Ernst Köhler
Zu viel Realismus, zu viel Idealismus
Gedanken zur Kosovo-Frage
Der ungeklärte, verschleppte Status des Kosovo
erweist sich als der gefährliche Kern einer Illusion über die Möglichkeiten der
Erzwingung eines Status quo im jugoslawischen Staatsverbund und einer
multi-ethnischen Gesellschaft. Leistet die sich fortsetzende Verweigerung der
Selbständig- und Unabhängigkeit nicht geradezu der Aggression gegenüber der
serbischen Minderheit Vorschub? Und wäre eine international geregelte
Unabhängigkeit nicht auch das bessere Mittel gegen großalbanische Fantasien?
Der Westen verweigert den Kosovo-Albanern ihr großes
politisches Anliegen. Und fordert zugleich von ihnen, dass sie sich mit dem
Feind von gestern versöhnen. Diese spezielle Kombination, das Junktim von
politischer Absage und moralischer Überforderung, hat das politische Kapital
des Westens, das er sich durch die militärische Intervention von 1999 erworben
hatte, bereits weitgehend aufgezehrt. Es lässt seine Fähigkeit zu einer
tragfähigen Friedensregelung für die Region nach Dayton zum zweiten Mal in
einem mehr als fragwürdigen Licht erscheinen. Welcher Mensch auf der ganzen
Welt wird sich mit dem Feind von eben versöhnen? Der Gedanke hat keinen Halt,
keinen Boden in der Conditio humana. Er ist
unmenschlich. Er ist nur ein Steckenpferd einer verirrten »humanitären« Kultur
im Westen. Welcher Albaner im Kosovo könnte die Aussicht ertragen, demnächst
wieder ein Bürger Serbiens zu sein? »Es wäre so, als verlangte man von
jüdischen Überlebenden beispielsweise in Theresienstadt, nach ihrer Befreiung
durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg unter deutschen Beamten zu leben« (Shlomo Avineri 1999). Es steht
gar nicht in der Macht der relevanten Mächte, dieses Ausmaß an
Selbstverleugnung zu erzwingen – nicht der EU, deren entmutigendes, zeitlich
überdehntes Integrationsangebot auf dem Balkan schon erheblich an Sogkraft
verliert; nicht der USA, die immerhin an ihre eigene politische Philosophie der
Freiheit gebunden bleiben. In dieser Sicht ist das Kosovo für Serbien definitiv
verloren – so endgültig wie die »Ostgebiete« für Deutschland am Ende des
Zweiten Weltkrieges. Die kosovarischen Serben werden
nur als loyale Bürger eines unabhängigen Nationalstaates Kosovo in ihre Heimat
zurückkehren können.
Wer die Gestaltungspotenz der Großmächte dermaßen in
Zweifel zieht und zudem auch noch die »Menschenrechte« – hier die Rechte einer
ethnischen Minderheit auf ihre Heimat und ihren Besitz – von der Realisierung
bestimmter politischer Rahmenbedingungen abhängig macht, sollte freilich Argumente
haben. Er müsste plausibel machen können, dass die in den Außenministerien
Europas und Amerikas dominierende Denkschule des »Realismus« zumindest in
diesem Fall ein tief sitzendes, wenn nicht strukturelles Defizit an Realitätswahrnehmung
aufweist. Und er müsste zeigen können, dass eine gewissermaßen
kontextunabhängige Einforderung der Grundrechte – für das Kosovo wenigstens –
ins Leere geht und sogar kontraproduktiv ist.
