Iraks Schiiten – Wiedergeburt in Nadschaf

 

Ein Gespräch über Glauben, Politik und Wandel am Golf*

 

Über die irakischen Schiiten, ihre religiösen und intellektuellen Führer, ihre geistigen Strömungen und Parteien existieren hierzulande wenig Vorstellungen. Dem Juliheft der französischen Zeitschrift Esprit entnahmen wir das Gespräch zwischen Laurence Louër, Sabrina Mervin und Olivier Roy, drei namhaften Orientkennern, die einen ungewohnten Einblick in die Region bieten. Sie gehen in erster Linie den religiösen und familiären Strukturen und Dynamiken nach, die zwischen Ghom und Kerbala, zwischen dem Libanon und Bahrain die gesellschaftlichen Strukturen beeinflussen. Freilich hat sich an der darüber liegenden Schablone, der US-Besatzung und dem eher mäßigen Widerstand, inzwischen Wesentliches verändert. Das Attentat auf Mohammad Baqer al-Hakim und der damit verbundene Massenmord an irakischen Gläubige hat die Situation nicht nur für die USA zugespitzt, sondern auch die innerschiitischen Widersprüche deutlich verschärft.

 

ESPRIT: Seit dem Ende der militärischen Interventionen im zweiten Golfkrieg stellt man sich häufig die Frage nach der Fähigkeit der Amerikaner, das Land wieder aufzubauen und die religiöse Variable zu meistern, deren Bedeutung durch die gewaltsamen Demonstrationen der Schiiten wieder in Erinnerung gerufen wurde. Welche Auswirkungen hat die verstärkte amerikanische Präsenz in dieser Region, in der die Schiiten vorherrschend sind?

OLIVIER ROY: Paradoxerweise wirkt sich die amerikanische Präsenz nicht gleich auf die religiösen Verhältnisse aus. Tatsächlich zeigen die Amerikaner, dass sie die Besetzung des Irak nicht gut lenken können, obwohl sie ein Jahr Zeit hatten, diese vorzubereiten. Und zwar nicht nur aus dem Grund, weil sie strukturell nicht auf diese Art der kolonialen Besatzung eingestellt sind, sondern auch, weil sie zwei Fehler in der Planung machten.

Der erste, aber weniger schwer wiegende Fehler war die Annahme, dass nach dem Sturz Saddam Husseins und des Krisenstabs der Staatsapparat relativ intakt bleiben würde, dass die Feuerwehrleute an ihrem Platz sein würden, dass die Elektrizität funktionieren würde und dass alles in einem brauchbaren Zustand bliebe. Aber sie haben das versäumt, was Pierre-Jean Luizard(1) und andere Irak-Spezialisten vorhergesehen hatten, und zwar die Tatsache, dass Saddam Hussein schon seit mehreren Jahren gegen den Staatsapparat agierte. Einige Artikel hatten bereits diese »Retribalisierung« der Gesellschaft(2) thematisiert, die von einem Netzwerk persönlicher Beziehungen und Protektion beherrscht wurde, was den Staatsapparat in eine Krise stürzte. Die völlig ideologische Sicht, die die Amerikaner von der Situation hatten – Demokratie contra Despotismus –, begründet ihren zweiten Fehler. Sie dachten, dass sie von der Bevölkerung als Befreier empfangen würden, da sie doch gekommen waren, um einen Despoten zu stürzen. Sie haben die Reaktion der Bevölkerung nicht verstanden – und darüber hinaus verstehen sie sie noch immer nicht –, weil sie einen Schlüsselfaktor übersehen haben: den Nationalismus.

Die Amerikaner sind zunächst nicht mit den religiösen Gefühlen der Bevölkerung in Widerstreit geraten. Sie waren weit mehr in der Lage, die religiösen Gefühle zu verstehen als diese Ambivalenz in der Reaktion der Bevölkerung: die Freude, Saddam Hussein entmachtet zu sehen, und die Zurückhaltung einer amerikanischen Okkupation zuzustimmen. Dieses Unverständnis im Hinblick auf den Nationalismus ist eine Konstante im Verhalten der Amerikaner im ganzen Gebiet. Diese ideologisch-politische Anschauung stellt das größte Problem der amerikanischen Verwaltung dar, soweit sie nicht auf ökonomischen Interessen, Erdöl und so weiter, fußt, sondern auf ideologischen Überlegungen. De facto möchten sie den Mittleren Osten wieder herstellen, indem sie die Demokratie gegen das vorhandene System ausspielen, weil sie der Meinung sind, dass das ganze Land, einmal demokratisiert, notwendigerweise proamerikanisch sein und mit Israel Frieden schließen würde. Nun sehen sie aber nicht, dass man, damit es die Demokratie gibt, sie mit dem Nationalismus verbinden muss.

In Sachen Religion ist die Sichtweise der USA viel pragmatischer als die unsere, weil die Religion offensichtlich viel mehr in die amerikanische Politik integriert ist als in die europäische und speziell in die französische. Die Rückkehr der schiitischen Ayatollahs stellt für sie keine Bedrohung dar: Die Amerikaner haben es nicht verstanden, den Zustand der Anarchie in Bagdad in den Griff zu bekommen, aber es gab auch keinen größeren Zwischenfall außer den großen schiitischen Kundgebungen in Achoura im März(3).

Der Nationalismus ist also die wahre Schwierigkeit, mit der die Amerikaner zu kämpfen haben. Wenn es ihr Hauptanliegen ist die Situation im Irak zu stabilisieren, dann müssen sie zwangsläufig im Umgang mit dem Iran größte Vorsicht walten lassen. Überdies macht der Iran bei diesem Spiel mit: Er wünscht, ein privilegierter Gesprächspartner für die Amerikaner zu werden und erlangt etwas an Profil im Irak (ungeachtet dessen, dass es da mehr Beziehungen gibt, als man glauben möchte). Von diesem Standpunkt aus gesehen, war der Besuch Khatamis im Libanon im April eine sehr geschickte politische Geste: Khatami hat sich dort an die libanesische Staatsnation gewandt, nicht an die Hisbollah, um zu signalisieren, dass die Hisbollah integraler Teil des politischen Systems im Libanon ist. Dies erlaubt dem Iran, die Hisbollah als eine politische Macht im Libanon zu präsentieren und nicht als verlängerten ideologischen Arm des Iran gegen Israel. Bleibt noch offen, wie Syrien reagieren wird, eine äußerst heikle Angelegenheit, da Syrien, das darauf zählte, dass Saddam Husseins Regime Widerstand leisten könne, den Dingen nun nicht mehr gewachsen ist.

