Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V.

 

Die Weigerung, den Totalitarismus zu denken

Claude Lefort

Diesen Vortrag habe ich "Die Weigerung, den Totalitarismus zu denken" genannt. Es scheint mir angebracht, gleich diesen Titel und mein Anliegen zu beleuchten. Das Wesen und die Entwicklung des sowjetischen Kommunismus waren von seiner Entstehung bis zu seinem Zusammenbruch Gegenstand einer unaufhörlichen Debatte. Diese Debatte hat politische Leidenschaften und theoretische Argumente gleichermaßen mobilisiert. Die Verteidiger eines Staates, dessen Ziel die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft zu sein schien, stießen auf jene, die in diesem Staat ein neues, mit allen Mitteln der Macht versehenes Herrschaftsorgan sahen. Insgesamt gehörten die Anhänger des sowjetischen Regimes, jene, die es zumindest für "fortschrittlich" hielten, zur Linken, seine Gegner zur Rechten. Es ist jedoch festzuhalten, dass linksextreme Gruppen und eine gewisse Anzahl von Sozialisten oder Sozialdemokraten sehr früh die Bildung einer Diktatur über dem Proletariat unter dem Schein einer Diktatur des Proletariats angeprangert haben. Deutsche, die Gegner Hitlers waren – ich denke insbesondere an Hermann Rauschning, einen Konservativen –, waren unter den Ersten, die eine Parallele zwischen dem nationalsozialistischen System und dem sowjetischen System gezogen haben. Ich will hier auch daran erinnern, dass Léon Blum, der Anführer der sozialistischen Partei in Frankreich, zu Anfang der Dreißigerjahre die kommunistischen Parteien totalitär genannt hat, bevor er die Volksfrontstrategie angenommen hat. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass das Konzept des Totalitarismus ein Produkt des Kalten Krieges sei. Es wurde viel früher, insbesondere von russischen und deutschen Emigranten, eingeführt. Was die Debatte zwischen Historikern, Soziologen und Politologen betrifft, so alt sie auch ist – sie hat sich doch in der Folge des zweiten Weltkrieges intensiviert. Spekulationen über die Entwicklung des sowjetischen Regimes haben seit der Entstalinisierung eine neue Wendung genommen. Schließlich hat der Zusammenbruch des Kommunismus bemerkenswerterweise die Debatte nicht abgeschlossen. Auch wenn es die politischen Leidenschaften nicht mehr nährt, bleibt das Konzept des Totalitarismus weitgehend umstritten. Gebraucht man es, dann oft unter Vorbehalten und indem man ihm jegliche wissenschaftliche Triftigkeit abspricht. Hannah Arendts Werk erfreut sich zum Glück eines wachsenden Interesses, wird aber in den Arbeiten der Historiker kaum berücksichtigt.

Ich möchte also dies fragen: Gibt es nicht über die Divergenzen oder Gegensätze hinaus, die die Interpretation des kommunistischen Phänomens hervorgebracht hat, eine hartnäckige Weigerung, den Totalitarismus zu denken? Unter "denken" verstehe ich: sich dem zu stellen, was – wie Hannah Arendt es so gut gesagt hat – ohne Vorläuferschaft war und eine Frage aufwirft, die – im Unterschied zu einem Problem, für das ja eine Lösung gefunden werden kann – sich nun in unsere Erfahrung der Welt einprägt. Vor nun bald zwei Jahren, nach der Veröffentlichung eines Buches, das ich Die Komplikation genannt habe, nahm ich an Diskussionen teil, bei denen man mich jedes Mal über den Sinn des allerersten Satzes meines Vorworts befragte: "Der Kommunismus gehört der Vergangenheit an, die Frage des Kommunismus jedoch verbleibt inmitten unserer Zeit." Der Widerstand gegen die Idee, dass das totalitäre, genauer: das kommunistische Abenteuer uns nicht unbeschadet gelassen hat, dieser Widerstand erschien mir hartnäckig und beharrlich zu sein.