Es ist inzwischen schon keine Frage mehr, dass das
Protektorat mit seiner politischen Strategie im Kosovo auf eine breite und
wachsende Unzufriedenheit trifft. Die internationale Verwaltung sträubt sich
nur noch dagegen, ehrlich Zwischenbilanz zu ziehen und ihre Politik zu
überdenken. Sie riskiert mit ihrer Uneinsichtigkeit und verfehlten Konsequenz,
dass die Ablehnung in Feindseligkeit umschlägt. Es ist noch nicht so weit, die
überwältigende Mehrheit der Albaner ist habituell geduldiger, pragmatischer und
friedliebender als ihr Ruf im Westen. Sie war es in dem unerträglichen
Jahrzehnt vor dem Krieg von 1999, und sie hat es – mit der Bestätigung der gemäßigt-konservativen Rugova-Partei
(LDK: Demokratischer Bund des Kosovo) – in sämtlichen Nachkriegswahlen wiederum
unter Beweis gestellt. Es musste schon einiges zusammenkommen, damit aus der
schier grenzenlos durchgehaltenen passiven Resistenz gegen das Milosevic-Regime
der bewaffnete Kampf mit großem Rückhalt in der Bevölkerung werden konnte: das
evidente und zuletzt schon beinahe lächerliche Scheitern Ibrahim Rugovas; die Nichtbeachtung der Kosovofrage in Dayton; die
Anarchie im benachbarten Albanien. Und es müsste vermutlich auch jetzt wieder
etwas ganz Krasses und Erschütterndes passieren, ehe die radikalen Kräfte in
dieser Gesellschaft der Nüchternen und Angespannten eine echte Chance erhielten.
Die offene internationale Parteinahme für Serbien und seine Ansprüche auf das
Kosovo wäre zweifellos dieser Schock – das weiß man, das ahnt man und nimmt
seine Zuflucht daher zu einer Politik der Vertagung. Die Entscheidung über die
staatliche Zukunft des Kosovo (»Status«) ist bislang bekanntlich aufgeschoben
worden. Zu einer Politik der Als-ob-Vertagung –
richtiger gesagt: Man kann es ohne Übertreibung auch eine Politik der
verdeckten, schleichenden Parteinahme für Serbien nennen, die sich auch für
gewisse überschlaue Schachzüge nicht zu schade ist. So kommt nach der
Verfassung des künstlichen, ungewollten und überhaupt nur unter dem massiven
Druck der EU zustande gekommenen Staates »Serbien und Montenegro« das Kosovo im
Auflösungsfall zu Serbien. Das kommt einer Taktik des fait
accompli gleich und befindet sich kaum im Einklang mit der für das Kosovo
maßgeblichen Sicherheitsratsresolution 1244 vom 10. Juli 1999, die ja noch wie
selbstverständlich von einer fortdauernden Existenz Jugoslawiens ausgegangen
war. Man will Zeit gewinnen. Vielleicht hofft man tatsächlich, dass darüber die
in den Jahren von Apartheid und Krieg erworbenen Wunden einigermaßen verheilen.
Aber wie viel Zeit brauchen solche Wunden?
Die amtliche Begründung für die Verschiebung der
Statusfrage auf einen günstigeren Zeitpunkt lautet denn auch anders: Danach
muss zuerst im Kosovo selbst ein demokratischer Rechtsstaat aufgebaut werden,
der nicht nur auf dem Papier steht (»Standards«). Was könnte – zumindest in westeuropäischen
Augen – überzeugender sein als dieses Etappenmodell: »Standards vor Status«?
Zuerst eine frei gewählte Selbstverwaltung mit schrittweise immer mehr
Kompetenzen; zuerst eine starke und auch noch gesetzestreue Polizei; zuerst
eine unabhängige, unbestechliche und auch noch investigative
und strafende Justiz; zuerst die volle Bewegungsfreiheit und Sicherheit aller
ethnischen Minderheiten im Lande, und erst dann, erst wenn das Land sich
grundlegend reformiert hat, Verhandlungen, zunächst einmal serbisch-kosovarische
Verhandlungen über das heikle und höchst kontroverse Problem der
Staatenbildung. Die gewählte politische Reihenfolge wirkt so überzeugend, weil
sie unserem fundamentalen Misstrauen gegenüber dem verspäteten, geradezu
anachronistisch anmutenden Unabhängigkeitsgedanken der Kosovo-Albaner Rechnung
trägt. Und die Distanz ist im Wechselbad der Gefühle seit 1999 gewiss nicht
geringer geworden – Mitgefühl mit den albanischen Opfern einer im Zeitraffertempo
durchgeführten terroristischen Massenvertreibung ungeheuerlichen Ausmaßes;
Enttäuschung, Entsetzen über die brutale Antwort der Albaner nach dem Abzug der
serbischen Truppen. Was für eine Sorte von Nationalstaat kann aus dieser Welt
der Gewalt gegen Gewalt schon herauskommen? Selbst ein hoch angesehener albanischer
Intellektueller wie Veton Surroi,
Chefredakteur der Tageszeitung Koha Ditore in Prishtina, hat die
Vertreibung der Roma aus dem Kosovo öffentlich als »Rassismus« charakterisiert.
