Harry Kunz
Vor dem Backlash?
Rürups Welt: Zwischen Sozialreform und Neoliberalismus
Die Signale,
die die Rürup-Kommission mit ihrem Bericht
ausgesendet hat, sind nicht eindeutig. Bei der Rentenversicherung konstatiert
unser Autor ein Ausweichen vor einer Erwerbstätigenversicherung, beim
Gesundheitssystem stehen sich scheinbar Kopfprämie und Bürgerversicherung
gegenüber. Ein Hauptproblem bleibt die Pflegeversicherung.
Gleichmacherei statt Fairness
Viel Aufwand verwendet der
Abschlussbericht der Rürup-Kommission, Reformoptionen
in der Rentenpolitik zu zerreden.(1) Mit dem Prinzip der »Nichtdifferenzierung«
argumentiert man gegen einen Rentenbeginn nach einer Mindestversicherungsdauer
von 40 bis 45 Jahren. Mit dem Beharren auf die »Beitragsbezogenheit« begründet
man die Ablehnung selektiver Rentenkürzungen bei höheren Einkommensgruppen. Das
Prinzip der »Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen« muss schließlich für die
Absagen an eine steuerfinanzierte Grundrente und an einen Ausbau des
Familienlastenausgleichs innerhalb des Rentensystems herhalten.
Solche fantasielose Prinzipienreiterei
ist interessengeleitet: Immerhin präsentiert sich das bundesdeutsche
Rentensystem im internationalen Vergleich noch immer als ein leistungsstarkes
System für Durchschnittsverdiener und besonders für Arbeitnehmer mit
überdurchschnittlichem Einkommen – nicht aber für Personen mit niedrigen
Erwerbseinkünften. An dieser Verteilungswirkung der gesetzlichen Rente will man
festhalten. Ein »Nachhaltigkeitsfaktor« und die Anhebung des Regelrentenbeginns
für die nach 1969 Geborenen auf 67 Jahre sollen hierzu dienen. Der
Nachhaltigkeitsfaktor sorgt dafür, dass künftige Lohnerhöhungen nur noch zu
einem Drittel an Rentner weitergegeben werden. Das durchschnittliche
Rentenniveau von derzeit 48 Prozent würde mit der bereits beschlossenen
Riester-Formel und diesem Nachhaltigkeitsfaktor bis 2030 auf rund 40 Prozent
fallen. Auf die damit verbundene drastische Zunahme der Altersarmut geht das
Mehrheitsvotum der Kommission mit keinem Satz ein. Zu Unrecht. Denn die umlagefinanzierten
Rentensysteme tragen die Hauptlast der Alterssicherung. Vier von fünf Euro der
monatlichen Senioreneinkommen stammen hieraus, im Osten kommt ihnen faktisch
eine Alleinverantwortung für die Alterssicherung zu. Und wer nicht auf ein
reiches Erbe zurückgreifen kann, wird auch künftig auf die gesetzliche Rente
(und auf eine ergänzende private Altersvorsorge) angewiesen sein.