Seit einiger Zeit spricht man viel von der "Pflicht, sich zu erinnern". Das ist erfreulich. Wenn man jedoch dazu ermahnt, die Verbrechen gegen die Menschheit(1) nicht zu vergessen, hofft man, dass die Erinnerung daran uns davor bewahren wird, die Gräueltaten der Vergangenheit zu wiederholen. Aber ohne die Pflicht zu denken läuft die Pflicht, sich zu erinnern, Gefahr, wirkungslos zu sein. Denn das, was wir denken müssen, ist der Verzicht auf das Denken, der eine der Vorbedingungen für die Errichtung des Totalitarismus war, eines der wesentlichen Merkmale sowohl des Kommunismus als auch des Nationalsozialismus und des Faschismus. Wie sollte man sich über dieses ungeheuerliche Phänomen keine Fragen stellen? Kann man von einem neuen Machttypus, von einer Vereinnahmung der Gesellschaft durch den "Staat der Partei" sprechen, ohne die Tatsache zu berücksichtigen, dass – entschuldigen Sie diesen seltsamen Ausdruck – etwas dem Denken zugestoßen ist. Dieses Ereignis lässt uns umso mehr aufhorchen, als wir es nicht gewohnt sind, Politik und Denken zu verbinden. Wir hätten keinen Anlass, uns zu wundern, wenn wir uns mit der Feststellung begnügen würden, dass die totalitären Führer die vollständigen Mittel besaßen, um die Freiheit der Meinungsäußerung und des Denkens zu ersticken. Wir bräuchten dann nur das Fortschreiten der Tyrannei in der Moderne zu beobachten. Aber die totalitäre Macht lässt sich nicht auf eine tyrannische oder despotische Macht reduzieren. Hannah Arendt berührt einen wesentlichen Punkt, wenn sie eine Herrschaft beschreibt, die nicht nur von außen, sondern auch von innen ausgeübt wird. Um diesen Herrschaftstypus zu erklären, beruft sie sich auf den Glauben an ein Gesetz der Geschichte oder der Natur, beide verstanden als ein Bewegungsgesetz, auf die Unterwerfung unter eine Ideologie, verstanden als "Logik einer Idee", und auf die Einschließung der Bürger im allgemeinen Prozess der Organisierung. Aus jeder ihrer Analysen tritt dieselbe Schlussfolgerung hervor: die Untersagung des Denkens. Sie entdeckt den Ursprung der Prinzipien, die die totalitären Bewegungen geleitet haben, in den im 19. Jahrhundert entstandenen Theorien und Vorstellungen.

Ich werde hier diese Interpretation nicht diskutieren, dies habe ich an anderer Stelle getan. Es scheint mir dagegen richtig, darauf hinzuweisen, dass genau im 19. Jahrhundert die Empfindsamkeit der Wahrnehmung für eine Herrschaft entsteht, die für jene, die ihr unterworfen sind, unsichtbar geworden ist und die ihre Triebfeder in einem Verzicht zu denken findet, genauer gesagt: gar in einer Weigerung zu denken. In meinen Augen erwacht diese Empfindsamkeit als Folge der Erfahrung der französischen Revolution. Den Hoffnungen, die die Schaffung einer Gesellschaft, in der die zivilen und individuellen politischen Freiheiten anerkannt wären, hatte entstehen lassen, war nämlich die terroristische Diktatur einer Regierung gefolgt, die sich auf die Doktrin des öffentlichen Heils und der öffentlichen Wohlfahrt berief, und später, nach einem Zwischenspiel, währenddessen ein Rechtsstaat restauriert wurde, die bonapartistische Diktatur. Für jene Schriftsteller, die einen wesentlichen Beitrag zur modernen politischen Kultur geleistet haben, war damals die große Frage die nach der Verkehrung der Freiheit in Knechtschaft. Ich denke insbesondere an Benjamin Constant, an Guizot (zumindest in der Zeit, in der er unter der Restauration der Anführer der liberalen Opposition war) und ich denke auch an Tocqueville, an Michelet und an Edgar Quinet. Ich begnüge mich damit, Tocqueville und Quinet zu zitieren.