Das Problem mit diesem
vorsichtigen, gegen böse Überraschungen nach Kräften sich wappnende und auch
vom »erzieherischen« Standpunkt ganz einleuchtenden Prozedere ist nur, dass es
sich selber stört und behindert und untergräbt. Das ist das vernichtende
Ergebnis eines einflussreichen, auch von der politischen Klasse im Kosovo
selbst gern aufgenommenen Berichts der International Crisis
Group (A Kosovo Roadmap I: Adressing
Final Status, March 1st, 2002). Der ungeklärte,
verschleppte – oder sollte man besser sagen: der stillschweigend vorentschiedene? – Status schädigt oder drückt die viel
beschworenen Standards. Die andauernde Erbitterung und der Hass zwischen der
albanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit sind eben keineswegs nur,
wie immer wieder dargestellt, eine Altlast der kolonialistischen Unterdrückung
unter Slobodan Milosevic und, schon seltener berücksichtigt, das Erbe einer
hundertjährigen Geschichte der serbischen Gewalt und der albanischen
Gegengewalt. Sie verdanken sich auch den ganz akuten Ängsten der einen (der albanischen)
und den immer noch flackernden Hoffnungen der anderen (der serbischen) Seite.
Die einen sehen schon den verhassten serbischen Staat mit seinen Polizisten und
Soldaten zurückkommen – die anderen versuchen sich einzureden, die Zeit arbeite
ganz gewiss für sie, sie bräuchten nur eisern am »Status quo ante« serbischer
Staatshoheit über die Provinz festzuhalten. Die Erfahrung der Ohnmacht, das
Gefühl, fremden Entscheidungen hilflos ausgeliefert zu sein, steht hier gegen Unbelehrbarkeit.
Und es ist – anders als in Bosnien – eine Ohnmacht nach der freudigen,
um nicht zu sagen: triumphalen, Wiederinbesitznahme des eigenen Landes. Die
Weigerung der kosovarischen Serben, sich auf den Boden
der neuen Verhältnisse zu stellen, spürt andererseits selbst ihre trotzige
Verbissenheit, ihre erschlichene Legitimation, ihre Aussichtslosigkeit. Sieger,
die keine sein dürfen; Verlierer, die keine sein wollen – das Land kann nicht
zur Ruhe kommen unter der fehlgeleiteten Politik der internationalen Gemeinschaft.
Das gilt nicht nur für die immer noch weitgehend isolierten albanischen
Extremisten mit ihren gelegentlichen blutigen Anschlägen gegen serbische
Rückkehrer und albanische »Verräter«. Und auch nicht nur für die radikalen
serbischen Nationalisten im nördlichen Teil von Mitrovica
und Umgebung – entscheidend ist vielmehr, dass sich die Massen im Kosovo nicht
bewegen und nicht bewegen werden, solange das Protektorat seine Politik nicht
revidiert und das Statusproblem endlich auf die politische Agenda setzt.
Es ist leicht, die in der Tat obsessiv
und steril wirkende Fixierung der kosovarischen
politischen Parteien und des jungen Parlaments in Prishtina
auf die Frage der nationalen Unabhängigkeit zu belächeln und zu bespötteln –
die gebetsmühlenartig wiederholten Stellungnahmen des alternden, ausgebrannten
Ibrahim Rugova haben ja auch wirklich etwas
Deprimierendes. Aber die Blockade des politischen Lebens im Kosovo ist von den
relevanten Staaten des Westens wesentlich mitverschuldet. Man konzediert dem
Land ein frei gewähltes Parlament – versagt ihm aber den Parlamentarismus.
