

Weil die kleinen Parteien nur über eine disproportional schmale Mitgliederbasis verfügen, ist mit ihrem Aufstieg mehr als ein Wandel der Koalitionsoptionen eingetreten. So können die drei Klientel- sowie Programmparteien zwischen 35 und 40 Prozent der Wahlabsichten mobilisieren, obwohl sich zu ihnen lediglich 15 Prozent aller Parteibuchinhaber (genau: 182.000 von 1,247.000 Parteimitglieder) bekennen. Das mag man als bloßen Ausdruck der ungleichen Wählerattraktivität von »großen« und »kleinen« Parteien ansehen, aber es ist auch ein Indikator der geringeren Repräsentativität von Regierungsbündnissen, in denen die kleineren Partner eine Prämie auf ihre Unentbehrlichkeit zu kassieren verstehen. Diese Einflussinflation der »Kleinen« ist ein herausragendes Merkmal der neuen Konstellation im deutschen Parteiensystem. Welche Risiken und Chancen daraus resultieren, beschäftigt sowohl das in seinem Machtanspruch betroffene Personal der Parteien als auch das politische Feuilleton.

Auch in den letzten Kommune-Heften wurde das Ende stabiler Koalitionsverhältnisse registriert – mit unterschiedlichem Akzent. Thorsten Hasenritter und andere(2) sehen sich zur Ehrenrettung der durch das Echo der Agenda-Politik und die anhaltende Führungskrise gestrafte SPD aufgerufen. Sie machen den edelmütigen Versuch, die Selbstverleugnung der SPD als maßgeblichem Teil der rot-grünen Regierung und die Übernahme von Forderungen der Linkspartei zum Identitätsmerkmal einer, wenn schon nicht in Sachen Wählerattraktivität, so doch programmatisch kompetenten »Leitpartei SPD« zu stilisieren. Als Libero des neuen Parteiensystems verstünde es allein die SPD – dank der Schrumpfung ihrer Leitprinzipien auf den Ruf nach Gerechtigkeit – dem Neoliberalismus die Stirn zu bieten. Wer sich bislang noch Sorgen machte, wie Deutschland mit der neuen weltwirtschaftlichen Dynamik zurechtkommt, mag jetzt aufatmen: Solange es die SPD versteht, CDU/CSU oder FDP und Grüne in eine Koalition zu locken, scheint alles in Butter. Das ist gut zu wissen.

Michael Jäger(3) geht es sympathischerweise um etwas mehr, nicht um eine imaginäre Führungsrolle für die »Leitpartei SPD«, sondern um die Perspektive eines sozioökonomischen Gestaltwandels der Gesellschaft – vom Wachstumszwang der kapitalistischen Wirtschaft zu einer für ökologische Imperative offenen stationären Ökonomie. Zur dafür notwendigen Weichenstellung sollen wechselnde Mehrheiten im neuen Fünfparteiensystem beitragen. Allerdings kann die bei Nicos Poulantzas entlehnte Variante einer politischen Ökonomie des Kapitalismus nicht überzeugen, da sie schon zu ihrer Entstehungszeit historisch falsifiziert war: durch den Übergang vom Eigentümerkapitalismus mit klassentheoretisch lokalisierbaren »Trägern« zum entpersonifizierten Finanzkapitalismus mit transnational breit gestreutem, fluktuierendem und weitgehend anonym gewordenem Anteilseigentum. Sieht man aber von der unnötigen Fundierung im marxistischen Kategorienschema ab, behält der Hinweis auf den möglichen Nutzen wechselnder parlamentarischer Mehrheiten einiges Gewicht. Er lenkt den Blick auf die der neuen Situation eigentümlichen Optionen.

Die Ursachen der neuen Situation

Was die Parteienforschung als Konzentrationsverlust und wachsende Fragmentierung des Parteiensystems verbucht, ist in erster Linie auf die Logik des Parteienwettbewerbs unter den Bedingungen des strukturellen Wandels der »alten« Industriegesellschaften zurückzuführen. Zwar haben sowohl die CDU als auch die SPD versucht, eine, teils mehr, teils weniger radikale Reformagenda zu etablieren, um die Anpassung von Arbeitsmarkt und Beschäftigungsstruktur an die sich wandelnde und zum Teil rückläufige Arbeitsnachfrage zu erleichtern. Gegen Ende eines vermeintlichen Jahrzehnts der Reformen steht jedoch fest, dass beide gescheitert sind.

Hatte Angela Merkel, die damalige Oppositionsführerin, mit den marktliberalen Reform-Beschlüssen des Leipziger Parteitags von 2003 versucht, die Wegmarken künftiger CDU-Politik zu setzen, so ging es der SPD nach der Bundestagswahl 2002 um das von der Hartz-Kommission entwickelte Programm der Arbeitsmarkt- und Sozialreformen. Um den Weg zu einem deutlich höheren Beschäftigungsniveau zu bahnen, riskierte eine sozialdemokratisch geführte Regierung erstmals den halsbrecherischen Konflikt mit den auf Insiderprotektion und Problemdelegation geeichten Gewerkschaften; sie verscherzte sich sogar das Wohlwollen von großen Teilen der Mitgliedschaft. Die in diesem Konflikt gesammelten Erfahrungen bestimmten die Wahlkampftaktik von 2005. Was man noch 2004 für richtig und wichtig hielt, wurde nun der CDU mit großer Geste als Böswilligkeit und »soziale Härte« angelastet. Das Ergebnis dieser Chamäleon-Strategie ist die Große Koalition.