Verzwickter wird es bei der geforderten
Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Sicherlich wird eine stärkere
Erwerbsbeschäftigung Älterer unumgänglich, wenn die Arbeitslosenzahlen
demografiebedingt rückläufig sind. Die Lebenserwartung 65-Jähriger – und damit
auch ihre Rentenbezugsdauer – hat sich seit 1960 bei Männern um drei Jahre und
bei Frauen um viereinhalb Jahre erhöht; in den nächsten Jahrzehnten ist ein
weiterer Anstieg wahrscheinlich. Doch die geforderte starre »Rente mit 67«
trifft aus guten Gründen in der Bevölkerung auf Ablehnung. Rigide
Regelaltersgrenzen blenden nämlich wichtige Trends in der Arbeitswelt aus: entstandardisierte (Erwerbs-)Biografien, höhere
Lohnspreizungen als Folge eines boomenden Niedriglohnsektors, verschwimmende
Grenzen zwischen Arbeitnehmern und (Schein-)Selbständigen und vermutlich auch
auseinander driftende Erwerbschancen innerhalb der Gruppe Älterer. Alle
Erwerbspersonen dem gleichen Muster zu unterwerfen, heißt vor diesem
Hintergrund, im Namen der Gleichbehandlung neue soziale Verwerfungen zu
fördern. Zum einen ist nämlich auch künftig ein Interesse des Arbeitsmarktes an
jenen Älteren unwahrscheinlich, die körperlich stark belastende Arbeiten
verrichten. Solche Arbeitnehmer, überwiegend aus dem Arbeiterbereich, müssten
in Rürups Welt vermehrt bis 67 Jahre in der
Arbeitslosigkeit verharren. Dies ist unhaltbar, zumal die Rürup-Kommission
gleichzeitig sowohl die Altersrenten bei einer Schwerbehinderung als auch die
so genannten Arbeitsmarktrenten streichen will. Diese Optionen ermöglichen
heute noch erwerbsgeminderten Älteren, die aufgrund der Arbeitsmarktlage keine
realen Beschäftigungschancen mehr besitzen, einen früheren Rentenbeginn ohne
happige Abschläge. In dem Maße, wie man auf rigide Regelaltersgrenzen setzt,
mutieren solche Brücken indes zu Ausweichoptionen, um der Rente mit 67 zu
entgehen.
Eine auf die gesellschaftliche
Ausdifferenzierung angemessen antwortende Rentenpolitik müsste demgegenüber
erstens Arbeitnehmern weiterhin eine Ausstiegsoption auf der Grundlage einer
Mindestversicherungsdauer eröffnen. Angesichts der demografischen Entwicklung
sollte diese Grenze allerdings eher bei 45 als bei 40 Erwerbsjahren (bzw.
entsprechenden Kindererziehungs- oder Pflegezeiten) liegen.
Zweitens müsste die Rentenversicherung
zu einer Erwerbstätigenversicherung ausgebaut werden. Nicht mehr ein bestimmter
Erwerbsstatus, sondern die Integration aller Formen der Erwerbstätigkeit bietet
den geeigneten Bezugsrahmen für die Altersversorgung. Ein solches Rentensystem
muss dabei nicht nach dem »Alles-oder-nichts-Prinzip« funktionieren. Der
Frankfurter Sozialwissenschaftler Diether Döring plädiert beispielsweise dafür,
für Selbständige nur eine Mindestversicherungspflicht zu etablieren, die durch
berufsständische Systeme oder eine individuelle Vorsorge aufgestockt wird.
Dass sich Rotgrün mit der im Herbst
geplanten Rentenreform einem solchen Konzept komplexer
Gleichheit öffnet, steht freilich nicht zu erwarten. Vielmehr droht wiederum
ein trostloses Streichkonzert, in dem eine Nullrunde für Rentner und die
Einführung eines Nachhaltigkeitsfaktors mit erschwerten Zugängen zu
Erwerbsminderungsrenten und zu Altersrenten für Menschen mit einer Behinderung
verbunden wird.
Kopfprämie oder Bürgerversicherung ?
Demgegenüber klar zukunftsweisend sind
die Vorschläge zur künftigen Finanzierung der Krankenversicherung:
Gesundheitsprämien und Bürgerversicherung geben eine Antwort, wie die
Abhängigkeit des Gesundheitssystems von der Lage auf dem Arbeitsmarkt abgebaut
und das damit verbundene demografische Problem der Gesundheitsversorgung – mit
mehr Rentnern stehen steigende Pro-Kopf-Ausgaben niedrigeren Pro-Kopf-Beiträgen
gegenüber – gemildert werden kann.
