Helmut Fleischer
Europa und der Rest der Welt
Votum für einen politischen Historismus
Ob
Historikerstreit in den Achtzigern, ob aktuelle transatlantische Spannungen und
ihre Beurteilung – die Verortung der zeithistorischen Probleme ist enorm
schwierig und wird von vielen ideologischen Hürden umstellt. Unser Autor greift
Standpunkte auf, die zuletzt in der »Kommune« dargelegt wurden, um daran seinen
eigenen Rahmenbegriff für die geschichtliche Ortsbestimmung, ausgehend von
Arnold Toynbee, zu entwickeln. Mit dem Topos der
»imperialen Zivilisation« versucht er eine traditionelle Geschichtsauffassung
wie die materialistische in eine zivilisationsgeschichtliche Gesamtperspektive
zu überführen.
Wir
Europäer«, so überschreibt Martin Altmeyer – nicht
ohne Ironie – sein Intermezzo zur jüngsten Diskussionswelle. In ihrem Vorspruch
fragt die Redaktion: Wann wird uns das von den Lippen gehen wie »wir Deutsche«?
Doch mit der »europäischen Identität« hat es nicht nur in der Debatte, die in
Heft 4 resümiert und fortgesetzt ist, sondern auch ganz prinzipiell etwas
Prekäres: nämlich in der Logik solcher kollektiv-pluralen
Titulierungen. Sie sind »essenzialistische«, auf
»Wesens-«Bestimmungen zielende Abstraktionen, in material-kommunikativer
Hinsicht sind sie in ihren usurpatorischen »Wir-«Vereinnahmungen wie auch in
ihren distanzierenden Abgrenzungen oft herrische Fremd- und
Selbstzuschreibungen, und sie sind eben damit unhistorisch. Altmeyer
hat das an den Versuchen, eine Essenz des »Europäischen« zu definieren, bündig
gezeigt.
Nicht nur um
den Leidigkeiten der Europa-Amerika-Debatte zu entgehen, sondern vor allem in
der positiven Absicht, zu bündigeren Charakterisierungen für das substanziell-konkrete
Zeitgeschehen zu kommen. Wer mit seinem Lebenslauf in das Zeitalter der großen
Ideologien des 20. Jahrhundert hineingewachsen ist und sich nicht darauf
einlassen mochte, wird heute recht betreten feststellen, wie penetrant
ideologisch, nur eben in anderen Signaturen, die heutigen Gegenwartsdiskurse
über die Bühne gehen. Das heißt: in den Bahnen von Ideentiteln, an denen das eigene
wie das gegnerische Wirken vermeintlich seine Richtpunkte findet. So wird jetzt
aufs Neue die »Idee Europa« beschworen.
Sich in
einer geschichtlich entstandenen Lage orientieren – das kann aber auf eine
recht verschiedene Weise vonstatten gehen. Um es auch in eigener Sache auf eine
andere, unideologische Weise ausdrücken zu können, in den Termini situationsbestimmter
Interessen und praktischer Kompetenzen, haben um Seriosität bemühte
Politikdenker um die Mitte des 19. Jahrhunderts bei ihrem Eintritt in die Praxis
der heraufkommenden Arbeiter-Sozialbewegung eine »materialistische« Auffassung
vom Geschichte-Machen konzipiert. Diese »wirkliche Bewegung« hat jedoch die
allzu hohen Erwartungen ihrer Vordenker nicht erfüllt. Vielmehr machte sie, als
sie mit ihrem sozial-reformatorischen Projekt in zunehmende Bedrängnis geriet,
daraus eine sozialreligiöse Ideologie und aus ihren materialistischen
Vordenkern die Propheten einer neuen Welt. Darüber geriet die beachtliche
geschichts- und politikanalytische Leistung ganz in Vergessenheit.
Mein
Vorurteil, das ich lebensgeschichtlich als ein »Fünfundvierziger« in der zurückliegenden
Weltkriegsepoche des 20. Jahrhunderts erworben habe, lenkte zuerst eine
diagnostische Bemühung auf die erinnerte Geschichte, in die ich da mit
hineingezogen worden bin. Ich habe sie als eine Dynamik von grandiosen
massengesellschaftlichen Mobilisationen erlebt und musste verstehen lernen, wie
sie in einen säkularen zivilisatorischen Prozess eingegliedert gewesen sind.