Nachdem beide Volksparteien mit ihren Modernisierungsagenden gescheitert sind, ist eine nüchterne Bilanz ihrer Absichten und Strategien angebracht. Entgegen der im Parteienwettbewerb gepflegten Polarisierungsrhetorik ist davon auszugehen, dass beide Parteien dasselbe Ziel verfolgten: das verhältnismäßig inflexible und angesichts der Veränderung von Wirtschafts- und Sozialstruktur ebenso unpassend wie unfinanzierbar werdende Institutionensystem so umzubauen, dass es auch der durch die neuen Industriestaaten angeheizten Wettbewerbsdynamik gewachsen bleibt. Dazu sollten unter anderem stärkere Anreize zur individuellen Mobilität, zur aktiven Beschäftigungssuche, zur Weiterqualifikation, das heißt generell zu mehr Eigenaktivität im Umgang mit zunehmender Beschäftigungsunsicherheit beitragen. Reformbefürworter beider Lager hatten anhand ausländischer Erfahrungen realisiert, dass die Arbeitsmarktkrise ohne derartige, von vielen Betroffenen als Besitzstandsverlust empfundene Maßnahmen sich nur weiter vertiefen wird, um schließlich im Finanzierungskollaps des Sozialstaats und extrem einschneidenden Anspruchskürzungen zu enden. Dass sie mit dieser Einschätzung richtig lagen, ist heute offensichtlich: Im Vergleich zwischen Deutschland und den USA zeigen sich Letztere nicht nur hinsichtlich des geringeren Umfangs der Arbeitslosigkeit, sondern auch angesichts besserer Verdienstmöglichkeiten von unqualifizierten Arbeitnehmern als überlegen. Auch in den skandinavischen Ländern werden die günstigeren Wachstumsbedingungen und das gestiegene Beschäftigungsniveau auf rechtzeitig in Angriff genommene Arbeitsmarkt- und Sozialreformen zurückgeführt.

Zum Scheitern ihrer Reformprogramme haben die deutschen Volksparteien selbst Entscheidendes beigetragen – und zwar nicht so sehr durch ihr Tun als vielmehr durch Kontextignoranz und daraus resultierendes Unterlassen. Die Reformstrategen ignorierten insbesondere die für Deutschland (und andere kontinentaleuropäische Länder) typische Abschottung der sozialpolitischen Diskussion von gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen und ausländischen Erfahrungen. Was den Modernisierungsdiskurs in der Ära der Globalisierung betrifft, leidet Deutschland unter dem Handikap des mittelgroßen Landes. Die Bevölkerung »kleiner« (z. B. der skandinavischen) Länder ist es gewohnt, ihre Lebenschancen und gesellschaftlichen Institutionen im Lichte der weitgehenden Abhängigkeit von äußeren Bedingungen zu beurteilen. Dagegen können die Menschen in »großen« Ländern (wie China, Indien, Russland und den USA) einigermaßen folgenlos von Veränderungen in der Umwelt ihres Landes absehen und den exklusiven Binnendiskursen vertrauen. Aber »mittelgroße« Länder wie Deutschland, Frankreich und Italien sind mit dem Risiko geschlagen, dass sie einerseits ähnlich wie die »Kleinen« stark vom Wandel der weltwirtschaftlichen Faktoren betroffen sind, andererseits jedoch exklusive, auf den nationalen Horizont beschränkte Binnendiskurse pflegen, die diesem Wandel wenig Beachtung schenken – oder ihn ausschließlich im Lichte der internen Meinungskämpfe interpretieren.

Was Letzteres heißt, bedarf kaum näherer Erläuterung. Es genügt, an den hohen politischen Gebrauchswert des Kampfbegriffs »neoliberal« zu erinnern. Unstrittig ist eine Position des radikalen Liberalismus, die ausschließlich rational kalkulierende, selbstinteressierte Individuen und die Möglichkeit adäquater Institutionen unterstellt, eine fundamentalistische Utopie. Sie ist ebenso wenig realitätstüchtig wie die Utopie eines freiheitlichen Sozialismus oder einer kommunitaristisch verfassten Gesellschaft. Aber das heißt keineswegs, dass liberalisierende Reformen, das heißt freien Marktzutritt und Wettbewerb gewährleistende Institutionen generell von Übel sind (ebenso wenig wie alle Staatsfunktionen als sozialistisch denunziert werden können oder kommunitaristische Netzwerke als prinzipiell dysfunktional anzusehen sind). Während die USA nach verbreiteter Ansicht eines staatlich regulierten Systems der allgemeinen Krankenversicherung bedürfen, scheinen in anderen Staaten eine Reihe bewusst liberal orientierter Reformen vonnöten, um eine günstigere Mischung von Marktanreizen und Marktregulation herzustellen – günstiger im Sinne sozialer Inklusion und finanzpolitischer Nachhaltigkeit.

Inzwischen wird erkennbar, dass die undifferenzierte Verteufelung liberaler Ideen und Reformen als Neo-Liberalismus, wie sie für die deutsche und mehr noch für die französische Diskussion üblich ist, für die Modernisierung der Institutionen zu einer schweren, kaum mehr abzutragenden Hypothek wurde. Sie hat die ziemlich paradoxe Folge, in einer Situation der Überlastung nationalstaatlicher Politik mehr Ansprüche und Erwartungen auf etatistische »Lösungen« zu richten und dabei auszublenden, dass im Verhältnis von Bürger und Staat auf beiden Seiten nicht weniger eigennützige Kalküle im Spiel sind als in den viel geschmähten Marktbeziehungen. Wenn es tatsächlich um einen Konflikt zwischen Moral (bzw. Solidarität) und Markt (bzw. Wettbewerb) geht, sollte man weder von den diversen Spielarten moralischer Erpressung und Bestechung noch von dem Nutzen der marktkonformen Äquivalenz- und Fairnessprinzipien abstrahieren.

Konkret ist den glücklosen Betreibern einer deutschen Modernisierungspolitik zweierlei vorzuwerfen. Erstens haben sie es nicht verstanden und folglich versäumt, ihren Absichten eine solide diskursive Begründungsbasis zu verschaffen. So hätte die CDU nicht so lange warten dürfen, um ihren Rentenschwindler Blüm in den Ruhestand zu schicken und die Wahrheit über den Zusammenhang von Demografie und Sozialfinanzen ans Licht zu lassen. Doch waren CDU und SPD zu tief in die Logik des Parteienwettbewerbs verstrickt, um zur nüchternen Berücksichtigung der realen Daten und Optionen zu finden. Die Kohl-Regierung hätte sich von ihrem obsolet gewordenen Bild von Familie, Frauenerwerbstätigkeit und ethnischer Monokultur verabschieden müssen und die SPD von der Illusion, ihrer Wählerschaft dadurch Gutes zu tun, dass man Liberalisierungsreformen, Privatisierungsprogramme und die Sanierung der Sozialfinanzen als minimierbar ausgibt. Im Interesse ihrer Wettbewerbsrhetorik mochte sich keine Seite mit den wahren Verhältnissen und der Außenabhängigkeit des »mittelgroßen« Landes den Mund verbrennen. Folglich konnte das Wahlvolk auch keine Vorstellung von dem entwickeln, was ihm bei Unterlassung von notwendigen Reformen droht. Das einsichtig zu machen, statt mit dem TINA-Argument (There Is No Alternative) hausieren zu gehen, hätte wesentlich mehr Akzeptanzbereitschaft geweckt.