Tocqueville sorgt sich wegen der Gefahren, die die Demokratie in sich birgt, wegen der Tatsache, dass die Menschen keine unumstrittene politische Autorität mehr über sich anerkennen können – sei sie von Gottesgnaden oder garantiert durch die Tradition –, dass sie dazu verleitet werden, sich vom Bild ihrer Ähnlichkeit beherrschen zu lassen und in der Übereinstimmung mit der allgemeinen Meinung das Kriterium ihrer Urteile zu finden. In einem der letzten Kapitel des zweiten Teils von Demokratie in Amerika stellt Tocqueville fest, dass "jedes Individuum es duldet, dass man es anbindet, weil es sieht, dass nicht ein Mensch und nicht eine Klasse, sondern das Volk selbst das andere Ende der Kette hält". Er ersinnt eine Art von Unterdrückung, der nichts ähnelt, was ihr auf der Welt vorangegangen ist. Er behauptet, er suche vergeblich nach einem Ausdruck, der seinen Gedanken wiedergibt: "Die alten Wörter Tyrannei und Despotismus treffen nicht zu." An einer oft zitierten Stelle beschreibt er die Bildung einer grenzenlosen vormundschaftlichen Macht, die sich selbst dazu verwendet, das Leben der Bürger in allen Einzelheiten in die Hand zu nehmen, und er vollendet dieses Bild mit den Worten: "Könnte sie ihnen bloß die Unannehmlichkeit des Denkens und die Mühe des Lebens abnehmen!" Die Unannehmlichkeit des Denkens: Dies ist in Tocquevilles Augen das letztendliche Ziel der neuen Herrschaft, das jedoch noch nicht erreicht ist. Der Ausdruck ist bemerkenswert, weil er zu verstehen gibt, dass das Denken nur so lange wach bleibt, wie das Subjekt sich vom Zweifel erschüttern lässt. In seinem ersten Teil von Demokratie in Amerika hatte sich Tocqueville erschrocken gezeigt über die neuen Mittel zur Unterdrückung des Denkens, die weitaus erschreckender waren als jene, die die Zensur unter der Monarchie verwendet hatte: "In Amerika", schrieb er, "zieht die Mehrheit einen ungeheuren Kreis um das Denken herum." Auf diese Weise sieht sich ein Schriftsteller, der meint, seine Gedanken frei äußern zu können, als das Opfer eines solchen Ausschlusses, dass er "sogar den Wunsch, selbst zu denken, verliert". Es muss nicht betont werden, dass Tocqueville nicht die Vorstellung von dem hat, was ein totalitärer Staat sein wird. Dieser Staat ist nämlich nicht voll und ganz damit beschäftigt, die Bürger einzulullen, indem er ihnen friedliche Genüsse gewährt, die sie von den öffentlichen Angelegenheiten abhalten; im Gegenteil, er will sie im Dienste der Errichtung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung mobilisieren und disziplinieren.

Edgar Quinet zeigt sich nicht weniger als Tocqueville von der Drohung beunruhigt, die auf dem Denken seiner Zeit lastet. Aber er beweist eine bemerkenswerte Kühnheit, indem er fragt, was "nicht denken" bedeutet. Dies ist der Gegenstand von mehreren kleineren Kapiteln im letzten Teil seines großen Werkes Die Revolution, das heutzutage etwas in Vergessenheit geraten ist. (Es sei hier nebenbei erwähnt, dass er zur Zeit des zweiten Kaiserreichs schrieb.) An einer Stelle behauptet er, dass es nicht so schwer ist, eine Zeit lang das Volk dahin zu bringen, sich des Denkens zu enthalten. Es ist, so scheint es, die Lehre, die er aus der Ära zieht, in der die von Napoleon faszinierten Franzosen ihm ein unfehlbares Wissen zuschrieben, das sie selber stupide machte. An anderer Stelle aber widerlegt er die Hypothese einer Art Lähmung des Geistes. Die moderne Dummheit, die er Torheit nennt, scheint ihm nicht ausschließlich eine Eigenschaft der Massen zu sein, sondern genauso der Intellektuellen. Diese Torheit scheint sich ihm in ihrem ersten Grade in der neuen Herrschaft des Sophismus zu manifestieren. Er spricht dann nicht mehr von einem Aufgeben des Denkens, von einem Zustand, in dem man nicht mehr denken will, sondern von einem Willen, nicht zu denken, der von einer Mobilisierung der Intelligenz begleitet wird: dies sei sichtbar in der Schaffung von unterschiedlichen Theorien, die von der Verachtung für das Individuum geleitet sind. Quinet fragt einmal: "Ist die Knechtschaft eine geringere, weil sie freiwillig ist?" Er berücksichtigt zwar sehr wohl die Angst, die die Diktatur hervorruft, fügt aber hinzu, dass sie "eine freiwillige Verblendung" schafft.