Getreu der Resolution 1244 hat die internationale Verwaltung im Kosovo (UNMIK)
eine politische Dynamik freigesetzt, die sie aber getreu der Resolution 1244
nicht freigeben darf. Man kann ein so altes und ein so schwer gezeichnetes Land
schlecht mit aller Macht im Zustand einer »Pädagogischen Provinz« festhalten –
und sich dann darüber beschweren, dass es sich politisch unreif verhält. Der
mutige, vielleicht verquere Vorstoß eines im Westen zum radikalen Nationalisten
abgestempelten Parteipolitikers wie Hashim Thaci (PDK: Demokratische Partei von Kosova),
der sich im April des Jahres überraschend für ein »Moratorium« in der Frage der
Unabhängigkeit ausgesprochen hat, sollte diese Selbstgerechtigkeit eigentlich
beschämen. Ramush Haradinaj,
ebenfalls ehemaliger UCK-Kommandant und heute Führer
der drittgrößten Partei im Kosovo (AKK: Allianz für die Zukunft von Kosova), widerspricht seinem Konkurrenten in diesem Punkt
auf das Schärfste, scheint aber wie dieser ernsthaft nach einem Ausweg aus der
Sackgasse der ewigen patriotischen Deklamationen zu suchen. Schon dass der
große alte Mann der albanischen Politik im Kosovo, Mahmut
Bakalli, Schöpfer der berühmten oder (aus serbischer
Sicht) berüchtigten Verfassung von 1974, mit Haradinaj
eng zusammenarbeitet, ist ein Anhaltspunkt dafür. Vor allem aber wendet die
Partei sich an junge, städtische, besser qualifizierte Wähler, die mit einem
leeren, um sich selbst kreisenden Nationalgedanken jenseits einer ökonomischen
und gesellschaftspolitischen Modernisierungsperspektive (beruflicher Aufstieg
allein nach Qualifikation und individueller Leistung; Gleichberechtigung der
Frau) nichts anzufangen wissen.
Den Vorschlag, der den gordischen Knoten der
Kosovofrage auflösen könnte, gibt es längst – es ist hier, wie in anderen
Krisenzonen der Welt auch, keine Frage der politischen Vorstellungskraft,
sondern des politischen Willens.
Vorgelegt hat das Konzept bereits die hochkarätig
zusammengesetzte »unabhängige internationale Kommission zum Kosovo« (unter dem Vorsitz
von Richard Goldstone) in ihrem Abschlussbericht vom
Jahre 2000 (The Kosovo Report, Oxford 2000):
»Die Kommission ist zu dem Schluss gekommen, dass die
beste erreichbare Option für die Zukunft des Kosovo eine ›bedingte
Unabhängigkeit‹ (›conditional independence‹)
ist. Das bedeutet die Erweiterung der in 1244 zugesagten Autonomie und
Selbstverwaltung mit dem Ziel der effektiven Selbstregierung des Kosovo
außerhalb von Jugoslawien, aber innerhalb eines internationalen Rahmens. Die
internationale Gemeinschaft würde am Anfang die Verantwortung übernehmen für
eine Garantie der Sicherheit und die Aufsicht über den Schutz der
Minderheitenrechte. Sie würde das Kosovo ferner in einen wirksamen
Stabilitätspakt integrieren.«
Wer den Bericht heute liest, ist überrascht über die
Distanz zu 1244 als einer heillos zwiespältigen und kaum lange zu haltenden
Übergangslösung und noch mehr über die Einsicht in die Unwiderruflichkeit des
albanischen Willens zur Trennung von Serbien. Beides scheint inzwischen wieder
verloren gegangen zu sein – aber, so ist man versucht mit Viktor Meier (Jugoslawiens
Erben, 2001) zu räsonieren, inzwischen ist ja auch Slobodan Milosevic von
der Macht vertrieben worden und hat das »demokratische« Serbien seinen angestammten Spitzenplatz in der Südosteuropapolitik des
Westens mit frappierender Leichtigkeit wieder eingenommen.
Die Angst davor, im UN-Sicherheitsrat den alten, halb
vergessenen Streit zwischen den Befürwortern und Gegnern einer Intervention der
NATO im Kosovo-Konflikt wieder aufzuwärmen – für die Kommission noch ganz oben
in der Reihe der Bedenken –, kann den seltsamen Schwund an Erkenntnis
jedenfalls kaum erklären. Eher hätte man wohl an eine wohl verankerte
Denktradition der Sicherheitspolitik zu denken, die im Zuge der forcierten,
nahezu bedingungslosen politischen Reintegration Serbiens wieder voll ins Spiel
zu kommen scheint. Für die Kosovo-Frage lässt sie sich in drei Punkten
resümieren: Festschreibung der Staatsgrenzen – keine weitere »Balkanisierung
des Balkans«; feste, unmissverständliche Vorgaben für den albanischen Nationalismus,
der zweifellos explosive »großalbanische« Tendenzen in sich birgt; Rücksicht
auf Bosnien, dessen nach wie vor schwache und eigentlich nur am Hohen Repräsentanten
der internationalen Gemeinschaft hängende Staatlichkeit nicht noch weiter
unterminiert werden darf.