Der zweite Fehler war taktischer Art und betrifft den Stellenwert flankierender Maßnahmen. Als die CDU 2003 einer von der Logik liberaler Reformen faszinierten Parteivorsitzenden folgte, versäumten es die erfahreneren Granden, dem Publikum die gar nicht ernsthaft in Frage gestellte Fortgeltung sozialpolitischer Standards und damit eines Stücks der Profilidentität der CDU zu signalisieren. Der Öffentlichkeit präsentierte sich eine Partei, die sich für die Schöpferin des deutschen Wohlfahrtsstaats hält, plötzlich als traditionslose Radikalreformerin – ein unverhofftes Geschenk für den zweiten Wahlsieg von Kanzler Schröder. Dessen Versäumnis bei der Konzipierung und Implementation der Agenda 2010 wiegt nicht weniger schwer. Während die Reformen und insbesondere Hartz-IV zum Ziel hatten, mehrere Millionen Arbeitslose zur Verifizierung und Flexibilisierung ihrer Arbeitsbereitschaft zu nötigen, unterblieben komplementäre Maßnahmen auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarkts, das heißt ausreichend starke Anreize für Unternehmen, das vermehrte und zwangsflexibilisierte Arbeitsangebot der Hartz-IV-Betroffenen auch anzunehmen. Ohne hier näher auf geeignete Maßnahmen im Gewerbe-, Steuer- und Sozialrecht einzugehen, ist der Grund ihrer Unterlassung leicht erkennbar: Sozialdemokraten und Grüne waren auf eine geeignete Palette von vordergründig wirtschaftsfreundlichen Maßnahmen weder konzeptionell noch ideologisch vorbereitet; es widersprach einfach ihrem tendenziell marktkritischen Selbstverständnis, das sie mit dem Steuersenkungsgesetz 2000 bereits überstrapaziert hatten.(4) So ließ man zu, dass Hunderttausende auf den Markt geschickt wurden und dort vor die Wand oder ins Nichts liefen. Das war das Startsignal für die Gründung der WASG und eine der wichtigsten Ursachen für die Verwandlung des Vier- in ein Fünfparteiensystem.

Doch das neue Parteiensystem ist ein ungeeigneter Rahmen, um die verpatzte Reformpolitik mit einem neuen Anlauf auszubügeln. Denn, erstens, hat sich – nicht zuletzt unter dem Einfluss steigender Energiepreise und der anhaltend hohen Finanzmarktrisiken – das Kernthema des gesellschaftlichen Reformdiskurses von Zukunftsfragen zu den Gegenwartsnöten verschoben. Nach der Anpassung der SPD an den Populismus der Linkspartei geht es noch weniger als zu Schröders Zeiten um das, was nötig wäre, sondern fast ausschließlich um die Milderung der eh unzureichenden Reformmaßnahmen aus der ersten Hälfte des Jahrzehnts. Ein Großteil der aktuellen Problemlast wird so unglücklicherweise als Folge von erfolgten Reformen, nicht als Indikator des unbefriedigten Reformbedarfs interpretiert. Zweitens wirkt das neue, um die Linkspartei erweiterte Parteiensystem dem Aufbau von Diagnose- und Gestaltungskompetenz in den Parteien entgegen. Die Frage »Wer mit wem?« scheint wichtiger als »Was wofür?«. Und gleichzeitig schwindet mit der Vermehrung der möglichen Koalitionsoptionen der Einfluss der Wähler auf die Zusammensetzung der nächsten Regierung, zumal sich die Parteien nun vor jeder voreiligen Festlegung werden hüten müssen. Parteienverdrossenheit und Protestwahlverhalten könnten einem neuen Höhepunkt entgegengehen.

Koalitionsoptionen und Parteistrategien

Die Etablierung der Linkspartei in den westdeutschen Parlamenten hat ungleich stärkere Auswirkungen als 1983 der Einzug der Grünen in den Bundestag. Das hat weniger mit der bislang in den alten Bundesländern bestandenen Aversion gegenüber SED und PDS zu tun als mit dem gleichzeitigen Rückgang der Unterstützung für die einstigen Volksparteien CDU und SPD. Gemeinsame Wirkung beider Faktoren ist, dass sich die Distanzmaße im gesamten Parteiensystem mit einem Schlag verändert haben.

Auf den ersten Blick scheinen CDU/CSU und FDP von diesen Veränderungen am wenigsten betroffen. Ihr gemeinsames Problem ist allerdings, dass die Wählerstimmenanteile im Regelfall nicht mehr zur Bildung einer konservativ-liberalen Regierung ausreichen. Der daraus resultierende Stress fällt für die Steuersenkungspartei FDP größer aus als für ihren bevorzugten Koalitionspartner, müsste sie sich doch in einer Ampelkoalition unter SPD-Führung deutlich zurücknehmen und einen Teil ihrer Wählerschaft verprellen. Dagegen zeigen sich Vertreter von CDU und CSU für alle denkbaren Kooperationsoptionen jenseits von Linkspartei und NPD offen. Die Präferenzliste von CDU/CSU liegt auf der Hand: Wenn es für eine Koalition mit der FDP nicht reicht, bleibt allemal die Führungsrolle in einer Großen Koalition. Eine wachsende Strömung in der CDU scheint aber darauf hinzuwirken, die Große Koalition zugunsten eines Zusammengehens mit FDP und Grünen auf den dritten Rang zu verweisen.