Der Begriff der freiwilligen Knechtschaft wurde wahrscheinlich Etienne de la Boétie entlehnt. Dieser hatte um 1550 ein äußerst subversives Werk geschrieben: Der Diskurs über die freiwillige Knechtschaft. Montaigne fasst nach dem Tod seines Freundes den Plan, diesen Diskurs in seine Essais einzufügen; er musste darauf verzichten, aus Angst, den Interessen der Protestanten dienlich zu sein, die dieses Werk als Pamphlet benutzten, und aus Angst, zur Krise des Königreichs beizutragen. Kurz gesagt, La Boétie stellte Fragen über die Grundlagen der Herrschaft, wenn sie weder das Produkt einer Eroberung ist noch durch Waffengewalt aufrechterhalten wird. Er gab keine Antworten auf diese Fragen und hütete sich so davor, gegenüber seinen Lesern die Position der Autorität einzunehmen, die der Besitz der Wahrheit verleiht. La Boétie wunderte sich darüber und regte dazu an, sich darüber zu wundern, dass Menschen bereit seien, dem Fürsten alles zu geben: alles, ihre Besitztümer, ihre Eltern oder ihre Nächsten, gar ihr Leben. Liegt es daran, fragte er, dass die Menschen dem Reiz des Einen erliegen und im Körper des Fürsten das Bild eines großen kollektiven Wesens sehen, dessen Glieder sie wären. Hier einige Zeilen, die auch für den heutigen Leser noch so aufregend sind:

"Jener, der derart über euch herrscht, hat nur zwei Augen, er hat nur zwei Hände und nur einen Körper und nichts sonst, was der geringste Mensch in unseren unzähligen Städten nicht auch hat, außer der Überlegenheit, die ihr ihm gewährt, damit er euch zerstört. Woher hat er die vielen Augen, mit denen er euch belauert, wenn ihr sie ihm nicht gebt? Wie hat er so viele Hände genommen, um euch zu schlagen, wenn er sie nicht von euch nimmt? Woher hat er die Füße, die eure Städte zerstampfen, wenn es nicht die euren sind? Wie hat er Macht über euch, wenn nicht von euch? Wie wagte er es, euch mit Füßen zu treten, wenn nicht mit eurem Einverständnis?"

Indem La Boétie den Begriff der freiwilligen Knechtschaft schafft, konfrontiert er uns mit einem Rätsel, er veranlasst uns dazu, das totalitäre Phänomen neu zu betrachten.

Weder die Beschleunigung des Wandels, der eine über den Menschen stehende Geschichte, eine Geschichte in der zum Gesetz erhobenen Bewegung entstehen lässt, noch die Bildung von Ideologien wie Marxismus oder Darwinismus noch der Erfolg des aus Wissenschaft und Technik abgeleiteten Modells der gesellschaftlichen Organisation genügen, um die Merkmale des neuen Herrschaftssystems zu erklären. Dieses System versucht – und es gelingt ihm eine Zeit lang –, zugleich die Unterwerfung unter die Allmacht eines höchsten Führers und die aktive Teilnahme der meisten an der Realisierung mörderischer Ziele zu erlangen. Einigen wir uns auf diesen Punkt: Zweifelsohne hat man nie zuvor ein politisches Gebilde wie den Nationalsozialismus oder den Kommunismus gekannt, dem von jenen, die ihm unterworfen waren, eine solche Opferbereitschaft und eine solche Entschlossenheit entgegenbracht wurden, der Macht alles, einschließlich ihres Lebens, zu geben.

Das kommunistische System verlangt unsere besondere Aufmerksamkeit nicht wegen des Umfangs der während des Stalinismus begangenen Verbrechen (ich vergesse nicht, dass der an den Juden begangene Genozid eine extreme Stufe des Verbrechens markiert), sondern, so scheint es mir, aus zwei Gründen: Der erste ist, dass der Terror weitgehend gegen das Volk, aber im Namen des Volkes ausgeübt wurde und dass die Opfer sich der Regel der Beichte gebeugt haben, dass sie so weit gegangen sind, auf den Gedanken ihrer Unschuld zu verzichten: ein extremes Beispiel für die freiwillige Knechtschaft. Der zweite Grund ist, dass – ich knüpfe hier an die feinsinnige Beobachtung Quinets an – diese Knechtschaft von einer Mobilisierung der Intelligenz, einer ungeheuren Wucherung sophistischer Argumente begleitet wurde. Harold Rosenberg, ein Schriftsteller, der zur liberalen amerikanischen Linken gehörte, bemerkte in den Fünfzigerjahren mit schwarzem Humor, dass der Aktivist ein Intellektueller sei, der es nicht nötig habe, zu denken. Intellektuell in dem Sinne, dass er sich fähig zu kunstfertigen Argumentationen zeige, um unter allen Umständen die Parteilinie zu erklären oder zu rechtfertigen. An dieser Stelle sei noch angemerkt: Wie auch immer die Sicherheit ist, die die Ideologie dem aktiven Parteimitglied verschafft, sie gibt ihm nur ein sehr allgemeines Wissen; im Kontakt mit den Ereignissen und angesichts der Willkür der Entscheidungen der Führer muss er eine Art von Erfindungsreichtum aufweisen, um das zu erklären, was unerklärlich erscheint. Von dieser Kunst, die Einwände des gesunden Menschenverstands abzuwehren oder das Offensichtliche zu leugnen, hat Solschenizyn überzeugende Beispiele gegeben.