 

Schiitentum und irakischer Nationalismus

 

Wie kann man diese Haltung verstehen, die doch im Widerspruch zur Darstellung in den westlichen Medien steht, welche die Schiiten als machtvolle Separatisten sehen, bereit zu einer grenzüberschreitenden politischen Allianz mit den Schiiten im Iran?

SABRINA MERVIN: In der Tat, der Pragmatismus unterbindet das. Gegenüber den Amerikanern vor allem, deren Besetzung als notwendig für den Wiederaufbau des Landes erachtet wird. Das aber verhindert nicht die Volkskundgebungen gegen diese Besatzung. Aber es handelt sich nicht nur darum, das Land wieder aufzubauen, es geht auch darum, eine neue Form des politischen Islam zu finden. Die schiitischen Führer haben wohl daran gedacht, zum Widerstand gegen die amerikanische Besatzung aufzurufen, und zwar nach dem Vorbild des Libanesen Mohammed Hussein Fadlallah, aber im Irak haben sie friedliches Verhalten gezeigt. Sie haben nicht wirklich die Wahl, wenn sie ihre Chance an der Machtausübung teilzuhaben wahrnehmen wollen, von der sie seit der Gründung des modernen Irak regelmäßig ausgeschlossen wurden. Ab sofort wollen sie am Wiederaufbau des Landes beteiligt sein. Aus diesem Grund haben die beiden großen schiitischen Parteien im Irak, al-Da’wa und ASRII, unter Wahrung ihrer Unterschiede zugestimmt, am »Komitee der Sieben« teilzunehmen, um sich einen Bewegungsspielraum zu erhalten. Tatsächlich schickt al-Da’wa nicht mehr als einen Repräsentanten, und ihr Präsident Mohammad Baqer al-Hakim hat seinen Bruder Abd al-Aziz dorthin entsandt, den zweitwichtigsten Mann bei ASRII. Dies lässt ihm demzufolge die Möglichkeit, als marja(4) zu wirken, um so seinen Status als Führer der Partei hinter sich zu lassen und eine andere Legitimität zu erreichen.

 

Sie sagten, dass die Schiiten im Irak »ihre Chance wahrnehmen wollen« – Sie wollten damit sagen, sie möchten ihren Platz im Prozess des Wiederaufbaus finden, aber ein Platz welcher Art, sowohl politisch als auch religiös?

S. MERVIN: Die religiösen Parteien wollen offensichtlich diesen doppelten Aspekt erhalten. Aber nicht alle Schiiten finden sich in den religiösen Parteien wieder. Wir nehmen hier teil an einer Neuanordnung dieser Landschaft: Es gibt Parteien, die sich konstituieren, andere bauen sich wieder auf. Es gibt nun schon einen Pluralismus, der in den politischen und den politisch-religiösen Parteien hervortritt. Darüber hinaus stellt man einen pluralistischen Ansatz auf der Ebene der religiösen schiitischen Führer fest, da es dort mehrere marja gibt, von denen einige politische Visionen vertreten und andere nicht, wie Sistami, dem die meisten folgen.

 

Die Schiiten wollen also die Karte des irakischen und arabischen Nationalismus ausspielen, um einen politischen Pluralismus zu entwickeln, der dann die Demokratie akzeptieren würde. Haben die schiitischen oder sunnitischen politischen Parteien eine lokale oder nationale Dimension?

S. MERVIN: Die ASRII präsentiert sich ganz klar als irakische Partei, auch wenn sie über lange Zeit vom Iran unterstützt wurde. Im Falle al-Da’wa ist das alles viel komplexer, weil das eine irakische Partei ist, die seit ihrer Gründung auch nichtirakische Mitglieder hat, und ihr Einfluss sich mehr außerhalb des Landes entfaltet, vor allem am Golf.

 

Die irakischen Schiiten scheinen vor allem irakische Nationalisten zu sein und sie haben, auch wenn sie den politischen Pluralismus verteidigen, doch ein großes Interesse daran, eine irakische Regierung zu unterstützen.

S. MERVIN: Exakt, aber dieser irakische Nationalismus ist auf der politischen Ebene zu betrachten. Die Situation auf der religiösen Ebene ist eine andere. Bezeichnenderweise sind Nadschaf und andere heilige Städte im Irak Bezugspunkte für die Schiiten aus aller Welt, für Perser und Araber ebenso. Abseits von allen nationalen Spaltungen kann sich ein religiöser Schiite auf die Schule von Nadschaf berufen, weil er dort studiert und gelebt hat, viel mehr noch als auf die Schule von Ghom, der konkurrierenden heiligen Stadt im Iran. Er kann sich aber auch auf beide berufen.

 

Wie ist die Stellung der Partei al-Da’wa im Vergleich zur ASRII? Hat sie noch nie mit dem Gedanken einer Allianz mit dem Iran gespielt? Gibt es einen klerikalen Faktor in der Geschichte der al-Da’wa?

LAURENCE LOUËR: Es gibt zahlreiche Spaltungen in der Vergangenheit der al-Da’wa, deren Führer durch Beziehungen mit dem Iran verbunden sind, sowohl im Sinne einer schützenden Macht als auch als Gesellschaftsmodell. Ein Teil der al-Da’wa hat die ASRII integriert, während der andere es vorgezogen hat, unabhängig zu bleiben. Was nun den klerikalen Faktor anbelangt, ist es Ayatollah Mohammed Baqer al-Sadr, der die Partei gegründet hat. Ulemas, wie etwa Ayatollah al-Ha’eri oder Ayatollah al-Asefi, sind dort Mitglieder.