Um den Realitätsgrad einer Jamaika-Koalition zu beurteilen, muss man den Modernisierungsprozess würdigen, den die CDU (und in schwächerer Form auch die CSU) seit der Wiedervereinigung durchlaufen hat. Ihre traditionelle Wirtschaftsnähe und die dadurch bedingte Aufmerksamkeit für Veränderungen in der Umwelt Deutschlands haben das im Zuge des Generationswechsels aufgerückte Führungspersonal auf einen recht pragmatischen Kurs der Machtsicherung geleitet. Die Kanzlerschaft Angela Merkels und deren verständnisvolle Rücksichtnahme auf die Überlebensprobleme des Koalitionspartners SPD belegen die Wende zu einem überraschend opportunistischen Selbstverständnis. In dessen Koordinaten scheint nahezu alles möglich, was der Machtgewinnung und -erhaltung dienen könnte. Das »Grundsatzpapier zur Energie- und Umweltpolitik sowie zum Verbraucherschutz«, in dem gleichermaßen von der »ökologischen Marktwirtschaft« und der »Öko-Energie« Atomkraft die Rede ist, ist keinerlei Zündstoff für innerparteiliche Kontroversen; es dient in erster Linie der Einstimmung der Wählerschaft auf »schwarz-grün« mit dem Nebeneffekt eines Augenzwinkerns an die Grünen als möglichem Partner neben der FDP. Für die Grünen zeichnet sich die Option ab, der CDU im Falle des Falles die Duldung eines planmäßigen Vollzugs des Atomausstiegs abzuringen.

Der Opportunismus und der bündnispolitische Pragmatismus der einst struktur- und kulturkonservativen Partei mögen moralkritisches Stirnrunzeln verursachen, für den Umgang mit der deutschen Modernisierungslücke sind sie nicht die schlechteste Voraussetzung. Indem die für die Nachkriegs-CDU so typische Honoratiorenkultur, auf Kreisverbandsebene symbolisiert durch die Notar-Fleischermeister-Koalition auf Mercedesfelgen, ihr biologisches Ende findet und Platz für alerte Betriebswirtschaftler, Software-Ingenieure und Karriereakademiker macht, öffnet sich eine Schnittstelle für Ideenimporte, welche die Grünen vermutlich erfolgreicher zu nutzen wissen als die Freidemokraten. Wachsende Flexibilität und nachlassende Traditionsbindungen verschaffen CDU/CSU jedenfalls günstige Aussichten für die Zeit nach Schäuble, Rüttgers und Beckstein.

Anders liegen die Chancen für eine Erholung der SPD. Sie laviert, wie von Franz Walter(5) beschrieben, in tiefer Zerrissenheit zwischen den Geboten sozialdemokratischer Tradition und des politischen Pragmatismus. Hat sie mittels Ersterer und der Universalformel »soziale Gerechtigkeit« ein Mandat des Wählerpublikums gewonnen, so muss sie sich bald darauf für Letzteres, also das, was sie an der Regierung tut, beim Wähler entschuldigen, um wieder gewählt zu werden. Aus der Opposition heraus gelingt die Regeneration des Selbstbewusstseins nur um den Preis, dass man sich selbst zum schärfsten Kritiker der eigenen, früheren Regierungspraxis stilisiert.

Warum sich Sozialdemokraten diesem Spagat unterziehen und zwischen widersprüchlichen Positionen oszillieren, hat einen simplen Grund. Sie glauben, im Unterschied zu den jüngeren Teilen der CDU-Führung, an die Wahlstimmenmächtigkeit der überlieferten Welt- und Konfliktdeutungen. Zwar lässt sich nicht mehr glaubwürdig die These eines Nullsummenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit an die Wand malen, doch kann man aus der dumpfen Erinnerung an das obsolete Schema immer noch Kapital schlagen. Das geschieht unter anderem, indem man seinen Gegnern nachsagt, sie wollten ausschließlich den Kapitalinteressen genügen (und verschweigt, dass günstige Investitions- und Beschäftigungsbedingungen zu den selbstverständlichen Zielwerten auch des eigenen Handelns zählen). Solange pauschale Kapitalismuskritik und Staatsgläubigkeit einen günstigen Nährboden finden (wovon realistischerweise auch für die Zukunft auszugehen ist), wird das Orientierungsschisma der Sozialdemokratie fortbestehen.

Nun wäre es für den Rest der Republik kein großes Problem, wenn Beck, Nahles, Steinbrück oder Steinmeier an schizophreniebedingten Kopfschmerzen leiden, solange ihr Handeln einigermaßen informiert und der Wirklichkeit angepasst ist. Das ist jedoch nicht der Fall, wie der Drang zur Rücknahme von Agenda-2010-Reformen zeigt. Auch wenn ihr allmählicher Wandel zu einer liberal angehauchten Mittelschichtpartei der öffentlich Bediensteten unaufhaltsam zu sein scheint, gerät die SPD doch immer wieder in Situationen, in denen sie das Vernünftige lassen und dem Affen Zucker geben muss. Die nach ihrem Selbstverständnis an gesellschaftlicher Integration und drängenden Zukunftsfragen orientierte Partei wird regelmäßig ihr Anspruchsniveau unterlaufen und kann allenfalls im Feld der Außenpolitik einen gewissen Mehrwert gegenüber den Wettbewerbern für sich reklamieren.

Das Auftreten der Linkspartei hat die innere Zerrissenheit der SPD noch verstärkt. Hatte man einst den Grünen bescheinigt, sie seien »eigentlich« ein Teil der Sozialdemokratie und folglich deren natürlicher Mehrheitsbeschaffer, so gilt das noch mehr für das Verhältnis zu den SED- und WASG-Nachfolgern. Von Ersteren wären manche gern nach der Einheit SPD-Mitglied geworden, Letztere können sich unter der Führung eines früheren SPD-Vorsitzenden fast »wie zu Hause« fühlen. Zwar speist sich das Wählerpotenzial der Linkspartei keineswegs nur aus ehemaligen PDS- und SPD-Wählern, sondern aus sehr disparaten Quellen sozialer Unzufriedenheit von extrem-links bis in die Rekrutierungsfelder der NPD.(6) Doch bleibt der SPD gar nichts anderes übrig, als den ungeliebten Konkurrenten als potenziellen Verbündeten anzusehen, will sie sich nicht von CDU/CSU und FDP in die Falle des ewigen Zweiten einmauern lassen.

Gewiss wäre es verfrüht, nur wegen des Einzugs der Linksparteiler in westdeutsche Landesparlamente gleich Mitte-links-Bündnisse zur neuen Routine zu erklären. Doch ist es aus innerparteilichen wie wettbewerbstaktischen Gründen unvermeidlich, dass das SPD-Verhältnis zur Linkspartei Standardthema aller Wahlspekulationen bleibt. Zum einen, weil die SPD nach dem Akzeptanzdebakel der Agenda-2010 und ihrer Rückbesinnung auf den Gemeinplatz »soziale Gerechtigkeit« (Ist es nicht etwa auch sozial gerecht, zur Maximierung der Verteilungsmasse die weltbesten Manager mit Millionengehältern zu locken?) fast die gleichen Politikziele proklamiert wie die Gysi-Lafontaine-Riege; und zum anderen, weil der linke Flügel der SPD die neue Bündnisoption als Realalternative und Drohpotenzial zu schätzen gelernt hat.