Gehen wir sie von hinten nach vorn durch: Das
Argument, die zentrifugalen Kräfte in Bosnien-Herzegovina
seien schon stark genug, könnte sich ja auch gegen das Abkommen von Dayton
wenden und auf eine Revision der dort ausgehandelten Quadratur des Zirkels
abzielen. Tut es aber nicht – aber wenn man schon unbedingt an der Republika Srpska festhalten will,
sollte man wenigstens den einen und den anderen Fall sauber auseinander halten.
Was hätte auch dieser aus Terror, Massenmord und systematischer Vertreibung geborene Parastaat mit einer alten
Provinz wie dem Kosovo zu tun? Eine Parallelität oder Analogie gibt es für die
unverbesserlichen serbischen Nationalisten in Banja Luka – aber für wen denn sonst
noch? Wenn man dem Kosovo erlaubt unabhängig zu werden, bricht unvermeidlich
auch die serbische »Entität« in Bosnien weg – was soll das sein: eine
Volksbewegung von der Unwiderstehlichkeit eines Mechanismus, stärker als wir,
mächtiger als alle Politik? Oder – ganz anders – ein Deal vielleicht, ein skrupelloser
politischer Handel: Serbien tauscht das Kosovo gegen die Republika
Srpska? Es müsste freilich unüberhörbar ausgesprochen
werden – und beizeiten, dass es den Mechanismus nicht gibt. Und dass es auch
das Kompensationsgeschäft nicht geben wird.
Auch die Wahrnehmung des albanischen Nationalismus
bei uns zeigt nicht selten eine Neigung, die Handlungsspielräume der Politik
kleiner zu machen, als sie sind. Da springt dann im Nu der Funke über von der
Unabhängigkeit des Kosovo auf die Albaner in Westmazedonien, die im Grunde
ihrer ungezähmten Herzen immer schon von einer Sezession geträumt haben. In
diesem überaus wirklichkeitsnah und illusionslos wirkenden Szenarium der leicht
entzündlichen balkanischen Kettenreaktion nimmt sich die Einschätzung eines Skelzen Maliqi, eines der
kühlsten und subtilsten politischen Köpfe des Kosovo, schon direkt ein wenig
verrückt aus: »Die Lösung der Kosovo-Frage führt auch zur Lösung der
albanischen Frage auf dem Balkan. In strategischen Analysen stößt man häufig
auf die falsche Annahme, dass ein albanischer Kontrolle überlassenes Kosovo die
Voraussetzung für so genannte großalbanische Ambitionen bilde und zur
Destabilisierung und Zerstörung Makedoniens führen werde. Ich behaupte das
Gegenteil. Gerade die Lösung der albanischen Frage wird den großalbanischen
Nationalismus beruhigen und Makedonien als zusammengesetzten Staat mit einer
Lage erhalten, die derjenigen Belgiens ähnlich wäre. So wie Brüssel die
Metropole Europas ist, könnte Skopje perspektivisch gesehen zur formalen Metropole
des Balkans werden, unabhängig davon, wem alles, besonders den Griechen, aber
auch den Bulgaren, dies unannehmbar erschiene.«
(Thomas Schmid (Hrsg.): Krieg im Kosovo, 1999)
Man muss unwillkürlich an István Bibó
und seine Studie über Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei
(1946) denken – den klassischen Text dieser befremdlichen Logik, nach der das
bereits halb oder ganz Entfesselte nur durch Entgegenkommen zu besänftigen und
zu zivilisieren sei. Das größte aktuelle Problem der mazedonischen Politik ist
im Übrigen gar nicht der albanische, sondern der slawisch-mazedonische
Nationalismus mit seinem fast schon serbisch anmutenden, exklusiven Anspruch
auf den Staat. Es bleibt abzuwarten, ob er sich unter dem Druck der EU so weit
mäßigen kann und zurücknimmt, dass die Albaner Mazedoniens aus ihrem Status als
Bürger zweiter Klasse tatsächlich herauskommen. Einige abgehalfterte
Altpolitiker beider Seiten erklären das Projekt des interethnischen Ausgleichs
oder der metaethnischen, allgemeinen
Staatsbürgerschaft freilich schon jetzt für endgültig gescheitert – für
Mazedonien, für das Kosovo, für den Balkan überhaupt.