Die Schlüsselfrage lautete daraufhin: Auf welcher Bahn und an welcher Station
des modernen Vergesellschaftungsprozesses sind wir über alledem inzwischen
angelangt und, weil es ja nach wie vor keine gemeinsame Bahn ist, auf der »wir
alle« einmütig einherschreiten, war es die existenzielle Frage: Wie
unterscheidet sich die eigene Bahn und deren geistig-praktische
Verständnisweise von den Politik- und Gedankenbahnen anderer sozial- oder auch ethno-kultureller Feldsegmente?
Der Sinn dieses
Votums ist es nicht, meiner eigenen Orientierungslinie eine höhere oder
allgemeine Verbindlichkeit beizumessen. Meine (an die geschichtsmaterialistische
Tradition anschließende) historische Analytik sagt mir, dass alle Ortsbestimmungen
im geschichtlichen Feld einer Perspektivität
unterliegen, die manche nicht wahrhaben wollen oder können, während andere (wie
ich selber) sie sehr wohl auch für sich selbst gelten lassen. In welchen
geschichtlichen, übergeschichtlichen oder ungeschichtlichen Essenzialien
jemand sein Dasein wahrnimmt, hängt – mit J. G. Fichte gesprochen – davon ab,
»was für ein Mensch« er/sie ist. Je nachdem, wie (unterschiedlich) Menschen an
den Wirksamkeiten und Befindlichkeiten ihrer Zeitlage teilhaben, so
unterscheiden sie sich in ihren Verständnisweisen, Perspektiven und
Begriffsbildungen.
Deutsche
Befindlichkeiten
Die innerliche politische Depotenzierung
des schändlich kompromittierten und militärisch niedergeworfenen, besetzten und
geteilten Deutschlands, die bis jetzt seine Rehabilitation beeinträchtigt,
äußerte sich in einem ebenso reduzierten, selektiven und zwanghaften
Geschichtsbewusstsein. Die qualitative (oder kategoriale) Reduktion bestand
darin, dass die zurückliegende Geschichte bei aller Forcierung des »Täter-«Status
nicht organisch als ein geschichtlicher Handlungsverbund aus divergierenden
Kräften begreiflich wurde, sondern in einer ideologischen Stilisierung und justiziellen Fixierung als ein moralisches Lehrstück. Eine
fatale Fragmentierung war es, dass nicht der situative
Ursprung des Nationalsozialismus aus dem Ersten Weltkrieg und den Anomalien
seiner Beendigung gebührend in die Rechenschaftslegung einging, sondern mehr
und mehr ein absoluter ideologischer Urgrund im Antisemitismus zum Focus einer
forcierten Wahrnehmung wurde.
Während die
östlich-deutsche Nachkriegsgeschichte in der Sowjetrevolution (und der
gescheiterten deutschen Novemberrevolution) eine neue Vorgeschichte zugewiesen
bekam, wurde die westliche Nachkriegsgeschichte nicht nur durch den östlichen
Kontrahenten in eine Nachgeschichte der Hitlerzeit gebannt, sondern auch noch dadurch
in ihr festgehalten, dass sie in einen festen Verbund mit der Selbstbehauptung
des neu gegründeten Staates Israel rückte.
Eine
autochthone Nachgeschichte, deren Zentrum die Regenerierung der 1933 überwältigten
zivil-republikanischen Kräfte gewesen wäre, wurde nicht zur
politisch-kulturellen Dominante. Dazu reichte die autonome Potenz der sich
mühsam neu formierenden sozialkulturellen Bildungselemente einfach nicht. Auch
der Achtundsechziger-Aufbruch brachte keinen Zuwachs an republikanischer
Souveränität, sondern endete weithin in archaischen Subalternitäten.
Minenfeld
Zeitgeschichte(1)
Zu einer großen Heerschau der deutschen
politisch-historischen Kultur, namentlich im Derivat des deutschen
Geschichtsdenkens, geriet der »Historikerstreit«, den Jürgen Habermas 1986 mit einer »Kampfansage« ausgelöst hat. Die Angreifer,
die sich als Verteidiger deklarierten, haben ihn mit hohem politisch-religiösem
Eifer geführt, während die skeptischen unter ihren Kritikern (zu denen ich
gehörte) sogleich argwöhnten, der Streit sei eigentlich eine
»Stellvertreter-«Diskussion für etwas anderes: Namentlich wo heftige
öffentliche Dispute um die Vergangenheit entbrennen, stehen sie für etwas
Gegenwärtiges, für das noch kein deutlicher Nenner gefunden ist. Der
eigentliche Nenner ist kein historischer, die Vergangenheit betreffender,
sondern ein geschichtlicher Nenner für die Wahrnehmung der Gegenwart. In der Dokumentation,
die der Piper-Verlag bald folgen ließ, erhielt der Streit denn auch sein
einheitliches Thema: als »die Kontroverse über die Einzigartigkeit der
nationalsozialistischen Judenvernichtung«. Damit war die Segmentierung der
deutschen Erinnerungskultur für die Folgezeit festgeschrieben und ein Verbund
mit der israelischen Nachgeschichte von Auschwitz ratifiziert.