Der SPD ist nach dem Abtreten der Brandt-Generation kein Personal nachgewachsen, das eine starke Mitte repräsentieren und die umverteilungsgläubige Linke vom Schlage Dressler und Schreiner mit den produktionistischen Seeheimern und den jung-modernen Netzwerkern immer wieder aufs Neue versöhnen könnte. Nicht Beck ist die Ursache der Führungskrise, sondern die gewachsene Spannung zwischen naiver und zynischer Traditionsbindung. Die Krise begann bereits nach dem Machtverlust 1982, als es sich die Partei auf den Oppositionsbänken gemütlich machte und den scheinbaren Vorteil der Realitätsblindheit des mittelgroßen Landes in vollen Zügen – man erinnere sich nur an Lafontaines Absage an die Wiedervereinigung – auskostete.

Man gewann die Bundestagswahl 1998 mit der Vorspiegelung eines dynamischen Duopols aus Gerechtigkeits- und Fortschrittszielen, zehrte dann vom Innovationsdruck der Grünen und verfiel, als man gegen Ende der ersten Regierungsperiode die reale Problemlage begriffen hatte, in den TINA-Modus der technokratischen Top-down-Intervention. Dem rapiden Reputationsverlust folgte nicht etwa eine verspätete Erklärungsoffensive, sondern die 180-Grad-Kehre von der Agenda 2010 in Richtung lafontaineschen Populismus. Friedensformel für den innerparteilichen Konflikt ist das Ziel, die Partei 2009 wieder an die Regierung zu bringen mittels Politikangeboten, die den Wählern nicht weh tun.

Von den technisch möglichen Bündnisoptionen für 2009 bleibt keine glaubwürdig ausgespart. Am liebsten würde man mit den populären Grünen paktieren, am zweitliebsten die FDP zum Partner nehmen, an dritter Stelle eine Ampel anführen, aber was die vierte Präferenz sein mag, dürfte den Zusammenhalt der Partei auf eine schmerzhafte Probe stellen. Die Fortsetzung der Großen Koalition bleibt gewiss weiter im Spiel, aber ist nur dann wahrscheinlich, wenn es für ein Links-Bündnis nicht reicht oder harte Gründe dagegen sprechen. Diese Vermutung widerspricht zwar vielen ernst gemeinten und sicherlich bis zum Wahlabend wiederkehrenden Absichtserklärungen. Aber eine rechnerische Mitte-links-Mehrheit, die gleichbedeutend mit dem Scheitern der Alternative CDU/CSU plus FDP ist, ließe sich unter Umständen als »eindeutiges Wählervotum« und somit – Surprise! Surprise! – »völlig neue« Tatsache identifizieren. Einzige Voraussetzung wäre, dass sich die Linkspartei kooperationsbereit gibt und darauf verzichtet, der SPD einen harten Grund für Schwarz-Rot zu liefern. Mit ihren derzeitigen Dementis praktiziert die Linkspartei nicht nur Rücksicht gegenüber den eigenen Mitgliedern, sondern hält auch den Druck auf die SPD in erträglichen Grenzen.

Von der Linkspartei aus betrachtet ist ihre Nähe zur SPD seit deren Abschied von der Agenda-Politik nahezu sprichwörtlich. Tatsächlich besteht das Gros ihrer aktiven Mitgliedschaft aus sozialdemokratisch gesinnten Sozialstaatsanhängern, sieht man von den weniger werdenden SED-Würdenträgern und versprengten Marxisten ab. Was man will und wie man die Welt sieht, unterscheidet Linkspartei-Mitglieder nicht im Geringsten von den Traditionslinken der SPD (denen einst die Grünen als Albtraum exzessiven Rechtsabweichlertums galten, sofern sie sich nicht zum emphatischen Antikapitalismus bekannten). Gleichwohl erscheint die Linkspartei in konkreten Entscheidungsfragen als Regenbogenfraktion aus eher bürgerlichen Pragmatikern, verbitterten Alt-Eliten, einer Hand voll Radikaloppositioneller und selbstverliebter Linksintellektueller. Zwar geht es einer immer noch beachtlichen Teilgruppe vor allem darum, es denen heimzuzahlen, die sie wegen SED-Mitgliedschaft und Stasi-Kontakten als unerwünschtes Fallobst der Einheit, ja fast wie Aussätzige, behandelt haben. Doch ist seit dem 3. Oktober 1990 nicht nur einiges an Wertschätzung für die demokratischen Institutionen, den Rechtsstaat und die Marktwirtschaft nachgewachsen, sondern auch das Verlangen, an der Gestaltung und Verwaltung der Gesellschaft zu partizipieren – einer Gesellschaft, die man sich gar nicht so viel anders wünscht, als sie ist. Oder besser: die man sich eigentlich so wünscht, wie sie (um 1970) gewesen war, als sie von der SED als gefährlichster Feind des Sozialismus dargestellt wurde.

Ob die Linkspartei in eine Mitte-links-Koalition (mit oder ohne die Grünen) findet, wird nicht allein von der kleinen, aber stetig wachsenden Gruppe professioneller Berufspolitiker mit Machtambition bestimmt werden. Denn die Präsenz Oskar Lafontaines in der Partei hat jenes »antikapitalistische« Lager wieder zum Leben erweckt, von dem man wenig hörte, nachdem es Gysis Versuch einer Legitimierung militärischer UNO-Aktionen abgeschmettert hatte. An der außen- und sicherheitspolitischen Position der Linkspartei wird es sich letztlich entscheiden, ob die SPD einer Linkskoalition den Vorzug vor der Großen Koalition geben kann, denn die derzeitige Beschlusslage der Linkspartei ist für eine regierende SPD schlicht inakzeptabel. Das dürfte den Pragmatikern der Linkspartei einiges Kopfzerbrechen bereiten. Würde die Partei ihre unbedingte und vom Vorsitzenden immer wieder bekräftigte »Friedenspolitik« vor dem Wahltag revidieren, dann könnte es ja immer noch möglich sein, dass die SPD sie gar nicht als Koalitionspartner braucht, weil Grüne und FDP zur Regierungsbildung auslangen. In diesem Fall hätte sich die Linkspartei als ehrloser Opportunist geoutet – ebenso wie im Falle eines programmatischen Anpassungsakts nach dem Wahltag. Man sieht, welch unschätzbaren Wert Lafontaines Polemik für die Glaubwürdigkeit der Linkspartei hat.