- Kopfprämien eröffnen eine Abkehr von
der lohnbezogenen Beitragsbemessung: Jeder erwachsene Versicherte zahlt einen
Beitrag, der den jeweils durchschnittlichen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben seiner
Krankenkasse entspricht. (Bei einer beitragsfreien Mitversicherung von Kindern
liegt dieser Betrag derzeit bei durchschnittlich 210 Euro im Monat.) Die
bisherigen Arbeitgeberbeiträge werden als Lohn ausbezahlt, die Umverteilung
innerhalb des gesetzlichen Krankenversicherung wird
zugunsten steuerlicher Zuschüsse abgeschafft. Private und gesetzliche Kassen
konkurrieren miteinander.
- Die Bürgerversicherung integriert
alle Gruppen der Bevölkerung in die Krankenversicherung. Die
Versicherungspflichtgrenze wird aufgehoben, andere Einkunftsarten bis zu einer
neuen Beitragsbemessungsgrenze von 5100 Euro einbezogen. Private Versicherungen
konkurrieren mit den gesetzlichen Kassen oder beschränken sich auf ein Angebot
medizinisch nicht notwendiger Leistungen.
Beide Modelle unterscheiden sich
zunächst in ihrer Verteilungswirkung. Die mit einer Bürgerversicherung
verbundenen geringeren Beitragssätze kämen vorrangig kleinen und mittleren
Einkommensbeziehern sowie Familien mit Kindern zugute. Ein Vierpersonenhaushalt
würde bis zu einem Haushaltseinkommen von 50000 Euro im Jahr nicht schlechter
gestellt. Kopfprämien begünstigen hingegen sehr gut Verdienende. Ihre sonstige
Verteilungswirkung ist wesentlich vom Ausmaß der Transfers zu Geringverdienern
abhängig. Bei einer aktuellen Umstellung der gesetzlichen Krankenversicherung
auf Kopf-Beiträge wären immerhin rund 35 Millionen Versicherte mit Beiträgen
von über fünfzehn Prozent ihres Haushaltseinkommens belastet. Im untersten Einkommensfünftel würden die Prämien zum Teil das gesamte
Haushaltseinkommen auffressen.
Die Achillesverse der
Bürgerversicherung bildet neben der politischen Durchsetzbarkeit ihre geringe
Entlastung des Faktors Arbeit. Nur ein halber Beitragsprozentpunkt der
Krankenversicherung würde gegenwärtig aus Nichtlohneinkünften resultieren. Auf
das durch Arbeitslosigkeit und ein sinkendes Rentenniveau noch verschärfte
demografische Problem der Gesundheitsversorgung gibt die Bürgerversicherung
somit nur eine Teilantwort.
Deshalb wird immer häufiger eine
Kombination der Modelle ins Spiel gebracht. Jeder Bürger müsste demnach ein
Standardpaket an Gesundheitsleistungen mit einer »Bürgerprämie« erwerben, deren
Höhe sich im Wettbewerb von privaten und gesetzlichen Kassen einspielt. Dieses
Modell, auf das führende Bündnisgrüne ihre Partei derzeit einschwören, erbt
freilich fast alle Probleme des Kopfprämien-Modells: Zwar würde die
solidarische Umverteilung zwischen Gesunden und Kranken verbessert, wenn
bislang privat Versicherte einbezogen werden. Ein Ausgleich zwischen Arm und
Reich, Alt und Jung sowie zwischen Lebensformen mit und ohne Kinder wäre jedoch
nicht mehr Aufgabe der Krankenversicherung, sondern bliebe von steuerlichen
Transfers – und damit von wirtschaftlichen und politischen Konjunkturen – abhängig.