Im Jahr vor
dem Ausbruch des Streits hatte der (1989 verstorbene) Zeithistoriker Martin Broszat mit seinem »Plädoyer für eine Historisierung des
Nationalsozialismus«(2) einen bedeutend weiteren Rahmen für eine
deutsch-geschichtliche Retrospektive aufgemacht – und wurde später hart dafür
getadelt, dass in seinem Aufsatz der Name Auschwitz kein einziges Mal vorkommt.
Sein Thema steckte er so ab: »Das Besondere an unserer Situation ist die
Notwendigkeit und zugleich Schwierigkeit, den Nationalsozialismus in die
deutsche Geschichte einzuordnen.« Das war es, was er
unter einer »Historisierung« verstand, und das Arrivierte seines Prospekts war
es, dass er dafür eine denkbar breit gelagerte gesellschaftsgeschichtliche
Rahmenbestimmung im Sinn hatte, nicht eine ideologische Infektion.
In ihrem
Aufsatz über Nutzen und Nachteil gegenwärtiger Erinnerungskulte (Kommune
4/03) kommt Dagmar Barnouw zuletzt wieder auf die
Initiative von Broszat zurück und beklagt, dass man
damals darüber hinweggegangen ist. Sie bekräftigt, dass eine »konsequente
Historisierung der Nazi-Periode und der Kriegserinnerung ... zeitgenössisch
relevant sein« könnte (S. 76) – eben für entsprechend Wahrnehmungsfähige und
genügend Unbefangene. Als eine konsequent historisch Denkende weiß sie, dass
ein solcher Perspektivwechsel seinerseits in einem gegenwartsgeschichtlichen
Kontext steht und sehr voraussetzungsreich ist. Welche spezifische Bedeutung er
haben könnte, wäre noch auszuloten. Wer auf die Bahn der »konsequenten Historisierung«
kommt, bewegt sich außerhalb des Minenfeldes, in dem selbst J. Habermas einen Fehltritt begehen kann, der die Inquisition
auf den Plan ruft. Dass die erinnerte Geschichte zu einem Minenfeld werden kann,
ist ein Aspekt der »pragmatischen Behandlungsart« (Hegel), der zwanghaften
Manier, aus der Geschichte richtungs- und maßgebende »Lehren« für die Gegenwart
und Zukunft gewinnen (und verordnen!) können zu müssen. Das wäre ein Thema für
eine besondere Verhandlung.
Geschichte im
Prisma deutscher Ideologisierungen
Politisierende
Kulturintellektuelle führen seit eh und je eine prekäre Existenz. Wie prekär
sie auf ihrer oft argwöhnisch überwachten geistigen Freiheitsinsel existieren,
hat sich Anno 1800 der junge Schelling in Jena einmal in dieser so hochfliegend
einsetzenden Betrachtung klar gemacht: »Jede einzelne Intelligenz kann
betrachtet werden als ein integrierender Teil Gottes, oder der moralischen
Weltordnung. Jedes Vernunftwesen kann sich selbst sagen: Auch mir ist die Ausführung
des Gesetzes ... in meinem Wirkungskreise anvertraut, auch mir ist ein Teil der
moralischen Weltregierung übertragen, aber was bin ich gegen die vielen?«(3) Über das Ernüchternd-Bedrückende
dieser Einsicht suchten sich diese Vernunftwesen, die aus der Enge und
Isoliertheit ihres Wirkungskreises hinausdrängten, um wirklich politisch zu werden,
oft kühn hinwegzusetzen..