Mit dem Bezug auf La Boétie oder Schriftsteller des 19. Jahrhunderts will ich nicht die Neuartigkeit des totalitären Phänomens unterschätzen. Dieses Phänomen kann nur in der modernen Welt in Erscheinung treten, einer Welt, die nicht nur durch die industrielle Revolution verändert wurde, aus der bislang unbekannte Techniken der Massenmobilisierung, Massengleichschaltung und Propaganda entstanden sind, sondern auch durch die demokratische Revolution. Diese Revolution hat alle traditionellen Hierarchien zugrunde gerichtet und die für den alten gesellschaftlichen Raum charakteristischen Beschränkungen zerstört. Die Möglichkeit, ein Regime zu errichten, das fähig ist, die Integration der verschiedenen Handlungsbereiche in den Staat und die Vereinheitlichung der Normen, die die Beziehungen zwischen den Menschen durch die gesamte Bandbreite der Gesellschaft bestimmen, zu erreichen; die Möglichkeit, ein Regime zu errichten, das fähig ist, die Spuren der Teilung zwischen Herrschenden und Beherrschten zu löschen – diese Möglichkeit hat sich abgezeichnet in einer Zeit, in der die Souveränität des Volkes behauptet wurde und die Pluralität der Interessen und der Glaubensbekenntnisse anerkannt wurde.

Historiker versuchen, die Genesis der totalitären Regimes zu erklären, indem sie die Konjunktur beleuchten, von der sie profitiert haben: eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und nationale Krise. So berechtigt und fruchtbar die Untersuchung der Fakten auch ist, sie kann uns aber nicht davon befreien, uns dem Rätsel einer Macht zu stellen, die es geschafft hat, als Emanation des Volkes und Agens seiner Reinigung zu erscheinen, als Schöpfer eines gesunden gesellschaftlichen Körpers, der seiner Parasiten entledigt sei, seien es die Kleinbürger in Russland oder die Juden in Deutschland. Hier ist, hat man behauptet, der Beweis, dass die große Waffe der totalitären Bewegungen die Ideologie ist, die Theorie der überlegenen Rasse oder des missionarischen Proletariats. Was man Ideologie nennt, ist jedoch nur dank der Schaffung einer Partei neuer Art wirksam: einer Partei, die mit allen anderen politischen Formationen bricht, sich vom Rahmen der Legalität freimacht und sich die Eroberung des Staates zum Ziel setzt. Das Modell der bolschewistischen Partei ist besonders lehrreich, weil es von einer Ideologie begleitet wird, die viel besser als die Ideologie des Nationalsozialismus artikuliert ist. Man ist versucht, den wesentlichen Grund für seine Ausbreitung der marxistischen Doktrin zuzuschreiben. Dabei ist man blind für die Verwandlung der Doktrin von dem Augenblick an, wo sie sich in eine Organisation einprägt, die durch die ihren Mitgliedern auferlegte strikte Disziplin gekennzeichnet ist. Ihre Prinzipien sind bekannt: revolutionäre Arbeitsteilung, Professionalisierung des Aktivismus, Forderung nach unbedingter Ergebenheit eines jeden gegenüber der Sache der Partei. Die Organisation neigt dazu, in sich selber ihr eigenes Ziel zu suchen, aufgrund ihrer Identifikation mit dem Proletariat. In ihr vollzieht sich ein Prozess der Identifikation des Aktivisten mit dem höchsten Führer. Die Partei reduziert sich nicht, wie man es behauptet hat, auf die Funktion eines Instrumentes im Dienste der Anwendung der Doktrin. Die Doktrin wird gemäß dem Imperativ einer absoluten Einheit der Partei umgestaltet. Außerhalb der Grenzen der Partei ist kein Zugang zur Wahrheit, keine Teilnahme am revolutionären Kampf möglich. In den Worten Quinets heißt es: "Das Denken darf sich nur unter der Bedingung reproduzieren, dass es sich den aufgezwungenen Maximen unterwirft." Infolgedessen wird der Marxismus bereinigt, jeglichen Elements der Unsicherheit und Ungewissheit entledigt. Seine Lehre wird auf die Definition beschränkt, die Lenin von ihm gibt. Es gibt nur noch einen einzigen, kollektiven Leser des Werkes von Marx und Engels. So kommt es zur Verbindung eines kollektiven Körpers, das heißt der Gruppe der miteinander verschweißten Parteiaktivisten, mit einem Ideenkörper, einem Dogma. Sicherlich sind die Aktivisten Gläubige, aber sie sind es nur insofern, dass sie gemeinsam glauben und bei jedem einzelnen das Ich in das Wir versinkt. Wenn die Partei einmal an der Macht ist, verbreitet sich das Prinzip der Organisation in der gesamten Gesellschaft. Natürlich kann die für die Partei charakteristische Disziplin nicht in der gesamten Bevölkerung erreicht werden. Aber in jedem Bereich werden die Individuen dazu angespornt, sich aneinander anzupassen, sich als die Agenten eines Apparats zu betrachten. Dieses Schauspiel einer Gesellschaft, die gänzlich der Organisation geweiht ist, weckte bei Arendt die Vorstellung einer Herrschaft von innen, also einer Herrschaft dergestalt, dass jene, die ihr unterworfen sind, sich zu ihrer Integration in ein System hergeben, das die Gewalt der Macht verschleiert.