Der entscheidende Einwand gegen
Bürgerprämien und Kopfpauschalen liegt aber darin, dass beide als Einfallstor
für die Zerschlagung des Leistungskataloges der Krankenversicherung wirken,
indem sie den sozialen Konsens aufkündigen, eine notwendige medizinische
Versorgung einkommensunabhängig zu gewährleisten. Weit stärker als
einkommensbezogene Kassenbeiträge laden beide Modelle zu privaten
Selbstbeteiligungen und damit zu einer schleichenden Erosion des
Versicherungsschutzes ein. Um bei absehbar weiter steigenden
Gesundheitsausgaben einen Prämienanstieg zu vermeiden, dürften gesetzliche und
private Kassen nämlich mit weitgehenden Wahlleistungstarifen und entsprechenden
Beitragsermäßigungen um gesunde Kunden buhlen. Eindeutige Verlierer wären
Niedrigeinkommensbezieher mit schlechter Gesundheitsverfassung, zumal die
steuerliche Prämiensubvention bei ihnen kaum auf Selbstbeteiligungen ausgedehnt
wird. Deshalb bleibt bei der notwendigen Reform der Finanzierung der
Gesundheitsversorgung die Problematik der weiteren Privatisierung von
Krankenbehandlungskosten der gesundheitspolitisch sensibelste Punkt.
Im Alter ungepflegt?
Fraglos ist die Pflege jener Zweig der
Sozialversicherung, der am stärksten von der gesellschaftlichen Alterung
betroffen ist. Bereits im letzten Jahr erwirtschaftete die Pflegeversicherung
ein Defizit von 400 Millionen Euro. Ohne Reformen steht sie angesichts eines
gesetzlich gedeckelten Beitragssatzes ab 2007 vor
einem Kollaps. Zwar besteht kein linearer Zusammenhang zwischen der
gesellschaftlichen Alterung und einem vermehrten Pflegeaufwand. Weil die
Vermeidung von Pflegebedürftigkeit aber weiterhin kein wichtiges Ziel der
(Gesundheits-)Politik darstellt, ist die Annahme der Rürup-Kommission
nicht abwegig, wonach künftig eine höhere Lebenserwartung mit einer deutlich
vermehrten Pflegebedürftigkeit einhergeht. Die Zahl der Gepflegten wird demnach
in den nächsten 25 Jahren von aktuell 1,9 auf 3,1 Millionen Personen ansteigen.
Erst ab Mitte dieses Jahrhunderts kommt in diesem Modell der Anstieg des
Pflegebedarfs zum Erliegen.
Die Antworten der Rürup-Kommission
hierauf erschöpfen sich jedoch weitgehend in der Forderung nach
Leistungskürzungen. Bei mäßigem Pflegebedarf (Pflegestufe I) sollen die
Leistungen bei einer Heimunterbringung von zur Zeit
monatlich 1023 Euro auf das Niveau ambulanter Hilfen von 400 Euro gesenkt
werden. Davon erhofft man sich Einsparungen von zwei Milliarden Euro und einen
Verzicht auf Heimeinweisungen zugunsten von mehr ambulanten Hilfen und von
Projekten gemeinsamen Wohnens. Doch bei vielen isoliert lebenden oder leicht
verwirrten Senioren ist dies unrealistisch. Wahrscheinlicher ist, dass künftig
trotz Pflegeversicherung eine große Zahl von Betagten erneut von Sozialhilfe
abhängig sein wird und die Sozialhilfe wiederum zur Absicherung von
Massenrisiken eingesetzt wird.
Ab 2010 sollen Rentnerinnen und Rentner
zusätzlich zum allgemeinen Beitragssatz einen Obolus von zwei Prozent ihres
versicherungspflichtigen Einkommens in die Pflegekassen entrichten, der
obligatorisch für die Jungen auf Pflegekonten angespart wird. Der entstehende
Kapitalstock soll dann auf dem Höhepunkt des demografischen Umbruchs ab 2030
die Pflege gewährleisten. Doch die damit eröffnete Dynamisierung der Leistungen
der Pflegeversicherung liegt unterhalb des allgemeinen
Produktivitätsfortschritts. Ein weiterer Leistungsabbau in der
personalkostenintensiven Pflege wäre vorprogrammiert.