Der Aufbruch
war aber ebenso prekär wie der Zustand, den er überwinden wollte. Sein Medium
war eine listenreiche Liste von gedanklich-rhetorischen Figuren, so genannten
Ideen, die als ein Arsenal von Überzeugungen – in einem fatalen Hintersinn
dieses Wortes – ein Mehr an Zeugungskraft in sich zu bergen schienen. Die Idee
wird zur »materiellen Gewalt«, wenn sie »die Massen ergreift«, hieß es in einem
Manifest des Vormärz. Kaum war diese Sentenz 1843 niedergeschrieben, da hat ihr
Verfasser sie auch schon mit einer weit ausgreifenden Selbstkritik als ein
Requisit der »deutschen Ideologie« dementiert. Das hat eine neue Spezies von
politisierenden Ideologen, die konfessionellen Marxisten, nicht gehindert, das
vermeintliche Axiom der praktisch gewordenen Vernunft zu ihrem Credo zu machen
und die ideologiekritische Berichtigung zu unterschlagen. Gewiss, das erstrebte
Mehr an praktischer Zeugungskraft sollte aus einer Verbindung der Ideenträger,
die vordem nur Ideologen gewesen waren, mit der »wirklichen Bewegung« einer aufstrebenden,
weil produktiven und vereinigungsfähigen Gesellschaftsklasse erwachsen. Was in
dieser Verbindung geschichtlich erwuchs, war nicht wenig; es blieb jedoch weit
zurück hinter den anderen Kräfte-Aufgeboten eines Zeitalters, in dem die
Sozialdynamik der kapitalistischen Industriezivilisation ein imperiales
Zeitalter hervortrieb, das in einer grandiosen
Weltkriegsepoche kulminierte. Die reichlich irreguläre Sozialrevolution, die
der Krieg auslöste, war und blieb ein Teil jenes imperialen Auftriebs.
Worauf
konnte sich ein denkender und sensibler Zeitgenosse einstellen, der am Ausgang
dieses Katastrophenzeitalters dennoch nicht alle Hoffnung fahren lassen mochte?
»The Unit of Historical study«
Einige verengende Fixierungen hielten das deutsche
Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert davon ab, sich historisch in einem
Welthorizont auszuweiten. Erst war es ein Zeitalter lang die nationalpolitische
Kollektivierung, die der Nationalsozialismus ins Extrem trieb, auf das nach dem
Absturz bei manchem der Umschlag ins Gegenteil folgte, eine ebenso
außergewöhnliche Depotenzierung der Nationalität, oft
verbunden mit der Annahme, so sei es die progressive Norm überhaupt. Ein moralischer
Universalismus etablierte sich und fand gleichwohl im »Nie wieder Auschwitz«
einen zentrierenden Nenner. Zum Achsenbildenden für die vorherrschende
Geschichtswahrnehmung der Nachkriegszeit wurde die Ost-West-Spaltung, die im
Osten als ein Gegensatz von alter und neuer Gesellschaftsordnung ideologisiert
wurde, im Westen als der ordnungspolitische Prinzipiengegensatz von Demokratie
und Diktatur, freier Welt und Totalitarismus. Nach der Auflösung des
Sowjetimperiums machte für ein kurzes Interim die komische Parole die Runde,
als habe damit die Demokratie weltweit gesiegt und die Geschichte ein
befriedetes Ende gefunden. Aus einer anderen Ecke war der kuriose Einfall zu
vernehmen, nach der Abwertung aller bisherigen kollektiven
Identitätsbestimmungen sei an ihre Stelle die »Generation« getreten.
Als ich (in
der Kommune 2/91) widersprach, brachte ich die Zivilisation als Rahmenbegriff
für die geschichtliche Ortsbestimmung in Ansatz, die einst der britische Universalhistoriker
Arnold Toynbee (1889-1975) verwendete, die ihm(4)
als die Grundgliederung für geschichtliche Daseinsweisen und Prozesse
galt.(5) Der Titel »Zivilisation« verhält sich natürlich komplementär zu dem
der Gesellschaft[en], zielt aber weiter als eine bloße Genealogie von
Gesellschaften, indem er deren Stoffwechsel mit der Natur in seiner bestimmten
erdräumlichen Gestaltung einbezieht, und damit auch die Genealogie der
Arbeitsgesellschaften und die von Migrationen/Eroberungen. Das Marx-Engels’sche
Konzept der »materialistischen Geschichtsauffassung« ist von seinem Ansatz her
offen für eine zivilisationsgeschichtliche Gesamtperspektive.
