Eric Oberle
(History
Department,
Das zwanzigste Jahrhundert als
Person
Zu Detlev Claussens
Buch über Theodor W. Adorno
Das Jahr des hundertsten Geburtstag Theodor
W. Adornos könnte sich als das Jahr herausstellen, in dem die Dynamik, die in
dieser Idee steckt, wieder in die Diskussion um die kulturelle Figur und den
Philosophen Adorno zurückkehrt. Dass man sich dreißig Jahre nach seinem Tod an
ihn als schwer verständlichen und einschüchternden akademischen Spezialisten
erinnert wird, liegt auch an der Spannweite seines Lebenswerks. Es erstreckt
sich über Philosophie, Soziologie, Musikwissenschaft, Literaturkritik und
Marxsche politische Theorie und hat eine unzusammenhängende
Rezeptionsgeschichte in den verschiedensten akademischen Disziplinen über sich
ergehen lassen müssen. Die angemessene Wahrnehmung von Adornos theoretischen Abreiten wurde jedoch nicht allein durch die
Dialektik von Kultur und Spezialisierung erschwert. Die Tatsache, dass Adorno
nicht nur mit den protestierenden Studenten der sechziger Jahre aneinander geriet,
sondern auch mit vielen, die die Studenten und alles wofür sie eintraten
hassten, hat das kulturelle Bild von Adorno – Adorno als Persönlichkeit –
in eine Art Chiffre verwandelt, in die all die Ambivalenzen jener Zeit auf
paradoxe Art und Weise eingeschrieben wurden. Sein Denken blieb hinter diesem inkonsistente Bild oftmals verborgen. Ob er nun als
paradoxer „revolutionärer Pessimist“, als prüder Provokateur, als anti-subjektivistischer Philosoph der Subjektivität oder
als émigré retourné, der
weder Amerika, noch Jazz, weder Politik noch den Sommer der Liebe verstand,
dargestellt wurde, — stets prägte ein klischeehaftes Bild des Autors die seine
einzelnen Werke und die Diskussion über die anhaltende Bedeutung seiner
Gedanken.
Theodor W. Adorno. Ein Letztes Genie von Detlev Claussen bietet ein biografisches Portrait Adornos als
kulturelle Figur, das sowohl das Fachwissen als auch das Kulturwissen in Bezug
auf Adorno verändert. Das Buch ist weniger eine chronologische Darstellung,
sonder besteht aus eng miteinander verwobenen biografischen Essays, die Adornos
Denken in Bezug auf Gesellschaft und Erfahrung erforschen. Dabei wird das Bild
von Adorno als Spezialisten – als Philosoph, Soziologe, Musiker und
Literaturkritiker – durch eine Entmystifizierung der
Person neu geschaffen. Claussen stellt Adornos Leben
als Reihe intellektueller Freundschaften dar und untersucht dabei die Ideen,
die den Denker Adorno an die Welt banden, indem er diese Ideen als gelebte
Erfahrung präsentiert – als Dialog mit anderen, als Beschäftigung mit
historischen Ereignissen, als Bedürfnis nach künstlerischer und individueller
Selbstdarstellung, als Versuch, Wut, Einschränkungen, Gewalt und
Diskriminierung zu bewältigen.
Wenn man wie Claussen
ein intellektuelles Leben als Folge von Auseinandersetzungen mit Individuen und
Ereignissen versteht, die durch Ideen vermittelt sind, dann gibt Adornos
intellektuelle Biografie Aufschluss über große Teile dessen, was der Historiker
Eric Hobsbawm das „kurze zwanzigste Jahrhundert“
genannt hat. Es ist jener Zeitraum, der Weltkriege und Revolutionen umfasste,
Holocaust und GuLag, die endgültige Zerstörung der
alten europäischen Ordnung und die Einrichtung der modernen sozialstaatlichen
Demokratien. Adornos Philosophie entwickelte sich aus der „Hochkultur“ des
neunzehnten Jahrhunderts; er versuchte, dieses Denken umzugestalten, indem er
es auf die Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts bezog. Er tat dies, so
argumentiert Claussen, aus zwei Gründen: Aus der
Hoffnung heraus, die Vergangenheit als das zu verstehen, was die Ausübung von
Freiheit strukturiert und limitiert, und aus dem persönlichen Bedürfnis des
eigenen Schuldgefühls, den Holocaust überlebt zu haben. Adornos anhaltendes
Verdienst als Theoretiker lag in seiner avancierten Rolle als Vermittler von
Traditionen, die, wenn auch gebrochen, viel Bewahrenswertes enthielten. In
diesem Sinne bietet macht sein Leben es möglich, die noch lebendige Dimension
deutschsprachigen intellektuellen Lebens im zwanzigsten Jahrhundert zu
verstehen, wie es durch ein wahrhaft ‚inneres Exil’ überlebte und verändert
wurde; das Exil derjenigen deutschen und deutsch-jüdischen Intellektuellen, die
vor dem Nationalsozialismus fliehen mussten.