 

Nationale Verankerung und transnationale Netzwerke

 

O. ROY: Wir kommen nun zu einem zweiten Aspekt, der den Zusammenhang zwischen der nationalen und der transnationalen Problematik herstellt. Ich möchte eine Hypothese aufstellen: Die Eigenart des Schiitentums seit dem 17. und 18. Jahrhundert ist seine Organisation um große klerikale und transnationale Familien herum mit Sitz in Nadschaf und Kerbala, die auch Verzweigungen in andere Länder hatten. Daher hat sich die Macht dieser Familien nicht nur auf nationalem Boden begründet. Ein mächtiger und großer Ayatollah konnte auch im Afghanistan, in Pakistan, in Schiraz oder im Libanon et cetera Stützpunkte haben. Die islamische Revolution im Iran von 1980 hat diese großen klerikalen Netzwerke möglicherweise geschwächt, weil im Iran die staatliche Logik gegen die klerikale transnationale Logik durchgesetzt wurde. Parallel dazu hat im Irak Saddam Hussein von der Krise mit dem Iran profitiert, um in größtmöglichem Ausmaß diese Netzwerke zu zerstören, unter anderem durch Mordanschläge. Drei Fragen werfen sich dazu auf: Haben diese Netzwerke überlebt und sind sie nach wie vor transnational? Gibt es nicht für sie eine Gelegenheit, aus Nadschaf und Kerbala autonome Zonen zu machen, wo die Amerikaner in gewisser Weise dieselbe Rolle spielen würden wie das Osmanische Reich, mit anderen Worten: das Land kontrollieren bei völliger Respektierung der eigenen Organisation im religiösen Bereich? Aber haben gewisse Regionen wie der Golf oder der Libanon nicht schon ein politisches und nationales Stadium erreicht, das verhindern würde, dass sich diese Netzwerke wieder aufbauen?

 

L. LOUËR: Man muss erst einmal von der Frage des Nationalismus ausgehen, und zwar unter Berufung auf das sehr bezeichnende Beispiel der Organisation islamischer Aktion. Sie wurde in Kerbala von Ayatollah Mohammed al-Shirazi gegründet, der einer großen Familie irakischer Geistlicher entstammt. Wenn diese auch nur wenig Erfolg in der internen politischen Szene im Irak verbuchen konnte, hat sie sich doch als Ersatz dafür in den Golfmonarchien, in Bahrain insbesondere, in Saudi-Arabien und Kuwait ausgebreitet. In diesen Ländern wurden die ersten Gruppen islamischer Schiiten durch die Kader dieser Organisation gegründet, vor allem durch Hadi al-Modarrisi. In den Achtzigerjahren und im Zuge der islamischen Revolution im Iran und des Iran-Irak-Krieges hatten diese Bewegungen das Ziel, die Regimes vor Ort zu stürzen und die staatlich-nationalen Grenzen der Golfmonarchien zu zerstören mit dem Motiv, dass diese ohnehin nur künstliche Einheiten seien, eine Art Territorium der sunnitischen Stämme, die durch den englischen und amerikanischen Imperialismus transformiert wurden. Insbesondere ging die Idee um, dass Bahrain und die Ostprovinz Saudi-Arabiens, die Hasa, ursprünglich ein einziges und gleiches Land gewesen seien, bevölkert von Schiiten, und dass das Ziel der islamischen Revolution auch sein müsse, dieses schiitische Land wieder herzustellen. Einige gingen noch weiter und behaupteten, dass dieses schiitische Land von der Halbinsel Qatar bis nach Basra im Süden Iraks gereicht hätte. Die Verbindungen, die von den Mitgliedern der Netzwerke Mohammed al-Shirazis in den verschiedenen Monarchien der Golfstaaten unterhalten wurden, waren in gewisser Weise eine Art Vorgriff auf eine künftige panschiitische Einheit am Golf.

Bezeichnenderweise ist diese Art von Perspektive seit den Neunzigerjahren aber nicht mehr sonderlich aktuell. Der Hauptgrund dafür ist die Weiterentwicklung der iranischen Politik des Revolutionsexports. Nachdem sie eine Zeit lang diese Bewegungen finanziert und unterstützt hatte, war die islamische Republik Iran doch den Schwierigkeiten des Kriegs mit dem Irak sehr ausgesetzt und international isoliert, sodass sie in der Tat diese Bewegungen sehr schnell auf dem Altar des Pragmatismus geopfert und die erneute Annäherung an die Ölmonarchien am Golf gesucht hatte. Angesichts dieser Neuorientierung der iranischen Außenpolitik haben die bahrainischen, saudischen und kuwaitischen Bewegungen ebenfalls zunehmend für eine Politik der Aussöhnung mit den Regimes gestimmt. Zum Beispiel wird heute in Saudi Arabien Hassan al-Saffar, seinerzeit Chef der Organisation der islamischen Revolution für die Befreiung Arabiens – der saudischen Bewegung, die dem Netzwerk Shirazis verbunden war –,  heute von der saudischen Regierung als Inbegriff für die Demokratisierung dargestellt. In einem Land, dessen offizielle Ideologie – der Wahhabismus – dem Schiitentum sehr feindlich gegenübersteht, kann Hassan al-Saffar seine Bücher publizieren, seine eigene Internetseite im Netz stehen haben, öffentliche Vorträge halten und über eine wöchentliche Tribüne in einer großen Tageszeitung verfügen. Weit entfernt von seinem panschiitischen Projekt der Siebziger- und Achtzigerjahre spielt er nun die Rolle eines der ersten Kämpfer für die Reformen in Saudi-Arabien und stellt sein Handeln in den Rahmen des saudischen Nationalstaats. Seine Idee ist, dass man die Regierung der Saudis demokratisieren müsse, bis die Schiiten als rechtmäßige Bürger anerkannt wären. Hassan al-Saffar bekräftigt ebenso offen, dass vor der Demokratisierung die Trennung von Politik und Religion stattfinden müsse. Tatsächlich verhindert die Allianz zwischen der Dynastie der Saudis und dem wahhabitischen Klerus, der unter anderem die Meinung vertritt, dass die Schiiten keine Muslime sind, alle Möglichkeiten einer Integration der Schiiten als gesetzmäßige Bürger.