Zivilisation
muss kein Gegenbegriff zu »Kultur« sein, sofern diese ja beim colere beginnt, dem Bebauen des Bodens und den auf
ihm gründenden Aufbauten. »Noch erringet mit Mühe unser Geschlecht seinen
Unterhalt und seine Fortdauer von der widerstrebenden Natur«, trug der zum
Philosophen gewordene Bauernsohn Fichte ins Protokoll ein und beförderte damit
eine Geschichtsauffassung, die dieses Elementare nicht hochnäsig überspielt.
»Noch ist die größere Hälfte der Menschen«, so fährt er fort, »ihr Leben
hindurch unter harte Arbeit gebeugt, um sich und der kleinen Hälfte, die für
sie denkt, Nahrung zu verschaffen; sind unsterbliche Geister genötigt, alles
ihr Dichten und Trachten und ihre ganze Anstrengung auf den Boden zu heften,
der ihre Nahrung trägt.«(6) Der Blick geht weiter auf die
territoriale Besonderung von Menschengesellschaften, auf ihre zivilisatorischen
Höhenstufen und Gefälle, auf ihre Migrationen, Konflikte und Eroberungen – auf
die Totale des menschheitlichen Lebensprozesses.
Imperiale
Zivilisation
Die besondere Aktualität der Zivilisationsperspektive liegt
darin, dass nicht wenige der Konflikte in unserer Welt (und nicht erst in der
Gegenwart) etwas mit einem Kampf um die Zivilisation zu tun haben – und zwar
vor allem positiv um die Zugänge zu ihr. Die Marktkonkurrenz der
Industrieländer und ihre einseitige Nachfrage nach dem, was die Entwicklungskandidaten
zu bieten hatten, haben deren zivilisatorischen Rückstand in einem
Halbjahrhundert kärglich bemessener »Entwicklungshilfe« nicht wirksam
vermindert. Überdies ist ja auch der Reichtum der »reichen« Länder nicht
dauerhaft gesichert und darum einigermaßen prekär.
Auch nach
der Entkolonialisierung leben wir weiterhin in einer intensiv imperialen
Zivilisation. Als die »Systemkonkurrenz« zwischen Marktwirtschaft und
Staatssozialismus noch als ein ideologisches oder sozialreligiöses Schisma
galt, tendierte ich zu dieser profanierenden Deutung: Nach dem Zusammenbruch
der alteuropäischen Mittelstaaten-Imperialismen ringen jetzt die (wie auch
immer strukturierten) Machteliten der Super-Nationalstaaten darum, wie frei
jede über unbestimmt viele Hilfsquellen in der Welt verfügen kann, um ihr
Zivilisationsgleichgewicht zu wahren oder erst zu erreichen, ihre innere
Bewährungsbalance in Ordnung zu halten oder in Ordnung zu bringen: Halte, was
du hast, und erlange, was dir noch fehlt. Hiroshima und Nagasaki hatten ihre
besondere »Rationalität« nicht als besiegelnder Schlussakt, sondern als ein
Voraussignal.
Es scheint
mir eine Kernfrage unserer geschichtlichen Ortsbestimmung zu sein, was nach der
Orgie der Weltkriegsepoche und ihrem Nachspiel im Kalten Krieg – jenseits der
ideologisch-propagandistischen Formeln der Kontrahenten – aus dem Erbteil des
modernen Imperialismus geworden ist.
Die Rede von
einer »imperialen Zivilisation« bedarf vorab einer Differenzierung. Sie kann
von Fall zu Fall einen exzessiv vorherrschenden Charakter treffen, aber nicht
den Gesamtcharakter einer Großgesellschaft. Diese ist vielmehr stets eine »Gemengelage«
aus verschiedenen Charakterverfassungen, die in den sozialen Klassen-,
Schichtlagen, Sozialmetiers und Symbolisierungsfeldern (wie den ideologischen
Repräsentationen) in unterschiedlicher Proportionierung
entweder dominant oder subordiniert wirksam sind. An
ihren herausragenden Spitzen äußert sich die Imperialität
als eine militärisch korporierte und strategisch ausgerichtete, auf einer
breiteren Basis als eine ökonomische und kulturinstitutionelle. Die konzeptive Enge und Schwäche der marxistischen
Imperialismustheorien war es, dass sie die Imperialität
immer irgendwo »oben« in den herrschenden Klassen lokalisiert sahen und nicht ihre
breite Volksbasis sehen wollten.