Was wäre aber, wenn die Linkspartei diese Hürde aus der Welt schaffen könnte? Gewiss würden sich beide Seiten auf eine Reihe sozialpolitischer Wohltaten einigen, die ihnen den Beifall der Parteimitglieder sicherten. Da es aber sowohl in der SPD als auch bei den Linksparteilern eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Pragmatikern gibt, die sehr gut wissen, dass nach einer Wahl bereits die Weichen für die nächste Wahl gestellt werden, bekämen die Grünen eine reelle Chance, ihre Reputation als Mahner, Sparer und Ideengeber zu pflegen. Alle weniger angenehmen Teile des Koalitionsvertrags ließen sich dann den zu wenig revolutionären, aber leider unverzichtbaren Grünen in die Schuhe schieben, sodass die Glaubwürdigkeit der sozialdemokratischen Prinzipien unbeschädigt bliebe. Für das Zustandekommen einer Linkskoalition werden nüchtern-pragmatische Grüne so wertvoll sein wie Lafontaine den Dogmatikern für das Ziel der Verhinderung einer Koalition.

Dass eine Linkskoalition Wesentliches für die Modernisierung des deutschen Institutionensystems leisten oder gar einen Weg aus dem Umweltmissverständnis des mittelgroßen Landes finden wird, ist extrem unwahrscheinlich. Im besten Fall würden Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit nicht weiter steigen, im ungünstigeren der Schuldenstand und die Differenzierung sozialer Lagen zunehmen – zweifellos unbeabsichtigt. Dabei würde es vor allem von der Rolle und der Stärke der Grünen abhängen, welchen Ausgang das Experiment nimmt. Jedenfalls ließen sich den weniger repräsentativen Programmparteien Linkspartei und Grüne (siehe oben) die mit »mutigen« Reformen verbundenen Unannehmlichkeiten zuschreiben.

Was schließlich die Grünen selbst angeht, so scheinen sie vom Stimmenverlust der Großen und der größeren Wahrscheinlichkeit von Dreier-Koalitionen am meisten zu profitieren. Sie können sich prinzipiell jeder Partei als Regierungspartner empfehlen, werden aber nicht in allen Konstellationen benötigt. Sobald sich das in der Partei herumgesprochen haben wird, dürfte erfahrungsgemäß der Widerstand gegen die Vorstellung beliebiger Verfügbarkeit zunehmen. Es besteht das Risiko, dass dann gerade solche Optionen ausgeschlossen werden, die sich nach der Wahl als realisierbar anbieten. Weil sich die einstige Festlegung auf den Wunschpartner SPD nicht durchhalten lassen wird, droht die Zwickmühle, entweder koalitionspolitische Zurückhaltung mit anspruchsvollen Forderungen zu kombinieren oder nur noch in der Funktion des Mehrheitsbeschaffers für andere wahrgenommen zu werden. Denn es liegt auf der Hand, dass jede denkbare Koalitionsoption je besondere Politikchancen bietet, aber sich genau deshalb kein Forderungskatalog aufstellen lässt, der zu jeder Koalitionsoption passt. Darum verdienen die künftigen Chancen der Grünen einen genaueren Blick.

Die Zukunft der Grünen in der Welt der Zukunft

Den plötzlich als allseits kompatibel wahrgenommenen Grünen bringt das Fünf-Parteien-System mehr Möglichkeiten der Machtteilhabe, aber auch einen gewissen Ansehensverlust. So wurden sie bereits in der SPD-nahen Presse als »profilloseste« aller Parteien tituliert.(7) In den Spekulationen über neue Parteienbündnisse sehen sich die Grünen ungefragt mit Rollenzuweisungen bedacht, die sie intern kaum diskutiert haben. Wenn sie demnächst in Dreierbündnissen nicht mehr der signifikant »andere«, sondern einer von zwei Partnern sein werden, droht ein spürbarer Marginalisierungseffekt. Dazu trägt auch die fortgeschrittene Verallgemeinerung der grünen Agenda bei, wie sie unter anderem in der keineswegs glücklosen Präsenz des SPD-Bundesumweltministers und im Wahlprogramm von Andrea Ypsilanti Ausdruck findet. Die abrupte Aktualität der Energiepolitik und damit der Regierungstätigkeit in Sachen Umwelt, Energie und Klima bewirkt ein Übriges. Ohnehin strahlen diese Ur-Themen grüner Politik nicht mehr so »sexy« wie vor einigen Jahren. Heute werden sie mit wachsenden Zumutungen des Staates an die Bürger assoziiert und scheinen zunehmend von verteilungspolitischen Interessen okkupiert zu sein.

Das grüne Einflusspotenzial in Dreierkoalitionen wird vermutlich unter dem Niveau bleiben, das man in der Schröder-Regierung genoss, ohne damit zufrieden gewesen zu sein. Denn das wurde, abgesehen von der Beziehung zwischen Schröder und Fischer, für geringer erachtet als das Einflussgewicht der FDP in CDU-geführten Regierungen. Eine Politik der wechselnden Mehrheiten, der Michael Jäger(8) einiges abgewinnen kann, hat aber noch weniger Innovationspotenzial, weil sie auf nahe liegende, populäre Gemeinsamkeiten zwischen Regierung und Oppositionskräften setzen muss. Ohnehin dürfte CDU/CSU wie SPD eine Große Koalition lieber sein als die einer Minderheitsregierung eigentümliche Erfolgsunsicherheit. Nach den Erfahrungen mit der derzeitigen Koalition ist im Übrigen nicht zu erwarten, dass eine Drei-Parteien-Regierung, welchen Farbenspiels auch immer, den zögerlichen Gang der Anpassung an Deutschlands neue Umweltbedingungen nennenswert beschleunigen wird. Welche Rollen und welche Chancen kommen in diesem Kontext den Grünen zu?