Diese Betrachtungen über die Trennung von Religion und Politik sind ganz neu und sehr bezeichnend für den Kreis eines Netzwerks, das sich ursprünglich mit dem Ziel gründete, den islamischen Staat auszurufen. Kuwait hat dieselbe Entwicklung sehr sensibel verfolgt: Nach dem Ende des Golfkriegs werden die schiitischen Bewegungen nicht mehr als gänzlich revolutionär bezeichnet, da sie auf die königliche Familie und auf Versöhnung setzen. In Bahrain orientiert man sich seit drei Jahren an einer ähnlichen Situation (seit der Thronbesteigung eines neuen Königs). Im Augenblick versuchen alle schiitischen Bewegungen in den Golfmonarchien, mit den vorhandenen Regierungen einen Ausgleich zu finden.

 

Ein Beispiel für das familiäre Netzwerk transnationaler Schiiten

 

Können Sie etwas über die Familie Shirazi sagen, die für diese Entwicklung ausgesprochen repräsentativ ist?

L. LOUËR: Mohammed al-Shirazi wurde von Saddam Hussein lange vor der islamischen Revolution im Iran verfolgt, bis er 1971 nach Kuwait flüchtete. Er war ein glühender Verehrer Khomeinis, den er 1965 im Irak empfing; er versuchte dann auch, ihn nach Kuwait kommen zu lassen. Shirazi kehrte zu Beginn der Revolution 1979 in den Iran zurück, wo er auch als leidenschaftlicher Partisan kämpfte. Sehr bald gab es jedoch Uneinigkeiten zwischen Shirazi und Khomeini, aber von den genauen Hintergründen erfuhr man keine Einzelheiten, der Gegenstand des Konflikts blieb bis heute tabuisiert. Man nimmt an, dass Shirazi eine kritische Haltung gegenüber einigen Überschreitungen des Regimes eingenommen hatte und das Prinzip des wilayat al-faqih missbilligte, nach dem die Regierung von nur einem Schriftgelehrten geleitet wird. Er war der Meinung, dass die gemeinsame Führung durch mehrere Schriftgelehrte besser geeignet sei, den Islamischen Staat zu lenken. Nach dieser Stellungnahme wurde ihm ein Aufenthaltsort zugewiesen und er verließ sein Haus in Ghom nicht mehr bis zu seinem Tod vor fast zwei Jahren. Seine beiden Neffen Mohammed Taqi al-Modarrisi und Hadi al-Modarrisi, die bis heute die Befehlshaber der Organisation islamischer Aktion sind und die schiitischen Bewegungen in den Monarchien am Golf gegründet und organisiert hatten, konnten im Iran bleiben, wo sie vielschichtige Beziehungen zum Regime pflegten.

Heute verkörpert Shirazi vor allem in den Golfmonarchien eine Denkschule, die das iranische Modell in Frage stellt. Für die Kämpfer und Sympathisanten dieser Denkrichtung stellt der Iran keinen durchführbaren Gesellschaftsentwurf dar und hat demnach auch nicht das Recht, die Führungsrolle in der schiitischen Welt zu beanspruchen. Bis heute blieben die beiden Modarrisi-Brüder Abhängige des iranischen Regimes, weil sie sozusagen keinen territorialen Ausgangspunkt hatten, um zu agieren. Heute jedoch, im Kontext der Entspannung in den Golfmonarchien und des Sturzes des Regimes Saddam Husseins, sind die Umstände günstiger für sie geworden. Bei einer Rückkehr in den Irak könnten sie aus der neuen Lage Nutzen ziehen, ihre Ideen verbreiten und eine aktive Rolle in der Debatte spielen, die augenblicklich über das iranische Modell stattfindet.

 

Aber wie kamen die Brüder Modarrisi und Shirazi selbst dazu, die Opposition in Bahrain zu verkörpern? Rührt das aus einer familiären Tradition?

L. LOUËR: Die Familie war nie in Bahrain verwurzelt und ist es im Übrigen bis heute nicht. Es handelt sich dabei um ein rein exogenes Phänomen. In Wirklichkeit scheint es, dass Shirazi und seine Neffen begriffen hatten, seit sie nach Kuwait ins Exil mussten, dass die Schiiten der Golfmonarchien ein Gebiet repräsentierten, das sich für die Verbreitung ihrer Ideen als völlig unberührt und vorteilhaft erwies. Tatsächlich ist die Implantation gelungen, weil sie ein Vakuum füllen konnten im Kontext einer schiitischen Bevölkerung, die von der Macht abgeschnitten und Teil der am meisten benachteiligten sozialen Schicht war. Nachdem sie den Iran in den Neunzigerjahren verlassen hatten, flüchteten zahlreiche militante Mitglieder des Shirazi-Netzwerks nach Sayyida Zaynab in Syrien, wo sie sich mit anderen militanten Anhängern verbündeten, die wiederum schon seit langer Zeit von Hassan al-Shirazi, dem Bruder Mohammeds, organisiert waren.

 

S. MERVIN: Es war insbesondere Hassan, der Bruder Mohammeds, der, nachdem er im Libanon und in Syrien ansässig geworden war, in den Siebzigerjahren Moscheen erbauen ließ. Ebenso war er es, der die erste hawza (eine höhere Schule für den religiösen Unterricht bei den Schiiten) eröffnete, und zwar in der Nähe des Mausoleums von Sayyida Zaynab, einem Vorort von Damaskus. Er wurde 1980 vom irakischen Sicherheitsdienst getötet.

 

O. ROY: An welchem Punkt fand diese Identifikationsbewegung zwischen der Familie Shirazi und der schiitischen Opposition in Bahrain statt?