Den Gegenpol
zu den imperialen Potenzialen bilden seit Menschengedenken die
zivil-kooperativen Bildungselemente (»Formativkräfte«), die in den
Produktivkräften, in der Ausbildung von Bedürfnislagen und sozialen Verhaltenskulturen
lebendig sind. Als die Gründerväter des Arbeitersozialismus den Kampf zwischen besitzend-herrschenden und unterdrückt-arbeitenden
Klassen als die Bewegungsachse der modernen Gesellschaft ausriefen, trat jene
andere, mehr elementare Charakterdifferenz für sie in den Hintergrund. Sie hat
sich jedoch in der faktischen Geschichte als die am meisten schicksalhafte
erwiesen.
Historische
und gegenwärtige Indizien sprechen dafür, dass die einen wie die anderen Verhaltensdispositive nicht als die allgemeinen, allen
Menschen gemeinsamen in die Menschennatur eingeschrieben sind, sondern disjunktiv nach Typusprägungen gesondert. Diese
Besonderungen sind aber auch nicht gänzlich von wechselnden geschichtlichen
Konstellationen produziert, haben vielmehr einen mehr unspezifischen naturalen Ursprung. Jene wechselnden Konstellationen
aktualisieren jeweils nur Impulse und Charaktere, die typusspezifisch gestreut
und möglicherweise in gleich bleibenden Häufigkeiten heranwachsen. Man muss
(oder darf) wohl annehmen, dass in jeder größeren Population annähernd gleich
starke Charakterpotenziale eines herrisch-zupackenden
Verhaltens latent oder manifest sind, sich aber je nach der Gesamtkonfiguration
in unterschiedlichen Betätigungsdimensionen ausleben.
Die Zivilität wie die Imperialität
haben ihre je eigenen Rangstufen und breiten sich – je nach der
sozial-zivilisatorischen Konjunktur – sowohl von oben nach unten als auch von
unten nach oben aus; die Imperialität hat ihre
Niederungen in der ordinären Vorteilsjagd und Geldnehmerei. Das bürgt
andererseits zwar – von den Voraussetzungen her – für eine Wiederkehr von
Gleichartigem, doch nicht für die Wiederkehr des Gleichen in den resultierenden
Effekten. Namentlich nicht dafür, dass aus den aggressiven Triebregungen
unbedingt die ewige Wiederkehr kriegerischer Kollisionen folgte.(7) Die Frage wäre aber nicht in einer
sozial-anthropologischen Abstraktion, sondern geschichtlich-prospektiv in ihrer
menschheitlich-konkreten Extension anzusetzen;
aktuell als ein Prospekt für die moderne Weltzivilisation mit ihren enormen
zivilisatorischen Gefällen.
Die imperiale
Zivilisation, ihre Feinde und ihr Widerpart
Die grundlagentheoretische Heuristik ließe sich natürlich
weiter fortsetzen. Bleiben wir aber bei der Aktualität des Zustandes nach der
imperialen Systemkonkurrenz. Schon als diese noch andauerte, konnte man die
Anfänge einer tiefer gehenden Zivilisationskrise diagnostizieren – nicht
weniger, nicht mehr.(8) Einer der
Zeitdenker der Nachkriegsjahrzehnte, der dem SS-Staat entronnene Eugen Kogon,
sagte im Orwell-Jahr 1984 lapidar: »Unsere Zivilisation wird sich entweder
ändern oder wir gehen an ihr zu Grunde«. Doch wie nicht selten in der
Geschichte verlagern sich die inneren Unzuträglichkeiten an Außengrenzen;
zuerst schon mit dem Kalten Krieg, dann in ethnischen Kollisionen an der
Peripherie. Mit dem Golfkrieg von 1991 wurde das zur Dominante, und es hat sich
inzwischen dramatisch fortgesetzt, als eine ungeheuerliche Aktion aus der
Peripherie ins Zentrum der Hochzivilisation mit deren eigenen Instrumenten
zurückschlug. Ich denke, dieses Geschichtszeichen ist zivilisationsgeschichtlich
statt nur politkriminalistisch zu deuten(9), als präliminare
Aktion im Zuge der Formierung einer politokratisch-gegenimperialen
Machtelite. Die betroffene Weltmacht antwortete darauf sofort mit einer
weiteren Potenzierung ihrer militärischen Imperialität.
Sie fand dabei (kraft verschiedener zivilisatorischer Affinitäten) einige
Partner, während an der Seite einer altersweisen
französischen Ex-Kolonialmacht unsere deutsche Regierung aus tiefen Gründen und
mit einer oberflächlichen Begründung ihre Renitenz bekundete. Dies ist ja der
Einstieg für den neuen Europa-Aktivismus gewesen.