In der Gründungsphase der Grünen hatte die Endlichkeit der Ressourcen, insbesondere der fossilen Energieträger, einen prominenten Platz in Diskussionen und Wahlkampfmedien. Seitdem sind Strategien der Energieeinsparung, des Ausbaus alternativer Energiequellen und die Reduzierung der bei Energieerzeugung und -verschwendung entstehenden Emissionen zentrale Themen, ja ein Identitätsmerkmal grüner Politik. Anfangs glaubte man sogar, den Abschied von endlichen Ressourcen durch die ganz praktische Konversion bestehender Industriebetriebe beschleunigen zu können. Heute, fast drei Jahrzehnte später, ist die Endlichkeit des Ressourcenvorrats akut geworden, aber erscheint doch in einem ganz anderen Licht und mit anderen Problemaspekten verknüpft, als man damals angenommen hatte. Wie von Ökonomen angekündigt, äußert sich die Begrenztheit des Angebots lange vor seiner effektiven Verknappung in Preissprüngen und stetigen Preisaufschlägen für Terminkontrakte, die unmissverständlich den künftigen Verlauf der Preiskurve anzeigen.

Die (energiepolitisch durchaus willkommene) Spekulation reagiert aber gar nicht so sehr auf sinkende Fördermengen (wie sie z. B. beim russischen Erdöl vorkommen), sondern auf zuverlässige Prognosen über die künftige Nachfrage. Aus einstigen Entwicklungs- und Schwellenländern wurden Industrieländer, deren Energiehunger keine Rücksicht auf den »traditionellen« Primärenergiebedarf und die Kostenstruktur der westlichen Industriestaaten nimmt. Doch der beschleunigte Energiepreisanstieg ist nicht die einzige und schon gar nicht die für Europäer bedeutsamste Wirkung des neuen globalen Produktionssystems. Weil die Globalisierung der Industriegesellschaft, auch wenn sie noch einen Bogen um etliche Armutsregionen macht, zeitgleich mit dem Aufkommen globaler Finanzmärkte und der Verallgemeinerung von immer leistungsfähigeren Kommunikationstechniken geschieht, geschieht heute das, wovon Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED 1957 geschwärmt hatte: »Überholen ohne einzuholen.«

Was derzeit außerhalb Europas an Industriekapazitäten, an Forschungs- und Entwicklungskompetenzen und an qualifiziertem Arbeitskraftpotenzial entsteht, das hat es in diesem Umfang und in diesem Tempo bislang noch nicht gegeben. Selbst wenn es gute Gründe gibt, auch in Asien mit dem allmählichen Sinken der exorbitanten Wachstumsraten, dem stetigen Anstieg des Lohnniveaus und der Zunahme kostspieliger Externalitäten (in Sachen Umweltschutz, Gesundheitswesen, Armutsfürsorge, Arbeitslosigkeit und Renten) zu rechnen, so ist das Strukturmuster der neuen Welt doch schon gut erkennbar. Volker H. Schmidt fasst es in einem Satz zusammen : Es »steht zu erwarten, dass das geographische Zentrum der Moderne sich im 21. Jahrhundert mehr und mehr nach Osten verlagern wird, so, wie es gut einhundert Jahre zuvor bereits von Europa über den Atlantik nach Nordamerika gewandert war«.(9)

Damit es kein Missverständnis gibt: Diese »neue Welt« entsteht nicht erst am Ende des Jahrhunderts, sondern existiert bereits. Sie ist die Umwelt des »alten« Europas, das sukzessive an wirtschaftlicher Bedeutung verliert. Betrug der Anteil der 15 EU-Mitglieder des Jahres 2000 (das ist die EU vor der Osterweiterung) am Welt-Sozialprodukt noch 21 Prozent, so wird er bis 2040 auf circa fünf Prozent gesunken sein. Im selben Rhythmus nimmt aller Wahrscheinlichkeit nach das ökonomische Gewicht der traditionell wichtigsten Befürworter der Demokratie ab: Die EU-15, USA und Japan werden 2040 nur noch ein Fünftel des globalen Sozialprodukts bestreiten.(10) Vor diesem Hintergrund, oder besser: unausweichlich in diesen Weltwandel eingebettet, wird sich die Energiestruktur wandeln, werden Abwehr- und Anpassungsmaßnahmen in Bezug auf den Klimawandel erfolgen – und, last but not least, werden die europäischen Gesellschaften die zunehmende Dysfunktionalität ihrer traditionellen Institutionen (vor alle, in den Bereichen Bildung, Forschung, Lebenslaufplanung und soziale Sicherheit) erfahren.

Es ist abzusehen, dass die Auswirkungen auf Europa und insbesondere Deutschland keineswegs pauschal als Niedergang oder allgemeine Verarmung zu charakterisieren sind. Die Exportstärke großer Teile der Industrie, das hohe Spezialisierungsniveau im Fahrzeug- und Anlagenbau sowie eine beachtliche Innovationskompetenz in den »mittleren« Technologien werden gewiss das »Überleben« des Industriestandorts Europa ermöglichen. Doch das findet unter erheblich erschwerten Bedingungen statt. In den europäischen Industrieländern wird eine schärfere Differenzierung zwischen den in modernen, konkurrenzfähigen Wirtschaftssektoren Beschäftigten einerseits und den auf staatliche Leistungen oder Garantien angewiesenen Bürgern (Schülern, Studierenden, Arbeitslosen, Rentnern) andererseits eintreten. Ohne Anpassung der überlieferten Institutionen wird sich die Kluft zwischen auskömmlich Beschäftigten und »Überflüssigen«, zwischen »Insidern« und »Outsidern« weiter vertiefen. Denn quer zum klassischen Verteilungskonflikt zwischen Arbeit und Kapital hat sich eine neue Konfliktlinie gebildet.

In der Volkswirtschaft der Nationalstaaten betraf der Verteilungskonflikt alle Arbeitnehmer und das im nationalen Rahmen wirtschaftende Kapital. Rückwirkungen auf das Beschäftigungsniveau, also der Umgang mit Arbeitslosigkeit, konnten dem Staat überlassen bleiben, der Unternehmen und Investoren durch seine Ausgabenpolitik sowie die Veränderung des Zinssatzes und der Besteuerung veranlassen mochte, ihr Verhalten gemeinwohlverträglich zu modifizieren. Neben seiner Zuständigkeit für Bildung und Altersrenten besaß der Staat auch Mittel, um dem Entstehen einer Insider-Outsider-Kluft entgegenzuwirken. Unter diesem Schirm konnten sich Arbeiter der verschiedensten Unternehmen und Wirtschaftszweige erfolgreich zusammentun, um ihren Anteil am Sozialprodukt zu verteidigen oder gar zu steigern.