L. LOUËR: Hadi al-Modarrisi kam 1971 nach Bahrain, wohin er direkt von seinem Onkel Mohammed al-Shirazi geschickt wurde. Er hatte einen kleinen Kreis Getreuer um sich geschart, in dessen Mitte er Ideen verbreitete, die denen Khomeinis sehr nahe standen, nämlich ausgerichtet auf die Idee einer islamischen Ordnung, die in der Hand des Klerus liegen würde. Auf diese Weise also gründete er die erste lokale Bewegung in den Golfstaaten. Die Bewegung wurde zu Beginn der Achtzigerjahre zerschlagen, und zwar im Gefolge eines Staatsstreichs, der eine große Anzahl Militanter ins Gefängnis und ins Exil brachte. Ihrer lokalen Verankerung beraubt löste sich die Bewegung auf. Heute kehrt sie in einem ganz anderen Kontext wieder und mit gänzlich anderen Projekten, nämlich denen, die ich oben schon angesprochen habe. Nach ihrer Rückkehr aus dem Exil und nach ihrer Entlassung aus den Gefängnissen konzentrieren die Militanten nun ihre Kraft, abgesehen von der Verbesserung ihrer Beziehungen zu der herrschenden Familie, auf einen Wettstreit, der sie den Anhängern der »Linie des Imam« gegenüberstellt (gemeint ist: der Linie des Imam Khomeini). Die Linie des Imam ist eine allgemeine Bezeichnung, die all jene meint, die sich weiterhin auf das iranische Modell beziehen und Ali Khamenei, den Revolutionsführer und Rangobersten des iranischen Regimes, für den Führer aller Schiiten halten. Was die »Shiraziyyin« (gemeint sind diejenigen, die sich auf Mohammed al-Shirazi beziehen) betrifft, versuchen diese gerade, sich in einem neuen gedanklichen Ansatz zu finden, indem sie dem iranischen Modell eine Alternative entgegensetzen.

 

O. ROY: Die Situation ist in dem Sinn paradox, dass die Familie Shirazi ganz bezeichnend den schiitischen Kosmopolitismus repräsentiert und dennoch, das hat man in Bahrain gesehen, kann sie über den Nationalismus Unterstützung finden.

L. LOUËR: Es stimmt, dass angesichts des Fehlschlags der transnationalen Strategie mit der bahrainischen Staats-Nation getrumpft wird. Mit anderen Worten: Sie fechten die Grenzen der Staats-Nation nicht mehr an. Kann man nun in gleicher Weise sagen, dass es so etwas wie einen bahrainischen Nationalismus gibt, gleichwohl im ersten Entwicklungsstadium? Das ist eine andere Angelegenheit ... Tatsächlich aber befinden sich in den Golfmonarchien nur wenige Regierungen an der Wurzel der nationalistischen Regungen im Schoß ihrer Bevölkerungen, sind doch die Identifikationsmöglichkeiten der Bürger mit den von Stammesclans monopolisierten Staaten mehr als beschränkt. Es gibt da zweckorientierte Bündnisse, die durch von jedermann wohlverstandene Interessen geleitet werden, ein gewisser Nachgeschmack des panarabischen Nationalismus, aber es gibt nichts, das dem quatarischen, bahrainischen oder saudischen Nationalismus gleichkäme. Hierin liegt einer der großen Unterschiede zwischen den irakischen Schiiten und den Schiiten der Öl-Monarchien: Erstere sind wahrhaftige irakische Nationalisten, Letztere unterhalten eine lediglich zufällige und äußerliche Beziehung zu ihrem Staat. Wie könnte auch ein saudi-arabischer Schiite gleichzeitig ein saudischer Nationalist sein? Es gibt da ja schon einen Widerspruch in den Bezeichnungen.

Der Misserfolg der zwei großen politisch-religiösen regionalen Modelle

Die zwei Systeme, auf die sich in der Region bezogen wird, sind das saudische (Wahhabismus) und das iranische (islamische Revolution), aber haben sie noch Vorbildfunktion?

L. LOUËR: Für die Schiiten stellt das wahhabitische Modell ganz klar einen Rückschlag dar. Es fällt ihnen viel schwerer, sich angesichts eines iranischen Modells zu situieren, besonders wegen des arabisch-persischen Synkretismus, der im Irak und in allen Golfmonarchien präsent ist. Beispielsweise sind in Bahrain die Geistlichen aus dem Netzwerk Shirazi des Öfteren Bahrainer persischen Ursprungs, die sich in beiden Kulturen, der arabischen und der persischen, äußerst wohl fühlen. Sie sprechen beide Sprachen und reisen in beiden Welten. Dies wiederum deckt unter anderem ein weiteres sehr wichtiges Element auf: Die Wiederaufnahme des iranischen Modells verdeckt nicht die ethnische Aufspaltung zwischen Persern und Arabern. In allen Monarchien am Golf gibt es arabische Schiiten, die dort im Allgemeinen in der Mehrheit sind, außer bei der bemerkenswerten Ausnahme Kuwait, und auch persische Schiiten. Auch wenn es zweifellos interethnische Spannungen zwischen den beiden Gruppierungen gibt, ähneln die politischen Spaltungen nicht ganz den Umständen dieser ethnischen Spaltungen. Diese Frage ist ganz und gar politischer Natur: Der Iran als politische Leitfigur und als Gesellschaftsmodell.

 

S. MERVIN: Der politische Führungsanspruch wird dem Iran streitig gemacht, aber ebenso auch sein religiöser. Zwei Dinge wurden miteinander verwickelt: der islamische Staat und die marja’iyya von Khamenei. Seit dieser sich Mitte der Neunzigerjahre selbst zum marja’ aller Schiiten erklärte, gibt es außerhalb von Iran eine Debatte über den Pluralismus des marja’iyya. Nicht-iranische marja tauchten auf, wie Mohammed Hussein Fadlallah im Libanon, der sich von der Hisbollah distanzierte und sich selbst als unabhängig sieht. Der Generalsekretär der Partei, Hassan Nasrallah, ist keine religiöse Autorität, aber ein politischer Führer. Der religiöse Bezug für die Hisbollah bleibt Khamenei.