Bliebe man bei diesem Phänomen, so würde man den Prozess der Einverleibung der Individuen in ein kollektives Wesen außer Acht lassen – was ich versuchte, am Beispiel der Partei herauszustellen. Dieser Prozess tendiert dahin, sich in großem Maßstab zu reproduzieren, ohne jedoch je sein Ziel zu erreichen. In allen Bereichen der Gesellschaft entstehen nämlich unzählige Kollektive, von denen jedes eine Art Körper darstellt, dessen Glieder von ein und demselben Ziel geleitet werden: Gewerkschaften, Jugendbewegungen, Kultur- oder Sportvereine, Schriftsteller- oder Künstlerverbände, Wissenschaftsakademien, Organisationen jeder Art, die von der Partei kontrolliert werden. Wenn man dieses ungeheure Netz von Organen betrachtet, in dem die Bürger gefangen sind, kann man die Neuartigkeit und das Ausmaß des totalitären Unterfangens ermessen; man ermisst auch die Anziehungskraft, die die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die einen einzigen Block bildet und das Bild des Einen bietet, ausübt. Kann man hinzufügen, dass mittels dieser zahlreichen Eingliederungen sich der Glaube der großen Volksgemeinschaft aufdrängt, die sich in dem sichtbaren Körper des höchsten Führers widerspiegelt? Ich neige zu der Auffassung, dass es im tiefsten Innern das Bild des Körpers ist, das der Glaube an das Eine stützt. Während die Organisation Gegenstand eines Diskurses sein kann und ihre Vorzüge zelebriert werden können, verankert sich das Bild des Körpers im Unbewussten. Seine Wirksamkeit ist umso stärker. Sie besteht weiter fort, wenn die Organisation durcheinander gebracht ist.

Wie soll man nicht dem zustimmen, dass die Weigerung zu denken sich im Kern des totalitären Systems befindet? Innerhalb dieses Systems zu denken würde heißen, das Risiko zu akzeptieren, sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu fühlen. Zweifelsohne bringt die Angst den Verzicht auf das Denken hervor. Wer würde die Wirkung der Angst unter der Herrschaft einer terroristischen Macht oder, wenn sie sich gemäßigt hat, einer Polizeimacht unterschätzen? Man muss aber eine andere Angst berücksichtigen, die Angst davor, die psychische Sicherheit zu verlieren, die die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv verschafft.