Im Ergebnis untergraben beide
Vorschläge den sozialen Sinn der Pflegeversicherung, ein Minimum
menschenwürdiger Pflege für alle zu garantieren. (Vgl:
»Erbenschutz – ein Ziel der Sozialpolitik?«)
Künftig kann die Pflegeversicherung
jenen, die keine privaten Zusatzleistungen hinzukaufen können, nicht einmal
eine »Satt- und Sauber-Pflege« garantieren. Ein Pflegeleistungsgesetz, das
einkommens- und vermögensorientiert bedürftigen Bürgern notwendige
Pflegeleistungen zuspricht, böte für ärmere Bevölkerungsgruppen eine echte
Alternative. Politisch durchsetzbar ist dies aber kaum, weil es mit der
Beschneidung von Ansprüchen einer Mehrheit verbunden wäre. Aussichtsreich sind
deshalb nur Reformen innerhalb der sozialen Pflegeversicherung. Hier spricht
alles für eine Verbreiterung ihrer Finanzierungsbasis durch die Einbeziehung
von Nichtarbeitseinkommen analog dem Konzept der Bürgerversicherung.
Dienstleistungsgesellschaft am Scheideweg
In der sozialpolitischen Debatte geht
es auch um die Ausgestaltung der Dienstleistungsgesellschaft, wobei – analytisch
zugespitzt – zwei Modelle unterscheidbar sind: Hier die
»Dienstbotengesellschaft« einer deregulierten Ökonomie bei großen sozialen
Unterschieden. Ihre Konturen sind am ehesten am Beispiel der USA erkennbar. Die
Löhne im Dienstleistungsbereich entkoppeln sich von der sonstigen
Einkommensentwicklung, wie dies die Rürup-Kommission
auch für Pflegetätigkeiten in Deutschland vorschlägt. Es dominieren
anspruchslose Serviceangebote, die selbst bei personennahen Tätigkeiten im
Gesundheits- und Pflegesektor Industriearbeitscharakter annehmen: Für die
Bevölkerungsmehrheit eine »Satt-und-Sauber«-Pflege im
Minutentakt, vornehmlich durch unausgebildete Hilfskräfte.
High-Tech-Spitzenmedizin und Anti-Aging-Wellness für
jene, die sich dies leisten können. Von einer »Rente mit 67« können schon heute
in den USA all jene Unter- und Mittelschichtangehörige nur träumen, deren
Alterseinkommen nicht durch ergänzende Betriebsrenten, staatliche Pensionen
oder Erbschaften aufgebessert wird. Sie bleiben im Alter auf Hilfs- und
Gelegenheitsjobs angewiesen. Kulturell dominiert eine individuelle
Nutzenmaximierung, solidarische und postmaterielle Werthaltungen werden in
Nischen gedrängt.
Diesem Modell stellt der Münchner
Soziologe Bernhard Gill die Vision einer allseits
gebildeten Gesellschaft gegenüber, die auch im gesellschaftlichen Mainstream offen gegenüber postmateriellen Orientierungen
ist. Einen solchen Entwicklungspfad sieht Gill am
ehesten in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten angelegt. Hier subventioniere
der Staat personennahe Dienstleistungen in gesundheitlichen, sozialen und
kulturellen Bereichen und garantiere durch rechtliche Standards ein
anspruchsvolles Versorgungsniveau.
Sicherlich schwankt der bundesdeutsche
Wohlfahrtsstaat zwischen beiden Entwicklungsrichtungen. Ein Trend zur
Dienstbotengesellschaft ist keine zwangsläufige Folge wirtschaftlicher
Globalisierung und eine erneut gewählte rot-grüne Bundesregierung kein Beleg
für eine ungebrochene Dominanz neoliberaler Sichtweisen.