Heute besteht eine weitere Konfliktlinie, welche die Relevanz der ersten drastisch reduziert hat. In ihr stehen Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf ein und derselben Seite, während ihr Gegenüber ein oft anonymes Konglomerat aus Arbeit und Kapital in fernen Wirtschaftsregionen oder -sektoren, das heißt der globalisierte Wettbewerb, ist. Weil den Arbeitnehmern dringend an einer guten Performanz des »eigenen« Arbeitgebers gelegen sein muss, gehen sie oder ihre Interessenvertretungen ein syndikalistisches Interessenbündnis mit dem (lokalen) Kapital ein, um aus schwierigen Bedingungen das Beste zu machen. Wie zu Zeiten der weniger offenen Volkswirtschaften beschränken sich die Gewerkschaften auf die Interessenvertretung der (allein konfliktfähigen) Beschäftigten. Wer dagegen außerhalb dieses Interessensyndikats seine Haut verteidigen muss oder überhaupt erst einen Arbeitsplatz ergattern will, findet keinen effektiven Interessenschutz mehr – weder bei Gewerkschaften noch beim Staat.

So ist es frappierend anachronistisch, wenn der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) als Teil seines Selbstverständnisses verkündet, dass die in ihrer Handlungsfreiheit reduzierten Einzelstaaten auch heute noch für die Herstellung von Vollbeschäftigung verantwortlich seien, aber (das ist stillschweigend unterstellt) die überlieferten Institutionen nicht verändern dürfen. Outsider sind »out« – auch für den EGB. Gegen diese trübe Aussicht gilt es, die Reformdiskussion auf alle Hindernisse, Grenzziehungen und Kreativitätsbremsen zu lenken, die einer sozialverträglichen Modernisierungsdynamik im Wege stehen. Dabei muss die soziale Perspektive beiden Richtungen gelten: zum einen der bestmöglichen Freisetzung kreativer Kompetenzen und zum Zweiten der Förderung und Inklusion der Zu-kurz-Gekommenen und Gehandikapten. Denn es gilt zu verhindern, dass die gesellschaftliche Wertschöpfung immer weniger Menschen überlassen bleibt, während die Ausgeschlossenen auf eine steigende Abschöpfungsquote bei den Beschäftigten spekulieren müssen.

Die Schlagworte aus der Zeit bescheidener Arbeitslosenzahlen – »Ausgrenzung«, »Zwei-Drittel-Gesellschaft« und so weiter – drohen erst jetzt Substanz zu gewinnen, wenn sich die Ursachen von Arbeitslosigkeit und sozialer Ausschließung sukzessive wandeln: von quantitativen Disproportionen zu qualitativen Unvereinbarkeiten. Jede ernsthafte Befassung mit der offenkundigen Tendenz zur gesellschaftlichen Desintegration muss deshalb zu der Frage vordringen, ob die Nachteile eines weiteren Abbaus von Beschäftigungs- und Marktzutrittsbarrieren nicht leichter wiegen als die Summe der Reparaturmaßnahmen und Kompensationszahlungen, die für die Aufrechterhaltung der überlieferten Chancenverteilung aufgewendet werden.

Damit sollte der Aufgabenzuwachs für die Grünen als zukunftsorientierte und problemsensible politische Kraft deutlich werden. Weil wenig Hoffnung besteht, dass sich CDU/CSU und SPD rechtzeitig mit neuen Problemlagen vertraut machen und dann auch zu riskanten Eingriffen in gewachsene Besitzstände bereit wären, kommen als Innovatoren im Parteiensystem allein die kleineren Programmparteien in Frage. Während die mehr oder weniger ideologisch blockierten Klientelparteien FDP und Ex-PDS schwerlich zu einer nüchternen Weltbetrachtung finden können, bietet sich den Grünen eine »Marktnische«, zu deren Ausfüllung sie aufgrund ihrer habituellen Umwelt- und Langfristorientierung ebenso wie von ihrer Weltoffenheit her prädestiniert sind: nämlich in jedweder Regierungskonstellation als Propagandist und Promoter jener mehrheitlich ungeliebten Reformen zu wirken, die unserem Land helfen, seinen Platz in einer »neuen Welt« zu finden.

1

Infratest dimap: ARD DeutschlandTREND Juli 2008 (www.infratest-dimap.de/?id=16#ue9).

2

Thorsten Hasenritter, Herbert Hönigsberger, Andreas Kolbe, Sven Osterberg: »Die Haupttendenz ist Reformismus. Die Leitpartei SPD und der sozialdemokratische ›Common Sense‹«, in: Kommune 2/08, S. 6–13.

3

Michael Jäger: »Machtfrage und Parlamentstaktik. Die Politik wechselnder Mehrheiten – damals und heute«, in: Kommune 3/08, S. 6–13.

4

Um ineffiziente Beteiligungsstrukturen der deutschen Wirtschaft aufzubrechen, waren u.<|>a. die Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften von der Körperschaftssteuer befreit worden.

5

Franz Walter: »Zwiespalt im Seelenhaushalt«, in: FAZ, 7.4.08, S. 8.

6

Vgl. Peter Lohauß: »Parteienkonstellationen im Wandel. Programmatische Krisen und die soziale Gerechtigkeit als ›Leitkultur‹«, in: Kommune 1/08, S. 6–12.

7

Albrecht von Lucke: »Das Schweigen der Ränder«, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 1-2/08, S. 15–18.

8

Siehe Fußnote 3.

9

Zitiert aus dem unveröffentlichten Ms. von »Moderne Gesellschaft, Weltgesellschaft und die Modernität der Welt« (2006). Vgl. auch Volker H. Schmidt: »Limits to Growth? China’s Rise and its Implications for Europe«, in: Karl Siegbert Rehberg (Hrsg.): Die Natur der Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York: Campus (im Erscheinen), sowie Volker H. Schmidt (Hrsg.): Modernity at the Beginning of the 21st Century, Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2007.

10

Robert W. Fogel: »Capitalism and Democracy in 2040«. Preprint available at the National Bureau of Economic Research (www.nber.org/papers/w13184), 2007.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 4/2008