Michael Ackermann
Editorial
Der von der israelischen
Regierung geführte Kampf gegen den Terror der Hamas hat diesen keineswegs
geschwächt. Geschwächt wurden in den letzten zweieinhalb Jahren vor allem die
palästinensischen Autonomiebehörden. Damit einher ging die Stärkung der
islamischen Sozialwerke für die Bewohner Cisjordaniens
und des Gazastreifens. Der Korrespondent der NZZ verweist am 13.9.03 auf
eine Untersuchung von Christian Aid, wonach »drei
Viertel aller Palästinenser mit weniger als zwei Dollar pro Kopf am Tag« leben.
UNO-Vertreter berichten, dass private Hilfswerke für etwa 60 Prozent aller
Bedürftigen aufkommen. Nach Schätzungen bezieht jeder sechste Palästinenser der
Autonomiegebiete islamische Hilfe. Man rechnet mit 70 bis 100 Organisationen im
Umkreis der Hamas. Auch aus diesem Grund lehnt etwa die International Crisis Group ein brutales Vorgehen gegen die Hamas als
Ganzes ab. Die Hamas ist nicht nur eine Terrororganisation, sondern auch eine
politische und soziale. Wenn also die EU-Außenminister nach der militärischen
auch die politische Hamas als Terrororganisation einschätzen und auf die Liste
der mit Sanktionen bedrohten Organisationen setzt, um, wie die USA mit
Kontensperrungen, die Blockade der Finanzmittel der Hamas zu erreichen, muss man
wissen, dass damit auch direkt die soziale Lage eines Großteils der
Palästinenser berührt wird. Die Folge sind demonstrierende Massen von
Nutznießern der »Sozialhilfe« – und damit das Potenzial einer weiteren
Radikalisierung.
Selbst wenn also die Annahme
richtig wäre, Arafat wolle den Terror und bediene sich dazu der Hamas, wäre
seine Isolation, Vertreibung oder gar Tötung nur ein Treibsatz für verschärften
Terror. Die israelische Regierung läuft also Gefahr, aus einer Position der
Stärke heraus sich selbst zu schwächen. Hat dass damit zu tun, dass man den
Gegner nur noch aus einer verengten Perspektive betrachtet und die eigentliche
Lage gar nicht mehr erkennt?
Diese Frage stellt sich
auch für die USA im Irak. Unbegriffen erscheint die innere Verfasstheit der
irakischen Gesellschaft unterhalb des Herrschaftssystems von Saddam Hussein.
Das Gespräch, das französische Experten über den Schiismus
im Irak, Iran und den Golfstaaten führten,
gewährt Einblicke in Verhältnisse, von denen die Handelnden in den USA
offensichtlich kaum eine Vorstellung haben. Das hat allerdings nicht nur mit
deren ideologischer Sichtverengung zu tun, sondern auch mit dem Selbstabschluss
der arabischen Gesellschaften.
Das Elend der arabischen
Gesellschaften wird greifbar im »Arab Human Development Report«, erstellt von arabischen
Wissenschaftlern und Intellektuellen, der von Bruno Schoch,
Friedensforscher bei der HSFK, in einem Artikel der FR (11.9.03)
auszugsweise referiert wird. Ein Beispiel: »Im Jahr 1981 produzierte China halb
so viel wie die arabische Welt; 1987 hatte es dasselbe Produktionsvolumen
erreicht wie sie; heute produziert es das Doppelte.«
Der wirtschaftlich-soziale Rückstand geht noch einher mit einem kulturellen
Selbstabschluss: »Zusammengerechnet wurden seit der Zeit des Kalifen Maa’moun im 9. Jahrhundert um die 100000 Bücher ins Arabische übersetzt – das
entspricht ungefähr dem Jahresdurchschnitt an Übersetzungen in Spanien!« Die Zeiten der Hochkultur der arabischen Hemisphäre als
Transmissionsriemen von Wissen und Emanzipation nach Europa sind Vergangenheit,
die Selbstisolierung schreitet voran.
Das ist kein Anlass für
Hochmut, sondern für Erschrecken. Denn hinter dieser Entwicklung steht eine
ungeheure wechselseitige Unkenntnis. Die
weitgehend unbegriffenen Funktionsweisen von sozialen und kulturellen Systemen
anderer Gesellschaften und das daraus entspringende Konfliktpotenzial können
nur mit einer »zivilisations-reformato-
rischen« Position und nicht mit imperialer Politik zu
haben ist (siehe den Aufsatz von Helmut Fleischer im »Forum«). Da wird uns die
Parole »Kapitalismus oder Barbarei«, die der
Merkur jüngst ausgegeben hat, in der Auseinandersetzung mit den
»Zurückgebliebenen« nur wenig helfen. Zumal der Kapitalismus seine eigenen
Probleme produziert. Und wer sagt uns denn, dass die tiefen Brüche demokratisch
regulierbar bleiben? Der beschleunigte Globalisierungsprozess ist eben keine
Einbahnstraße der traditionell führenden Industriemächte. Man mag das Scheitern
des Kongresses von Cancun als einen Sieg der Entwicklungsländer
über die Interessen der führenden Industriemächte einschätzen. Aber eine
internationale »gemeinsame Kampffront« zeichnet sich damit nicht ab. Denn die
Interessen der Bevölkerungen in den hochkapitalisierten
Industrienationen und denen der Entwicklungsländer sind so wenig identisch wie
etwa die Interessen von China und Zaire. Die Lage ist weitaus widersprüchlicher
als zu Zeiten des klassischen Kolonialismus. Heute teilt sich die Welt nicht
mehr nur in Kolonialisierte und Kolonisierende, komplizierte
Interessensunterschiede und -verflechtungen etwa von Bauern hier und in den
Entwicklungsländern liegen ebenso vor wie eine weltweite Lohnabhängigkeit, die
jedoch von lokalen und nationalen Traditionen grundiert wird und eine
einheitliche Frontbildung erschweren. Die deutsche Sozialstaats- und
Bildungsdiskussion, in dieser Ausgabe fortgeführt, steht also real unter dem
Druck internationaler Konkurrenz.
Kommune.
Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe Oktober/November 2003 / 5/03.