Eine wichtige Debatte über die Staatsangehörigkeit wird gerade bei den intellektuellen religiösen Schiiten im Iran über Zeitschriften geführt, besonders in den Fragen, was eine zivile Gesellschaft, was eine islamische zivile Gesellschaft sei. Im Libanon oder im irakischen Umkreis muss man auf Grund dieser Betrachtungen auch mit dem Modell des religiösen Intellektuellen rechnen, so wie es ihn bereits im Iran gibt. Dies sind Leute, die damit beginnen, auf die Verbreitung des schiitischen Denkens und auf seine Neudefinition zu bauen. Sie erhielten ihre Erziehung zugleich in der hawza (im religiösen Seminar) und an der Universität. In den modernen hawza, im Libanon, sind die Hälfte aller Studenten auch an der Universität eingeschrieben. So wird die hawza von Fadlallah von einem Doktor der islamischen Philosophie der Universität geleitet, der ebenfalls in der hawza erzogen wurde und der trotzdem keinen Turban mehr trägt.

Das Modell der islamischen Revolution geht also seinem Ende zu. Man kann die Entwicklung im Diskurs al-Hakims beobachten, der die Trennung von Politik und Religion vorschlägt, der von einem modernen Irak spricht und von einem friedlichen Widerstand gegen die Amerikaner. Die iranischen Reformer wollen ihrerseits den Dialog mit den Amerikanern wieder aufnehmen. Heute spielt der Iran vor allem im religiösen Reformismus eine Rolle, weil sich dort die fortschrittlichsten Ideen ausdrücken. Die libanesischen Zeitungen, die über dieses Thema berichten, sind voll von Artikeln, die aus dem Persischen übersetzt wurden und geben so das Echo der im Iran geführten Debatten wieder. Ein Verlag verbreitet Bücher, die im Libanon erfolgreich sind und die auch in den Recherchezentren in Marokko und Ägypten verbreitet sind. Mir scheint, dass sich der Iran hierin hervortut, dank seiner Erfahrung mit dem islamischen Staat und seinen Grenzen.

 

Also ist es Ihrer Meinung nach der Libanon, der heute am ehesten die Debatte über die Integration der Schiiten voranzutreiben scheint?

S. MERVIN: In der Tat, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die Integration der Schiiten im Libanon ist viel älter als in anderen arabischen Ländern. Die Schiiten haben Zeitungen zur Verfügung, die es ihnen erlauben, sich auszudrücken. Dennoch muss man fortan die Entwicklung der Situation im Irak aufmerksam verfolgen, sich ansehen, wie Nadschaf sich erneuert und zu einem Ort der Diskussion wird, wie es mit Ghom rivalisiert und seinen Platz als mächtigster Pol des Schiitentums wieder einnimmt, wie es seine historische Tradition ist.

 

L. LOUËR: Es scheint mir wichtig, bezüglich der Zentren der Lehre einen Punkt zu unterstreichen. Da Nadschaf und Kerbala unter dem Regime Saddam Husseins an den Rand gedrängt wurden, wurde eine große Anzahl Geistlicher in den Jahren 1980–1990 in Ghom ausgebildet. Selbst wenn Nadschaf wieder seine überragende Position zurückgewinnt, wird der intellektuelle und kulturelle Einfluss der iranischen Geisteszentren noch über lange Jahre hinweg auf die junge Generation erhalten bleiben, die jetzt die schiitischen Bewegungen beleben. In Bahrain wurde ein großer Teil des Kaders der schiitischen Bewegung in Ghom ausgebildet, wo sie Persisch lernten und durch die persische Kultur geprägt wurden. Diese Prägung hat jetzt schon Einfluss und wird auch in den kommenden Jahren ihren Einfluss bewahren, und der arabisch-persische Synkretismus aus den Reihen der schiitischen Kleriker, gestärkt durch die iranische Zentrumsbildung in der schiitischen Welt seit den Achtzigerjahren, ist mehr denn je aktuell. Das zu beobachten ist besonders jetzt interessant, da es scheint, dass sich arabische und persische Nationalismen einander annähern, eine Annäherung zu einem Zeitpunkt, da sich die beiden Welten mehr als je zuvor durchdringen und die Gesellschaften mehr als je zuvor miteinander in Verbindung stehen: der Irak und der Iran, aber auch der Iran und Bahrain, der Iran und Kuwait ...

 

Neue soziale und politische Dynamiken

 

O. ROY: In einem Kontext, in dem von abnehmendem iranischem Einfluss gesprochen wird und in dem die religiösen Pole im Irak schon vom Regime unterdrückt wurden, scheint es, dass sich die Diskussion um die schiitische Dynamik ausschließlich als um eine klerikale dreht. Man spricht von religiösen Persönlichkeiten und von Geistlichen. Gibt es denn keine andersartigen Strömungen oder andere religiöse Pole wie bei den Sunniten, wo die Islamisten oft Intellektuelle sind, die aus einem nicht-religiösen Umfeld stammen, oder auch noch selbst ernannte religiöse Intellektuelle, die in diesem Kontext des doppelten Zerfalls in der Lage sind hervorzutreten?

 

S. MERVIN: Die herausragenden Kräfte in der schiitischen Welt sind einerseits die religiösen Intellektuellen (im Iran, im Libanon), andererseits junge Leute, die aus klerikalen Milieus stammen (das ist das Phänomen der Sadr-Bewegung im Irak). Die Ideologen und Gründer der schiitischen Parteien waren große Ulemas und Gelehrte der Religionswissenschaften, wie Mohammed Baqer al-Sadr, der die al-Da’wa gründete, oder Khomeini selbst. Die Ideologen der sunnitischen Islamistenbewegungen waren Autodidakten in den Fächern der Religionswissenschaften, wie Hasan al-Banna, der Lehrer war, und Mawdudi, der überhaupt keine Ausbildung besaß. Das ist bei den Schiiten schwer vorstellbar.