Für die Ausrichtung der
Dienstleistungsgesellschaft sind neben der Sozialpolitik im engeren Sinne vor
allem die Bildungs- und Familienpolitik relevant. Denn in Familien, Schulen
oder Freizeiteinrichtungen werden die Werthaltungen, Neigungen und Interessen
geprägt, die den künftigen Sozialstaat bestimmen. Bernhard Gill
bringt dies auf eine einfache Formel: »Entweder: Niedrige Bildung =>>
anspruchsloser Konsum =>> anspruchslose Dienstleistungsarbeiten =>>
niedrige Bildung. Oder: Hohe Bildung =>> anspruchsvoller Konsum =>>
anspruchsvolle Dienstleistungsarbeiten =>> hohe Bildung.«
Nach manchem rhetorischen Tremolo im
letzten Bundestagswahlkampf stehen wir familien- und bildungspolitisch aber vor
einem Backlash: Bildungspolitik nach »PISA« erschöpft
sich überwiegend in längeren Arbeitszeiten für Lehrer. Beim Erziehungsgeld wird
über Einschnitte diskutiert, eine drastisch vergrößerte Kinderarmut im Gefolge
der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gilt als ebenso akzeptabel
wie Gesundheitsreformen, die überwiegend Familien belasten. Erforderlich wäre
eine Reformpolitik, die die Themen des Sozialen zusammenfügt, statt sie
gegeneinander auszuspielen. Das Fehlen eines solchen rot-grünen Reformfadens
schmerzt am stärksten.
1
BMGS. Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen
Sicherungssysteme. Bericht der Kommission. Berlin, August 2003 (Bestellbar: www.bmgs.bund.de oder Telefon: 0180 – 51 51 51 0)
KASTEN:
»Erbenschutz« – ein Ziel des Sozialstaates?
Politisch durchsetzbar war die
Pflegeversicherung als zusätzliche vierte Säule des bundesdeutschen
Sozialstaates nur mit dem Rückenwind der Kommunen, die unter der Finanzlast
hoher Sozialhilfekosten für verarmte und pflegebedürftige Senioren ächzten. Ihr
doppeltes Leitbild verhieß eine »neue Kultur des Helfens«, um eine
menschenwürdige Mindestversorgung für alle Pflegebedürftigen zu gewährleisten.
Zugleich wollte man Pflegebedürftige generell vor einer »wirtschaftlichen
Überforderung« schützen. Aufgrund dieses »Erbenschutzprinzips« bezieht sich die
staatliche Pflegegarantie nicht mehr nur auf Altersarme, die selbst ein Minimum
an Pflege aus eigenen Mitteln nicht bezahlen können. Um die Zustimmung der
gesellschaftlichen Mitte und der Gutverdienenden für die Pflegeversicherung zu
sichern, wurden Leistungen für alle vereinbart.
Als Folge dieser Philosophie des Erbenschutzes kann die ohnehin nur als Teilkaskoversicherung konzipierte Pflegeversicherung künftig aber nicht einmal ein Pflegeminimum garantieren. Stattdessen verschärft sie soziale Ungleichheiten zwischen den Generationen: Wer in zwanzig Jahren pflegebedürftig ist, wird – ohne Reformen – nur noch rund die Hälfte der heutigen Pflegeleistungen beanspruchen können, obwohl er dann dauerhaft Pflegebeiträge entrichtet haben wird. Dagegen streicht die heutige Rentnergeneration saftige Einführungsgewinne der seit 1995 geltenden Pflegeversicherung ein. Bei minimalen eigenen Beitragszahlungen steht ihnen der gesamte Leistungsumfang zur Verfügung. Dabei verfügt heute die Hälfte der über 65-Jährigen über Immobilien und ein Großteil des Geldvermögens konzentriert sich in ihren Händen. Dennoch ist es für die Rürup-Kommission kein Thema, aktuell von gut situierten Rentnern einen Beitrag zum beschworenen »intergenerativen Ausgleich« zu fordern. H. K.
Kommune.
Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe Oktober/November 2003 / 5/03.