Ich möchte nicht glauben machen, dass die Fähigkeit zu denken in einem totalitären Regime verschwinden könnte. Der Kommunismus hat eine Elite von Individuen aus allen Schichten entstehen lassen; die meisten von ihnen blieben anonym, aber eine kleine Anzahl fürchtete sich nicht davor, sich zu erkennen zu geben: Es war die Elite der Dissidenten. Es gibt in unserer Zeit kein schöneres Beispiel für den unzerstörbaren Widerstand des Denkens. Andererseits hat man das Desaster noch nicht ganz ermessen, das die langfristige Erziehung der meisten zum Nichtdenken nach sich zieht. Der Nationalismus in seiner aggressivsten Form, der des Hasses gegen einen vermeintlichen, wie eine Art Untermensch behandelten Feind, löst in Putins Russland oder Milosevics Serbien den Kommunismus ab.

Im Westen ist man weitgehend blind für das in Russland etablierte totalitäre System geblieben. Eine These lautete, das Projekt, eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen, erfolge gemäß den Grundsätzen des Marxismus, stoße aber an Schwierigkeiten, die die Theorie nicht habe erahnen lassen, denn die proletarische Revolution habe sich in einem Land ereignet, in dem der Kapitalismus die Produktivkräfte nicht ausreichend entwickelt habe. Die Diktatur der Partei und der Rückgriff auf den Terror hätten als Ursache den Rückstand Russlands, das Scheitern der Revolution in Deutschland und die Feindseligkeit der kapitalistischen Mächte. Einer zweiten These zufolge – einer These der Trotzkisten – waren die Fundamente des Sozialismus mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel sehr wohl gelegt worden, aber aus Gründen, die ich eben erwähnte, habe sich eine parasitäre Bürokratie vorübergehend auf die ihrem Wesen nach proletarische Macht aufgepfropft. Einer dritten These zufolge entsprang die Bildung einer Managerklasse den für jede industrielle Gesellschaft charakteristischen Veränderungen. Eine weitere These vereinte die Idee einer bürokratischen Gesellschaft mit der eines Staatskapitalismus: Dieses Phänomen blieb dann, obwohl es von Marx nicht vorgesehen wurde, doch verstehbar im Rahmen seiner Analyse. So verschieden, gar entgegengesetzt diese Interpretationen in manchen Hinsichten auch waren, sie hatten gemeinsam, dass sie die Frage beiseite schoben, die das Aufkommen eines Regimes unbekannter Art stellte, das heißt, dass sie die Frage des Politischen beiseite schoben und entweder eine Verkettung von Ereignissen oder rein gesellschaftliche und wirtschaftliche Phänomene herausstellten. Bedeutsamer für mein Anliegen ist das Konzept eines Typus von totalitärem Regime, dessen Merkmale ausgehend von empirischen Kriterien definiert werden und das dem Typus der liberalen Demokratie gegenübergestellt wird. Diese Kriterien wurden von Friedrich eingeführt und grosso modo von Raymond Aron in seinem Werk Demokratie und Totalitarismus übernommen. Es scheint, dass dieses Konzept von einer politischen Analyse gekennzeichnet ist. Genügt es aber, um die Neuartigkeit der kommunistischen Partei zu begreifen, sie als eine, wenn auch sehr eigentümliche Variante der Einheitspartei zu behandeln? Genügt es festzustellen, dass die Partei über das Monopol der politischen Aktivität verfügt, dass sie mit einer Ideologie ausgerüstet ist, deren Autorität absolut ist, und dass der Staat das Monopol der Gewalt- und Propagandamittel besitzt und sich die meisten wirtschaftlichen und beruflichen Aktivitäten unterwirft? Es heißt nicht den Totalitarismus zu denken, sondern sich weigern, ihn zu denken, wenn man ihn auf eine gänzlich äußerliche Herrschaft reduziert – es heißt, aus ihm eine neue Art von Despotismus zu machen.