 

L. LOUËR: Eine der zu beobachtenden Dynamiken innerhalb der schiitischen Bewegungen sind die Beziehungen, die der Klerus mit nichtklerikalen Akteuren unterhält. Unter diesem Aspekt sind die Jungen ein wichtiger Faktor, dem Rechnung zu tragen ist. Der politische Einfluss eines marjaoder eines großen Ayatollahs steht in Relation zu seiner Fähigkeit, eine Partei um sich zu versammeln. Auf der Ebene der Mikrostruktur bedeutet dies, über eine Gruppe Jugendlicher zu gebieten, die im wahrsten Sinne des Wortes bereit sind, sich zu schlagen, um ihren Anführer zu verteidigen und um ihn in das politische Spiel einzubinden. Dies macht sie zu wesentlichen Faktoren. Wenn man sich für das Schiitentum interessiert, tendiert man zu sehr zur Annahme, dass die Ulemas im Prozess der Entscheidungsfindung übermächtig sind. Das ist übrigens eine Frage, die bei den Schiiten selbst diskutiert wird, nämlich die Frage nach der wirklichen Macht des Klerus über die Masse derer, die sich auf ihn beziehen.

Die Wahlen zur Legislative vom Oktober 2002 in Bahrain sind in diesem Zusammenhang interessant. Die islamistische schiitische Opposition hat die Wahlen boykottiert, sobald die Ulemas, und besonders jene, die die beiden schiitischen Bewegungen lenken, daran teilnehmen wollten. In Wirklichkeit waren es die Jungen, die den Boykott aufzwangen, nachdem sie Ende 1990 eine wahre Intifada gegen die Regierung geführt hatten. Sie sahen keine bedeutsamen Verbesserungen ihrer ökonomisch schwierigen Lebensumstände und waren konsequenterweise nicht bereit dazu, den von der herrschenden Familie angebotenen Kompromiss einzugehen. Obwohl die Jugend größten Respekt vor den Ulemas zeigt, bekräftigten sie doch ganz deutlich ihre Autonomie.

Eine der großen Fragen verweist auf die tatsächliche Macht der Ulemas. Dies bezieht auch die marja mit ein, die außerhalb der Golfmonarchien leben, im Iran, im Irak oder auch im Libanon. Die Schiiten der Golfmonarchien stellen sich häufig die Frage nach ihrem Einfluss auf die inneren politischen Entscheidungen. In Wirklichkeit ist dieser Einfluss minimal. Die Aufstände, die zwischen 1994 und 1998 in Bahrain begonnen wurden, fanden weitgehend jenseits des Klerus statt. Der Klerus hat seinen Einfluss zurückgewonnen und sich als Gesprächspartner der Regierung positioniert. Der Klerus ist immer da, aber er kann den Umständen entsprechend sowohl Gefolgsmann als auch Anstifter sein.

 

S. MERVIN: Wie alle religiösen Autoritäten haben die schiitischen Geistlichen manchmal Schwierigkeiten, sich Gehör und Gehorsam zu verschaffen ... Was die religiösen Parteien betrifft, rekrutieren sie militante Kämpfer, die praktizierende Gläubige und gehorsam sind. Sie erhalten aber auch die Stimmen der Schiiten, die nur an ihrem politischen oder sozialen Programm interessiert sind. Das trifft auf die Hisbollah im Libanon zu.

 

L. LOUËR: Einen weiteren wichtigen Akteur inmitten der schiitischen Bewegungen stellen die laizistischen Kader dar. In Bahrain nennt man sie bezeichnenderweise die Effendis, weil sie gegen den Klerus opponieren und ein westlich geprägtes technokratisches Profil zeigen. Für sie ist das Schiitentum eine Frage der Bekräftigung einer kollektiven Identität inmitten einer feindlichen Umgebung und weit weniger ein Projekt der religiösen Gleichschaltung einer Gesellschaft, wie es das ganz klar für die Geistlichen ist, die für ihren Teil die Hüter der islamischen Ideologie bleiben. Im Gegensatz zum Klerus sind die Effendis in der westlichen Kultur bewandert und machen aus dieser Akkulturation eine Quelle ihrer politischen Kompetenz, in deren Namen sie die Macht des Klerus anfechten, den sie gerne auf eine Ratgeberfunktion in politischen Fragen reduzieren würden.

 

Sunniten, Schiiten, religiöser Pluralismus

 

Kann man in den Entwicklungen des Sunnitentums und des Schiitentums Parallelen herausarbeiten? Reagiert die sunnitische Welt auf die Entwicklungen im Schiitentum?

O. ROY: Die Einzigen, die den iranischen Entwicklungen folgen, sind bestimmte muselmanische sunnitische Intellektuelle. Dagegen ist es interessant, sich auf die Seite der neuen sunnitischen Prediger zu begeben, die in den weltlichen Universitäten erzogen wurden und unmittelbar darauf zu Autodidakten in Sachen religiösem Wissen werden und sich in den weltlichen Kreisen durchsetzen, bevor sie ihre eigene Moschee eröffnen. Dieser Vorgang ist ein völlig anderer als bei den Schiiten, bei denen der Klerus das Monopol in der religiösen Lehre innehat. Nun aber charakterisiert eine zweifache Ausrichtung diese neuen sunnitischen Prediger: Die erste besteht darin, dass man sich aus der politischen Sphäre der Öffnung und des Auftretens entfernt; die zweite ist, dass sie im Nachhinein ein besonderes Interesse für die traditionellen klerikalen Institutionen bekunden.