Bleibt die Maxime von der Unverrückbarkeit der
Grenzen – der schwächste Punkt, genauer betrachtet. Denn welchen überzeugenden
und legitimen Grund hätte die internationale Gemeinschaft, das Kosovo so ganz
anders zu behandeln als Kroatien, Slowenien, Bosnien, Mazedonien, Serbien? Ob
nun Teilrepublik im Staatsverband des sozialistischen Jugoslawien oder – mit
der Verfassung von 1974 den Republiken politisch-staatsrechtlich so gut wie
gleich gestellte – »Autonome Provinz«: Wo läge da der Unterschied? Die Frage
ist oft gestellt worden: Wieso sollte ausgerechnet beim Kosovo Schluss sein mit
der internationalen Anerkennung der staatlichen Zerfallsprodukte Jugoslawiens?
Aber wenn eine Sonderbehandlung des Kosovo sich nicht auf irgendein Spezifikum in der staatlichen Vorgeschichte des Landes
berufen kann, worauf dann? Das Kosovo eignet sich kaum dafür, an ihm etwa ein
politisches Exempel für die ganze Region zu statuieren. Es war der Westen
selber, der die heiligsten Grundsätze der UNO-Charta von 1945 aufgegeben hat:
in Bosnien. Es wäre eine katastrophale Ungerechtigkeit und würde den Frieden in
der Region schwer gefährden, wollte er die von ihm selbst verratenen Grundsätze
jetzt auf Kosten, auf dem Rücken des Kosovo gewissermaßen, wieder herstellen.
In Kriegsbosnien war es, wie Brendan Simms exemplarisch für die britische Außenpolitik und ihren
Chef Douglas Hurd dargelegt hat, letztlich ein entschlossener, nüchterner,
risikobewusster »Realismus« in der Nachfolge der desillusionierenden Erfahrung
der Suez-Krise, der dem Völkermord an den bosnischen Muslimen sehenden Auges
freien Lauf gelassen hat (Unfinest Hour, Penguin 2002). In
Nachkriegskosovo wäre es ein »gebrannter« Realismus – ein Realismus, wenn nicht
gerade mit schlechtem Gewissen (nach der Errettung des Kosovo mit militärischer
Gewalt), so doch mit Bedarf an symbolischer Selbstbekräftigung, der dem kleinen
Land Gewalt antäte.
Nicht zufällig war es Zoran Djindjic,
der scharfsinnige, wendige Ministerpräsident Serbiens – ein Kenner der
westlichen Mentalität –, der die tiefe Unschlüssigkeit der internationalen
Gemeinschaft in der Kosovo-Frage begriff und geistesgegenwärtig zu nutzen
versuchte. Wäre er nicht gleich zu Beginn seiner Initiative ermordet worden,
hätten UNMIK, UN-Sicherheitsrat, die Diplomatie des Westens, aber auch die
albanische politische Elite in Prishtina schon bald
unter einen erhöhten Druck geraten können. Unverzüglich seien Verhandlungen
über die Zukunft des Kosovo aufzunehmen. Die Provinz sei bereits dabei, sich
unter der Hand in einen unabhängigen Nationalstaat zu verwandeln. In den
dreieinhalb Jahren ihrer Verantwortung habe die internationale Verwaltung wenig
oder nichts für die serbischen Flüchtlinge getan. Unmittelbar vor seinem Tod
schlägt Djindjic dann, schon weniger überraschend,
die ethnische Aufteilung oder »Föderalisierung« eines autonomen, aber
unabdingbar bei Serbien zu verbleibenden Kosovo nach dem Modell von Bosnien
oder auch Zypern vor: »Es gibt keinen schnelleren Weg, das Kosovo monoethnisch
werden zu lassen, als auf der Idee der Multiethnizität
zu insistieren. Es gibt keinen schnelleren Weg, die Serben im Kosovo zu lassen,
als zu akzeptieren, dass sie eine nationale Gemeinschaft sind, die sich nicht
in ein multiethnisches Kosovo assimiliert. Das ist eine Tatsache. Wenn die
internationale Gemeinschaft sagt, das Kosovo werde multiethnisch sein, weil das
