Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V.

 

Die andere Verantwortung

Auch unseres Mittlerraums gegenüber Russland?

Zoltan Szankay

Was heißt "politische Aufmerksamkeit" gegenüber dem postsowjetischen Russland?

Was heißt es heute, hier in Deutschland, hier in Europa, hier im Westen, eine politische Aufmerksamkeit gegenüber dem aufrechtzuerhalten, was sich im postsowjetischen Russland, was sich in Tschetschenien ereignet? In welcher Weise ist diese Aufmerksamkeit, als ein qualitativer Bezug zu einem "politischen Aussen" zur gleichen Zeit auch ein konstitutives Moment der politischen Qualität unseres – nie ganz inwendigen – deutschen, europäischen, westlichen "Innen" ?

In welcher Weise schulden wir hier in Deutschland, in Europa, im Westen eine politische Aufmerksamkeit der seitens der russischen Opposition klar artikulierten Wahrnehmung einer Neubelebung jener sowjetischen, jener totalitären politischen Lügenpraxis, die konstitutiv, ja mitfundierend war für das gewaltsame Herstellen des "Sowjetvolkes" und seiner "Einheitlichkeit"? Wie bedeutsam ist dabei die Tatsache, dass die russische Opposition, unabhängig von ihren veränderbaren Größenordnungen, sich aus jenem widerständigen und lebendigen Kern der russischen Dissidenz der Sowjetzeit nährt, die, zugespitzt gesagt, die freiheitsbezogene Ehre der russischen Menschen ebenso wie die nicht auslöschbare Erinnerung an die Opfer dieses auch einzigartigen "Zivilisationsbruchs" zu retten half?

Es sind dies die Fragen, zu denen man die Überlegungen und Diskussionen verdichten könnte, in denen es um jene thematische Gestaltung dieser, mit dem Hannah-Arendt-Preis an Jelena Bonner verbundenen Tagung geht. Um eine Tagung, in der es um die Chancen, die politischen und geschichtlichen Implikationen des zweiten Tschetschenienkrieges und der sie begleitenden, die Lügen mitindizierende "Vereinigungsweise" des russischen "Volkskörpers" zu verstehen und zu beleuchten, besser bestellt wäre, als es bislang um diese Chancen auf den politischen und akademischen Bühnen gestanden hat.

Was auf dem Spiel steht

Es geht dabei um ein Verstehen in jenem Sinn, der in die Arendt´sche Öffnung zur politischen Erfahrung eingeschrieben ist: "Verstehen", schrieb Arendt, "ist immer verstehen, was auf dem Spiel steht." An diesem Punkt wäre zu sagen: Auf dem Spiel stehen die Chancen und die Ermöglichung einer politischen Aufmerksamkeit unseres Mittlerraums gegenüber Russland, die aber auch eine "innenpolitische" Dimension hat – Benjamin Barber sagt treffend: "democracy is paying attention" –, nämlich gegen die vielfachen Ablenkungen von derselben, die auf der deutschen, der europäischen und der westlichen Bühne inszeniert werden.

Die Ablenkungen auf diesen Bühnen spielen sich, wenn auch mit bedeutenden und relevanten Differenzen, auf die wir noch zurückkommen werden, wesentlich in zwei Inszenierungen ab. Sie werden, in einer gleichzeitigen und nicht zufälligen Weise, von der Ausklammerung zweier strittiger Geschichtsfragen begleitet, die eine einschneidende Relevanz für die Natur und die Geschichte unseres deutschen, europäischen und westlichen Mittlerraums zu jenen Ereignissen haben. Genau in dieser Dimension spielten sich die Interventionen Jelena Bonners ab, und die Preisverleihung an sie ging aus dieser Intervention hervor. Wir benennen sie hier nur kurz, um später auf sie einzugehen: Es geht zum einen um den Zugang zum Totalitären und zu seiner spezifischen Destruktivität in der sowjetischen Geschichte beziehungsweise um die Verweigerung, sie zu denken (was ja das Thema des Vortrags von Claude Lefort ist). Und es geht zweitens um die "Nach-89er"-Konstellation eines reaktiven Belgrader Regimes, das bis zur Unerträglichkeit Momente der totalitären Lüge mit denen der "Säuberung" im Namen des "Einen" verband, welches sich vom "klassenlosen Einen" zum "serbischen Einen" wandelte. Unser deutscher, europäischer und westlicher Mittlerraum in Beziehung auf die Geschehnisse und Ereignisse des vergangenen Jahres im nachsowjetischen Russland lässt sich nur um den Preis einer Abstraktion von dieser Konstellation selbst trennen.