Über
Bedeutung und Perspektiven der gesteigerten US-amerikanischen Imperialität entsteht bereits eine anwachsende Literatur,
die auf die Konstitutionsschwäche der Supermacht verweist, deren
Militärpotenzial für die Landesverteidigung zu groß, für die Beherrschung der
Welt aber zu klein ist.(10) Die 400 Milliarden $
Staatsschulden zeugen nicht von einem Zustand sozial-zivilisatorischen
Gleichgewichts. Ich möchte mich jetzt nur, die von M. Altmeyer
geäußerten Bedenken bekräftigend, auf die europäische Seite beziehen und meine
Zweifel an der geschichtlichen Seriosität des neuen Euro-Aktivismus anmelden.
Zu seiner ideologischen Signatur gehört eine ganz notorische kulturalistische
Oberflächlichkeit, die sehr gegen die Problemtiefe und das Problemgewicht der
weltweit bestehenden Zivilisationsgefälle kontrastiert. Die Problemmasse ist
von einer Größenordnung, dass man sie kaum zu benennen wagt, weil man dabei
mitsamt dem ganzen Europa plus Nordamerika so winzig klein wird. In einer
samstäglichen Fernsehfolge, deren Titel »Eine Welt« oft wie ein Sarkasmus
wirkt, bekommen wir in vielen Facetten vor Augen geführt, in welchen Niederungen
sich »menschliches Leben« in weiten Teilen der Erde abmüht und abquält. Daneben
erscheint es als ein wenig vermessen, wenn der großherzige Zeitgenosse E. Kogon
seinen Aufsatz unter die Überschrift setzte: »Die Aufgaben vor uns« und
darunter solche Dinge auflistet wie »die Entwicklung der Länder in der Dritten
Welt« und »die Reglementierung der Bevölkerungsvermehrung«.(11)
Wie einst
die große Europäische Imperialkrise, die sich in der Weltkriegsepoche des 20.
Jahrhunderts entlud, äußert sich die sich anbahnende Zivilisationskrise, die
stellenweise in imperiale Flucht-nach-vorn-Aktivismen
umschlagen kann, sichtlich wieder zuerst auf der internationalen Bühne. Ich
muss nicht wiederholen, dass hier nicht Kulturen (oder gar Religionen) und auch
nicht Zivilisationen einander gegenüberstehen – es sei denn Hochzivilisationen
den zivilisatorisch minder ausgestatteten, und innerhalb von diesen jeweils Ethno- und Sozialkulturen von mehr zivil-kooperativem oder
mehr imperial-rivalistischem Charakter.
Während die
imperiale Wahrnehmungsart sowohl die eigene Population nur als Patrioten sehen
möchte als auch ihre Gegner/Feinde einer nationalen Zwangskollektivierung
unterwirft, ist auf der zivilen Gegenseite die Klassifikation gerade umgekehrt.
»Persönliche Individuen« imaginieren ihr in- oder
ausländisches Gegenüber nicht als anonyme Massen von Klassen- oder
Nationalindividuen. Bei der »Aufarbeitung« der Geschichte des 20. Jahrhunderts
ist, zumal mit der Scheidung nach Täter- und Opfervölkern, eine grobe
Verwahrlosung eingerissen, die nicht einmal angesichts der Kinder an sich irre
wird.
So haben
auch die Imperialismen ihren je eigenen Tonus. »Ein
Imperialismus war des anderen wert«, schrieb der Historiker und
Geschichtspolitiker Michael Stürmer im Blick auf das 20. Jahrhundert. »Nur war
jener der verspäteten Nation in Europas Mitte besonders verführerisch, am
meisten aus Angst geboren und am stärksten der Gefahr ausgesetzt.«(12) In eine solche Position ist jetzt
sichtlich die Weltmacht mit der am meisten verschwenderischen Zivilisation
eingerückt. In der Tat kann man den Eindruck bekommen, in der Regierungssphäre
der USA glaube man schon nicht mehr an die Möglichkeit, die Weltgesellschaft
zivilisatorisch zu integrieren. Doch das heutige Europa ist davon nur graduell
verschieden. Es kann vor dem großen Rest der Welt nicht glaubhaft als ein
Widerpart gelten und seine Reserviertheit in klingende politische Münze
umsetzen. Eine zivilisations-reformatorische Position lässt sich nicht so ad hoc
»aufbauen«, wie die Imperialos sich heute den
»Aufbau« der Demokratie in Afghanistan oder im Irak vorstellen – und dabei
geflissentlich von den Materialitäten der zivilisatorischen Ökonomie absehen.