In einem mitreißenden Eingangskapitel
werden die frühen Jahre Adornos mit Blick auf Geschichte und kulturelle
Entwicklungen in Deutschland untersucht und auch die Erfahrungen der
europäischen Juden mit einbezogen. Claussen
interpretiert und beschreibt das individuelle Leben in Bezug auf
weiterreichende und umfassende, überindividuelle Entwicklungen. Es ist die
Geschichte von Wunderkind Teddie, der bürgerlichen
Gewächshauspflanze, dessen starke Identifikation mit der deutschen Hochkultur
sowohl global gedeutet wird – im Sinne der allgemeinen demografischen und
historischen Muster von Modernisierung, Säkularisierung und Industrialisierung
–, als auch lokal – im Sinne der spezifischen Position der jüdischen Gemeinde
Frankfurts und ihrer Fraktionen. Claussen beschreibt
die Geschichte der Schönen Aussicht und des Börneplatzes, von Ostend und Westend, von
Königstein und Amorbach durch die historische Dialektik von Modernisierung und
Assimilation und analysiert parallel dazu Adornos éducation
sentimentale anhand derer, die sie förderten und der Verbindungen, aus denen
sie hervorging. Die beiläufig erzählte Geschichte Frankfurts, das einerseits
beschützte Provinz und andererseits im historischen Wandel begriffen ist
stellt, wenn man so will, eine alternative, deutsch-jüdische Version der
Erzählung bürgerlicher Transformationen und Illusion dar, wie sie in Thomas
Manns Buddenbrooks geschildert wird. Manns Epos von Vätern und Söhnen im
neunzehnten Jahrhundert, das durch die Spannung zwischen Künstler und Bürger
belebt wird, ist, wie Claussen zeigt, in der
Frankfurter Lebenswelt des fin-de-siècle greifbar.
Und doch wäre, wie Claussen darlegt, dieses Epos ein
sehr viel anderes, reichte es bis in zwanzigste Jahrhundert hinein oder sollte
es von den ganz anderen Spannungen erzählen, die zwischen deutschen und
jüdischen Dimensionen von Identität und Kultur bestanden.
Adorno, er war 14 Jahre alt, als der Erste
Weltkrieg endete und die modernistische kulturelle Revolution ihren Anfang
nahm, war einer der letzten Intellektuellen des neunzehnten und somit einer der
ersten des zwanzigsten Jahrhunderts. Zu spät geboren, um in die Armee
eingezogen zu werden, aber jung genug, um der Generation von Intellektuellen
anzugehören, die in den Krieg musste, wurde er oft als Wunderkind angesehen,
das entweder die Nüchternheit oder die Radikalität derjenigen vermissen ließ,
die, nachdem sie Kaiser und Vaterland verteidigen sollten, dazu verurteilt
waren, unter ihrer patriotischen Desillusionierung ebenso zu leiden wie unter
dem erstarkendem politischen Antisemitismus. Aus Claussens
Sicht ist es jedoch gerade diese Qualität Adornos als spätreifender
Mensch, die es ihm erlaubte, seine Bedeutung zu erlangen. Da Adorno im Exil
heranreifte – in den Jahren zwischen 1933 und 1950, die er in England und
Amerika verbrachte – hatte er die Möglichkeit, auf seine eigene Erfahrung und die
des zwanzigsten Jahrhunderts allgemeiner zu reflektieren und sie bis zur
Theorie zu steigern. Gerade auf Grund seines recht geringen Alters war Adorno
einer der wichtigsten Wegbereiter für die Rückkehr der Kultur, und der
Kulturkritik, nachdem sie 1933 gescheitert und in der Barbarei von Auschwitz
völlig zum Erliegen gekommen war.
Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie stellt nicht nur
die großen Erzählungen über das deutsche Geistesleben im neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhundert in Frage, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag
dazu, die zahlreichen Klischees, Adornos Person umgeben, zu widerlegen. Die
einzelnen Kapitel widmen sich detailreichen Interpretationen der theoretischen
und persönlichen Verbindungen Adornos mit einer Anzahl von Schlüsselfiguren –
die wichtigsten sind Thomas Mann und Fritz Lang, Bertolt Brecht und Hanns Eisler, Siegfried Kracauer und
Max Horkheimer, Ernst Bloch und Georg Lukàcs – und stellen diese in einen geschichtlichen und
politischen Kontext. Auf intellektueller Ebene dient dieses faszinierende
Aufgebot von Persönlichkeiten, die selbst einige der hellsten Sterne am
Firmament der Weimarer Kultur darstellten, als Gesprächspartner Adornos. Er
arbeitete während dieser Zeit daran, den Kardinalfehler der Zwischenkriegsära,
die Ineinssetzung von Politik und Kultur, zu
überwinden und eine Philosophie zu entwickeln, die die Beziehungen zwischen
Politik und Kultur durch historische Reflexion und begriffliche Vermittlung zu
erfassen suchte.
Obwohl der geschichtsphilosophische Anspruch
des Buches hoch ist, bleibt Claussens
Herangehensweise bemerkenswert elegant, insbesondere in Anbetracht der schwindelerregenden theoretischen Möglichkeiten von Autor
und Gegenstand. Der Leser fühlt sich nur selten wie der auf dem Zauberberg zurückgelassene
Hans Castorp. So wird etwas eine Darstellung der
Freundschaft zwischen Adorno und Fritz Lang dazu genutzt, die Komplexität der
Filmproduktion im Hollywood der vierziger Jahre, die Emigrationserfahrung
und das berüchtigte Kulturindustrie-Kapitel aus der Dialektik der Aufklärung
zu diskutieren. Es gelingt Claussen immer wieder,
viele der schwierigsten Passagen der Philosophie Adornos entlang von
Freundschaften und reichhaltigen Lebenserfahrungen darzustellen, die sie
genährt haben. Politik und Musik, Literatur und Kunst, Soziologie und
Philosophie werden im Zusammenhang eines zwar streitbaren aber engen
Freundeskreises präsentiert und erhellen einander und somit auch den Denker und
seine Person. Das Ergebnis ist ein Buch, das ganz im Geiste von Adornos Begriff
der Kulturkritik den Denker entgegen allgemeiner Erwartungen liest und dabei
dessen Begriffe und Gedanken zum Tanzen bringt.
Detlev Claussen,
Theodor W. Adorno, Ein letztes Genie, S. Fischer Verlag, 496 Seiten,
Gebunden, 26,90 Euro, ISBN 3-10-010813-2. Aus dem Englischen von Christoph Bestian