humanistisch sei, so sollen sie doch klar sagen, dass es ein Kosovo ohne Serben
und ein rein ethnisch-albanischer Staat ist. Wenn es so sein wird, dann sollen
sie es doch offen sagen.«
Der Player Serbien hat sich zurückgemeldet. Man mag über die Reformer in Belgrad und ihren unerwarteten Populismus enttäuscht sein, aber wenigstens liegen die Karten jetzt auf dem Tisch. Lebte Zoran Djindjic noch, wären die Chancen für einen schließlichen Verzicht Serbiens auf das Kosovo sehr wahrscheinlich größer. Man kann nur hoffen, dass der von ihm so geschickt eingebrachte Lösungsvorschlag nicht auch die heimliche Präferenz der EU und Amerikas ist. Die unentwegte emphatische Beschwörung der »multikulturellen Gesellschaft« wäre dann nur der Paravent, hinter dem sich längst eine opportunistische Nachgiebigkeit vorbereitet hätte – ein neuerliches Appeasement dem großserbischen Nationalismus gegenüber. Und der prinzipienschwere Diskurs über die Unverrückbarkeit der Staatsgrenzen erschiene noch einmal in einem anderen Licht. Nehmen wir einmal an, es verhalte sich glücklicherweise nicht so. In diesem Fall wird die internationale Gemeinschaft nicht darum herumkommen, dem guten Willen und der politischen Reife der Kosovo-Albaner zu vertrauen. Angesichts der bekannten und soeben von Amnesty International wieder dokumentierten umfassenden Entrechtung der Minderheiten im Kosovo (Prisoners in our own homes, April 2003) wäre das ein großes Wagnis. Mehr noch: Man müsste sich damit abfinden, dass die unveräußerlichen Grundrechte der Minderheiten – von der Bewegungsfreiheit bis zur Gleichheit vor dem Gesetz – für die große Mehrheit der Albaner gegenwärtig so etwas wie eine politische Verhandlungsmasse darstellen: Rechte für Unabhängigkeit. Es handelt sich dabei selbstverständlich nicht um ein bewusstes und gezieltes Erpressungsmanöver. Aber der Besucher wird das Gefühl nicht los, dass das allgemeine Schweigen zu der prekären, nicht selten unerträglichen Lage der anderen in ihren Enklaven eine Antwort auf die das Land belastende und demütigende politische Ungewissheit ist. Eine indiskutable Antwort, versteht sich – kann man sich auf so etwas überhaupt einlassen? Es ist ein Versagen – politisch wie moralisch. Die gängige Interpretation, die darin wieder nur den alten, historischen Typus des südosteuropäischen Nationalismus entdecken möchte, dürfte freilich in die Irre gehen. Auch methodologisch: Die lebenden Menschen reproduzieren niemals bloß irgendeine chronische Struktur. Der Fremde hat nur ganz ausnahmsweise einmal den Eindruck, einen Fanatiker vor sich zu haben. Wenn es denn zählt: Auf die eine oder andere Weise signalisieren nahezu alle albanischen Gesprächspartner Weltoffenheit, Interesse an »Europa«, Verständnis für die reale ökonomische Situation des Landes. Aber noch einmal: Darf man es riskieren, dem Kosovo auf diese und andere Zeichen der Vernunft hin einen gewaltigen Vertrauensvorschuss zu gewähren? Der Westen steht hier an einer Wegkreuzung – Toleranz einklagen oder Toleranz erleichtern; Rechtsstaatlichkeit zur Bedingung machen oder die Bedingung für Rechtsstaatlichkeit schaffen; internationale Verhandlungen mit offenem Gegenstand versprechen oder Verhandlungen über den konkreten Weg des Kosovo in die Unabhängigkeit beginnen – jetzt.
Kommune.
Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe Oktober/November 2003 / 5/03.