 

L. LOUËR: Um die Frage der sunnitischen Reaktion auf die Entwicklung bei den Schiiten zu beantworten, sieht man sich am besten das an, was gerade in Saudi-Arabien geschieht. Die saudischen Schiiten waren die ersten, die eine direkte Parallele zwischen den Geschehnissen in Irak und ihrer eigenen inneren Situation erstellten. Ende April wandte sich eine schiitische Delegation mit einer Petition an den Prinzen Abdallah, in der das Ende der Diskriminierung der Schiiten gefordert wurde. Sie wurden öffentlich vom Prinzen empfangen, was niemals zuvor stattgefunden hatte. Im Moment scheinen sie ziemlich zufrieden mit dem zu sein, was sie erreicht haben, man spricht sogar von einem schiitischen Minister für das kommende Jahr. Außerdem befürwortet Prinz Abdallah unter anderem die Gründung eines Rates von Ulemas, der die schiitischen und sunnitischen Ulemas vereinen würde. Das Ziel dessen wäre, einen Dialog zwischen den beiden Parteien zu fördern, um damit ein besseres gegenseitiges Verständnis zu unterstützen. Der wahhabitische Klerus schätzt möglicherweise diesen Vorschlag nicht sehr, aber es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als ihm in dieser Angelegenheit zu folgen, was die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Schiiten und den Sunniten betrifft. Die Beziehungen zwischen den Schiiten und der saudischen Regierung haben sich seit 1993 zweifellos gebessert, aber grundsätzlich hat sich die Situation nicht verändert und die Schiiten haben nach wie vor das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein. Heute aber, angesichts der Situation im Irak, des Drucks der Amerikaner auf die Saudis und der Verbesserung der Lage der Schiiten in den anderen Golfmonarchien, wird es für die saudische Regierung notwendig, einen Schritt zu Gunsten der Schiiten zu unternehmen. Ein Teil der königlichen Familie, an deren Spitze Prinz Abdallah steht, will die Dinge wirklich ändern. Und angesichts einer sunnitischen islamistischen Opposition, die immer kämpferischer vorgeht, immer aggressiver und radikalisierter, können die Schiiten sogar zu Verbündeten werden. Das ist genau das, was sich in Kuwait abspielt.

 

Was die religiösen Minderheiten betrifft: Inwieweit ist das Problem des Judentums und des Christentums ein zentrales in dieser Region? Und ist andererseits ein Fortschritt im Umgang mit dem Zivilrecht zu verzeichnen?

S. MERVIN: Die Frage des religiösen Pluralismus wird von den iranischen Reformisten eingehend studiert, insbesondere in jenem Rahmen, den man »die neue Theologie« nennt. Die Grundidee besteht darin, dass Werte, die vor dem Aufkommen des Islam schon existierten, eine Gemeinsamkeit der Offenbarungsreligionen bilden und dass der Dialog zwischen den Religionen sich auf dieser Basis etablieren kann. Die Fortschritte im islamischen Recht sind langsamer. Dennoch ermutigen die modernistischen schiitischen religiösen Autoritäten die Frauen dazu, auszugehen, ein soziales Leben zu führen, zu arbeiten, sich außerhalb des Zuhauses zu entwickeln und einen Ehemann ohne Vermittlung der Familie zu finden.

Der schiitische Diskurs über die Frauen hängt von der inneren Situation des Landes ab. Die Weiterentwicklung der Lage der Frauen zu fördern, erlaubt es ihnen, sich als modern zu präsentieren und eine junge Klientel an sich zu binden. Fadlallah im Libanon hat vor allem eine junge Gefolgschaft. Er bekämpft beispielsweise das Kavaliersdelikt, und einige seiner Verlautbarungen werden sogar als schockierend erachtet. Es scheint sehr schwierig zu sein, die Fortschritte zu lokalisieren und eine modernistische Strömung im Verhältnis zu einer anderen zu bevorzugen. Der Gebrauch des Begriffs »modernistische Strömung« an sich ist auch nicht treffend, denn die Modernisierung ist zersplittert und ebenso wenig homogen, wie es die religiösen Persönlichkeiten sind, die sich nicht als Teil einer Strömung begreifen, sondern von denen jeder sich selbst als eine modernistische Strömung begreift. Man beobachtet also eine Bewegung, ohne eine Hauptströmung erkennen zu können, eine Bewegung, die durch den Druck der Traditionalisten gebremst wird.

 

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Die Diskussion erschien im Juliheft der französischen politischen Revue Esprit. Laurence Louër ist Orientalist beim CERI (Centre d’Études et de Recherches Internationales), Sabrina Mervin in derselben Funktion beim CNRS (Centre Nationale de la Recherche Scientifique), beides renommierte wissenschaftliche Institutionen in Paris. Olivier Roy, einer der führenden Orientalisten, ist Forschungsdirektor beim CNRS und Berater beim Analyse- und Prognosezentrum am Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Die Diskussionsbeiträge wurden von Olivier Mongin, Marc-Olivier Padis und Raphaelle Lepen zusammengestellt. Wir danken der Redaktion von Esprit für die Genehmigung des Abdrucks. Kleinere Kürzungen wurden seitens der Kommune-Redaktion vorgenommen. Die Übersetzung aus dem Französischen besorgte Christine Marendon.

 

1

Pierre-Jean Luizard: La Question irakienne, Paris: Fayard 2002.

2

Siehe Hamit Bozarslan und Hosham Dawod: »Le Pouvoir irakien, dix ans après la guerre«, in: Esprit, Februar 2001, S. 10–40.

3

Es handelt sich dabei um die jährlich stattfindenden Gedächtnisfeierlichkeiten zu Ehren des Märtyrers Hussein, Enkel des Propheten und dritter Imam der Schiiten, der in Kerbala 680 zu Tode kam, als er gegen die Armee der Omeyyaden kämpfte, die nach schiitischer Auffassung die Macht usurpiert hatten. Durch dieses Ritual erneuern die Schiiten ihre Anbetung und ihre Bindung an die Imame und büßen dafür, dass sie Hussein nicht zur Seite gestanden waren.

4

Religiöse Autorität, an die sich die Gläubigen in Fragen betreffend die islamischen Gebote wenden. Es gibt keine formale Ernennung eines marja, der sich unter seinesgleichen aufhält, den in ihren jeweiligen Wissenschaften und wegen ihrer Gläubigkeit und moralischen Integrität angesehensten Gelehrten. Mehrere marja können die höchste religiöse Autorität bilden: Der Gläubige wählt denjenigen, dem er folgen will.

 

Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe Oktober/November 2003 / 5/03.