Zwei Ablenkungen

Die erste der erwähnten ablenkenden Inszenierungen ist eine, in der bloß zwei Momente mitspielen können: Einerseits eine, im Grunde nur wissenschaftlich und machtanalytisch zugängliche, "robuste" Wirklichkeit, und eine, rein moralische und universalistische Version des Einklagens von Menschenrechten. Diese Inszenierung bedeutet für die Thematik der Tagung, dass die Diskussion dann im Wesentlichen zwischen den für die "russische Wirklichkeit" zuständigen Russlandexperten einerseits und den Einklägern der Menschenrechte in Tschetschenien sowie den Anklägern der Moskauer Vertuschungsversuche andererseits abliefe. Die professionellen Russlandexperten verleugnen dabei keinesfalls die Menschenrechtsverletzungen und die Kriegsverbrechen des zweiten Tschetschenienkrieges. Sie leugnen auch nicht die Lügenkampagnen des Putin´schen Regimes. Sie neigen jedoch fast durchgängig dazu, konkret die "komplexe russische Wirklichkeit" gegenüber allzu simplen "westlichen Urteilsmaßstäben" zu schützen. Dies trifft genau auf die Selbstverständlichkeiten der konstitutiven Dichotomie unseres vorherrschenden Gesellschafts- und Politikverständnisses, in der es zwischen "Faktizität" und "Geltung", zwischen systemisch und strategisch gestalteter Wirklichkeit und moralischer Normativität eben nur ein "und" gibt. Die Seite der universalistischen und eher moralzentrierten als politischen Menschenrechtsverteidiger ist dabei natürlich im Recht, insofern als keine historisierende Umstandserklärung heute die öffentliche und in die Politik hineinwirkende Anprangerung jener Art von an Völkermord grenzenden Menschenrechtsverletzungen vermeiden darf.

In dieser Inszenierung haben, naturgemäß, die Einkläger der Menschenrechte die moralisch besseren, aber auch die "realpolitisch" schlechteren Karten. Die "Diskussionsergebnisse" dieser Inszenierung haben wir wahrscheinlich alle, direkt oder indirekt, schon öfter miterlebt. Die "Russlandexperten" geben dabei zu, dass die zivilgesellschaftlichen Werte – auch unter den heutigen Verhältnissen, auch über das heutige Maß hinaus – durchsetzbar wären und sein sollten, wobei dann allerdings die zu harschen "westlichen Urteile" nur kontraproduktiv seien. Die normativ argumentierende Seite gesteht sodann demgegenüber implizit zu, auf der Ebene der individuellen Menschenrechte zu verbleiben (d. h. "souveränitätsberührende" Fragen, Fragen über die Minima der "nationalen Selbstbestimmung" nicht zu stellen). Sie gesteht weiter zu, dass Zuspitzungen nur dann sinnvoll sind, wenn damit zugleich punktuelle Erfolge wenigstens in Aussicht stehen.

Was dabei ausgeschlossen bleiben muss

Ausgeschlossen bleiben muss dabei die politisch-geschichtliche Frage unseres gegenwärtigen Zeitraums. Erscheint uns diese zentrale Frage denn nicht als die Frage nach einer "Souveränität in der Differenz", nach einer anderen politischen Verantwortung gegenüber der demokratisch-politischen Lebendigkeit innerhalb unserer historischen Räume?

Würde dies dann nicht eine Verschiebung jener zentralen (und rein selbstbezüglichen) "Staatsverantwortung" bedeuten, die, aus der frühen Moderne kommend, sich als "Schutzraum-Verantwortung" für die individuellen Rechte und der damit verknüpften gesellschaftlichen und ökonomischen Wohlstands- und Technologiemaximierungen versteht?

Die "andere" Verantwortung, deren Träger, genau besehen, weder der Staat in seiner klassischen Gestalt als Politikmonopol ist noch die "Gesellschaft" als das entpolitisierte, liberal-individualistische Pendant dazu sein kann – diese andere Verantwortung also, wird sie aus einer geschärfteren politischen Aufmerksamkeit erwachsen können? Aus einer politischen Aufmerksamkeit, zu der uns schon seit einigen Jahrzehnten die Werke Hannah Arendts und Claude Leforts ebenso den Weg bahnen wie etwa die von Massimo Cacciari, Giani Vattimo, Julia Kristeva oder Jaques Derrida, indem sie den Zwang lockern, durch den wir das Politische nur durch die zentralen Dichotomien von Staat und Gesellschaft, von faktisch-strategischer Politikwirklichkeit und Normativität hindurch erfassen können?

Erhält dann auch diese "andere" Verantwortung nicht in "dieser unserer Zeit" eine nie da gewesene Bedeutung? Eine Bedeutung, die sie gegenüber einer – wie Massimo Cacciari im November 1999 in diesem Rathaus sagte – allerorten geforderten, globalisierenden und biopolitischen "völligen Preisgabe der Auffassung des Menschen als zoon politicon, der in sich selbst politische Beziehung ist" und eine polis in die Welt bringen kann, gewinnt. Und bekommt vor diesem Hintergrund das Ausradieren von Städten und Dörfern der Putin´schen Souveränitätspraxis nicht eine besonders sinistre Beleuchtung?