Zu Beginn sagte ich, dass der Zusammenbruch des Kommunismus die Debatte nicht beendet hat. Vor einigen Jahren haben zwei Werke herausragender Historiker, Das Ende einer Illusion von François Furet und Die sowjetische Tragödie von Martin Malia, ein neues Interpretationsschema skizziert. Beide Autoren werten inhaltsreiche Dokumente aus und haben das Verdienst, das kommunistische Phänomen in die Horizonte der modernen Welt zu stellen. Sie bemühen sich, die eben erwähnte erste These einer Errichtung des Sozialismus im Kampf gegen unvorhergesehene Hindernisse mit der These eines allmächtigen Staates, der die Bezeichnung totalitär verdient, zu verbinden. Die erste These wird jedoch grundsätzlich modifiziert: Im Unterschied zu den Verteidigern der Sache des Sozialismus sind beide Historiker der Auffassung, dass das Verhalten der sowjetischen Führer stets von einer Illusion (F. Furet) oder einer Utopie (M. Malia) geleitet war. Diese Führer hätten alle, einschließlich Stalin, an den Sozialismus geglaubt, aber der Sozialismus sei nur eine Chimäre gewesen. Auf diese Weise wäre ihre terroristische Politik zu erklären, wenn man annimmt, dass sie je nach Lage konfrontiert wurden mit den "ungewollten Folgen" von Maßnahmen, die die Wirklichkeit nicht berücksichtigt hatten, und gezwungen wurden, ihre Methoden zu radikalisieren, um nicht auf das Endziel zu verzichten. Kurzum: François Furet und Martin Malia entnehmen der Feststellung der Zersetzung des Regimes den Beweis für seine Inkonsistenz, wobei sie ihm gleichzeitig eine Kohärenz, die Kohärenz seiner Ideologie, zuerkennen. Ich werde hier nicht länger bei dieser Auffassung der Geschichte des Kommunismus verweilen. Es handelt sich buchstäblich um eine idealistische, also gänzlich von Ideen gesteuerte Geschichte, um eine Geschichte von oben, die die Untersuchung einer neuen Strukturierung der gesellschaftlichen Beziehungen und zuallererst die Untersuchung des Funktionierens der Partei vernachlässigt. Die Naivität besteht darin, den Diskurs der Führer beim Wort zu nehmen. Die Vereinfachung besteht darin, den Bolschewismus als den direkten Ausdruck der revolutionären Utopie zu behandeln, ohne die vielfältigen Bewegungen zu berücksichtigen, die den Glauben an eine radikale Veränderung der Gesellschaft geteilt haben. Was ich hier betonen will, ist der Wille, den Kommunismus auf eine folgenlose Episode, auf eine Abschweifung zu reduzieren. Nach Furets Worten war der Kommunismus nur eine Parenthese im Laufe des 20. Jahrhunderts und diese Parenthese ist nun geschlossen. Nach Malias Worten beweist die Tatsache, dass er wie ein Kartenhaus zusammengebrochen ist, dass er immer nur ein Kartenhaus war (sic!). Beiden zufolge ist unsere Zeit eigentlich eine Rückkehr zur Wirklichkeit. Aber sie fragen nicht, warum eine so breit geteilte Illusion oder Utopie aus der wirklichen Welt des 20. Jahrhunderts entstehen konnte, an die wir angeblich neu anknüpfen; warum die Schaffung von totalitären Systemen unvorhergesehen war und lange sowohl von der liberalen Rechten wie von einem Großteil der Linken verkannt blieb, während die Westler "mit beiden Füßen fest auf dem Boden standen"; warum schließlich das kommunistische Modell auf allen Kontinenten eine solche Ausstrahlung erlangte.

Den Kommunismus in Raum und Zeit einzugrenzen, heißt, sich geschützt vor Ereignissen zu wähnen, die die Grundlagen unserer Gesellschaft erschüttern können. Die Tatsache, dass solche Ereignisse sich vollzogen haben, sollte jedoch unsere Wahrnehmung empfänglich für das Unvorhersehbare machen. Sie sollte uns vor der Vorstellung warnen, dass die Demokratie keine Feinde mehr hätte und dass sie nicht selber der Herd neuer Weisen der Unterdrückung des Denkens, neuer Formen der freiwilligen Knechtschaft wäre, deren Folgen wir nicht kennen.

1 "les crimes contre l´humanité" heißt nicht, wie es sich im deutschen politisch-moralischen Diskurs beinahe unbesehen durchgesetzt zu haben scheint, "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" – schon Hannah Arendt hat in ihrem Buch über "Eichmann" und die "Banalität des Bösen" die eher verbergend-verharmlosende Färbung dieser Wendung hervorgehoben. Freilich existiert im Französischen das gleiche Wort für "Menschlichkeit" und "Menschheit" – jedoch wird in diesem politischen Sprachraum hier niemand an die erste Konnotation denken. (Anm. A.C./H.S.)

(Übersetzung aus dem Französischen: Ariane Cuvelier/Hans Scheulen)

Claude Lefort lehrte an der "Ecole des hautes études en sciences soziales" und ist Mitbegründer zahlreicher Zeitschriften in Frankreich. – Jüngste Buchveröffentlichung: "La complication. Retour sur le communisme", Paris (Fayard) 1999.