In deren
Perspektive läge die langzeitige Anbahnung einer anderen, nicht kulturalistisch
verengten) inter-zivilisatorischen Koalitionsbildung, die weit geöffnet wäre
für den »Rest der Welt« und uns ein wenig von den Tellerrändern unserer
internen inklusive europäischen Verteilungskampf-Suppen ablenken würde.
Kasten:
Helmut
Fleischer, geb. 1927, wurde nach dem Flakhelferdienst noch für die letzten zehn
Kriegswochen an die Ostfront geschickt und mit einer zweijährigen Nachkriegsgefangenschaft
in der Sowjetunion entlohnt, gehört also zu den jüngsten »Veteranen« der
Zeitgeschichte. Er hat in den seitdem verflossenen Jahrzehnten als geschichtsphilosophisch
engagierter Hochschullehrer viel darüber nachgedacht, aus was für einer Geschichte wir uns aus dem 20. Jahrhundert heraus
bewegen. Seit er 1987 in der Kommune den deutschen »Historikerstreit«
und den »langen Abschied der populistischen Linken« kommentiert hatte,
beteiligte er sich immer wieder an Debatten in unserer Zeitschrift, so auch
nach dem 11. September 2001 mit einer Betrachtung zum »Weltkampf gegen den Terrorismus«
(11/01). Der vorliegende Diskussionsbeitrag schließt sich an zwei Aufsätze im
vorigen Heft der Kommune an und geht einigen Weiterungen nach.
1
Diese
treffende Lagebestimmung findet sich im Vorspruch und als eine Zwischenüberschrift
im Text von D. Barnouw.
2
Es erschien
zuerst im Merkur 435 (Mai 1985) und wurde 1986 nachgedruckt in dem von
H. Graml und J.-D. Henke herausgegebenen Band Über
den schwierigen Umgang mit unserer Vergangenheit. Arbeiten von Martin Broszat (München: Oldenbourg).
3
F. W. J.
Schelling: System des transzendentalen Idealismus, Hamburg: Meiner 1957
(Phil. Bibl. 254), S. 265 f.
4
Vorausgegangen
war Henry Thomas Buckle (1821–63), von dessen unvollendetem Werk über das ganze
nachmittelalterliche Westeuropa ein fertig gewordenes Teilstück zuerst unter
dem Titel History of Civilization
in England veröffentlicht wurde.
5
Zu nennen
ist auch ein Buch des brasilianischen Autors Darcy Ribeiro: Der zivilisatorische Prozess, deutsch 1974
bei Suhrkamp erschienen.
6
Die
Bestimmung des Menschen (1800), Fichtes Werke (Faksimile-Nachdruck bei de Gruyter) Bd. II, S.
266 f.
7
Pragmatisch
gewendet ist es die Frage nach der »Abschaffbarkeit« von Kriegen, die Herfried
Münkler in einem Aufsatz erneut diskutiert hat: »Ist Krieg abschaffbar? Ein
Blick auf die Herausforderungen und Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts«, in:
Bernd Wegner u. a. (Hrsg.): Wie Kriege enden. Wege
zum Frieden von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn u. a.: F. Schöningh.
8
Ich tat dies
1987 in meinem nur wenig beachteten Beitrag zur damaligen Ethikdiskussion, der
bei Fischer erschienenen Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen
Bewusstseins (S. 226).
9
Ich
verwendete die Formel »Politikum Zivilisation« zweimal in der Kommune 2/1991
und 11/2002.
10
Siehe
Emmanuel Todd: Weltmacht USA. Ein Nachruf, München: Piper 2003. – Siehe
dazu auch in der Kommune: Joscha Schmierer, in: »Bücherfenster: Visionen
und Mächte« (Heft 2/03, S. 108); Jörg Später, in: »Zwölf Uhr mittags. Der
amerikanisch-europäische Antagonismus und die Intellektuellen« (Heft 3/03, S.
16).
11
Frankfurter
Hefte, FH Extra 6,
S. 9 f.
12
Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Berlin 1983, S. 315.
Kommune.
Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe Oktober/November 2003 / 5/03.