Taucht diese Frage, auch in Bezug auf "Souveränität", in der besagten Inszenierung nicht einmal am Rande auf, so bietet diese Inszenierung auch keinen verstehenden und widerstehenden Zugang zu dem, was in unseren deutschen, europäischen und westlichen Mittlerräumen gegenüber dem postsowjetischen Russland auf dem Spiel steht. Was in dieser Inszenierung ebenso nicht auftauchen kann, ist ein Beitrag zum politischen Verständnis jenes Hintergrundes, der der konkrete Hintergrund der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken an Jelena Bonner ist. Und erst recht nicht kann in ihr die Verbindung dieses Hintergrundes mit der Arendt´schen Öffnung zur politischen Erfahrung auftauchen, die all unsere Preisverleihungen in diesem historischen Rathaus der "res publica bremensis" möglich gemacht hat. Nichts in dieser Inszenierung lässt uns weiterdenken.

Die angesprochene zweite ablenkende Inszenierung ist, in mehreren Hinsichten, von mehr politischer Natur – auch darum schon, weil sie nicht nur "Zuschauer" hat, sondern auch einen in ihr ausgemachten Gegenspieler. Die Bühne wird hier hinsichtlich der Fragen der deutschen, europäischen und westlichen Russlandpolitik dergestalt aufgemacht, als wenn sie von einer "ausgewogenen" und "im langen geschichtlichen" Rahmen denkenden "außenpolitischen Vernunft" eröffnet würde. Die Gegenspieler sind dabei all die – außerrussischen oder innerrussischen – Positionen und Forderungen, die der notwendigen Außenunterstützung der Stabilisierung des russischen politischen Rahmens widersprechen – sei es aus Kurzsichtigkeit, sei es aus partiellen Interessen oder auch von Verletztheiten her. Somit ist ausgemacht, dass die Wahrnehmungen dessen, was sich – quasi als "zugelassene Wirklichkeit" – im postsowjetischen Russland ereignet hat und zu erwähnen geeignet ist, diesem Rahmen selbst einzufügen haben. Die sich darin kristallisierenden politischen und geschichtlichen Wahrnehmungen werden, in ihren strategischen Ausrichtungen, als alternativlos fixiert. Nicht nur die außerrussischen, auch die innerrussischen – in unserem Fall: die die Widerständigkeit der Dissidenz wieder aufnehmenden – oppositionellen Weisen, das gegenwärtige Geschehen in Russland auch als eines zu verstehen, das totalitäre Momente in sich trägt, werden dabei ausgeblendet. In der Wahrnehmung Jelena Bonners sind es Momente der wirklichkeitsverleugnenden totalitären Lüge, die, wie Hannah Arendt schreibt, "den Boden zerstört", auf dem politisches Handeln möglich ist. (In der Lefort´schen Lesart bringt die totalitäre Lüge die moderne und bereits demokratie-reaktive Verschmelzung von Macht, Gesetz und Wissen und die damit verbundene entsymbolisierte Einheitsweise des Sozialen mit hervor: Man muss es wohl nicht besonders unterstreichen, dass die fast demonstrative Falschheit der Putinschen "Bekreuzigungen" nicht von einem symbolischen "Leerhalten" des "Ortes der Macht" zeugen, sondern von der Radikalisierung des Einbezugs der orthodoxen Hierarchie in einen Staatsmachtanspruch sowjetischen Typs.)

In einer kaum verborgenen Weise arbeitet in dieser Inszenierung – in der zum Gegnerischen all das dazugerechnet werden muss, was die Außenstützung der politischen Stabilität Russlands unterhöhlen könnte – die klassich-liberale ökonomische Gegründetheit der unterschwelligen planetarischen Gesellschaftsentwicklung, die letzten Endes auch die Welten des Politischen zu ihrem guten Ende trägt. Dort, wo "parlamentarische Demokratie" und "Zivilgesellschaftliches" noch nicht richtig zum Zuge kommen, ist die Stabilisierung jener politischen Rahmenbedingungen prioritär, die das untergründige und auf lange Sicht das "liberales Zivilgesellschaftliches" Hervorbringende relativ ungestört wirken lassen: "ungeduldig" Politisches, Demokratisches oder gar Fantasien einer "anderen" Verantwortung lenken hier nicht von einer "politischen Aufmerksamkeit" ab, die auf dieser Bühne ohnehin nichts zu suchen hat. Sie stören vielmehr eine Gewissheit, die, auch wenn sie sich natürlich gegen das "Ende der Geschichte" ausspricht, in Wirklichkeit meint, mit der gegenwärtigen Ordnung der Wirklichkeit und der Welt doch in ihr angekommen zu sein.

Aber was, wenn dem nicht so wäre?

Nachbemerkung

Die "politische Aufmerksamkeit", die nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wirkt, ist nichts gänzlich Utopisches und muss auch nicht in direkte "Maßnamen" übersetzt werden. Vor wenigen Tagen ließ das französische Parlament den – immerhin noch legalen – tschetschenischen Außenminister nicht in einem Ausschuss, sondern in einer Plenarsitzung zu Wort kommen. Niemand würde auch nur etwas Vergleichbares für den Deutschen Bundestag für möglich halten. Aber unmöglich wäre es trotzdem nicht.

Zoltan Szankay ist Vorstandstandsmitglied des Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e. V. in Bremen.