Eric Oberle

(History Department, Stanford University, USA)

 

Das zwanzigste Jahrhundert als Person

 

Zu Detlev Claussens Buch über Theodor W. Adorno

 „Philosophie ist,“ wie der Frankfurter Intellektuelle und Gesellschaftskritiker Theodor Adorno Studenten in seinen Einführungsveranstaltungen gerne sagte, „ein Fach und kein Fach.“ Zwischen Weltanschauung und Wissenschaft stehend, muss sich die Philosophie einerseits als die bloße Erweiterung von öffentlichem Diskurs und Kultur erkennen; sie setzt sich mit Ideen auseinander, wie sie von realen Menschen hervorgebracht werden, die unter bestimmten gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen leben. Andererseits muss die Philosophie gleichzeitig eine Strenge und Genauigkeit anstreben, die über die reine Alltagssprache hinausgeht; sie reflektiert sich selbst und ist daher kritischer als der unhinterfragte Gedanke. Grundlage dieser scheinbar bescheidenen Definition von Philosophie ist Adornos Kritik an moderner Kultur und Philosophie, sein Argument, dass das moderne intellektuelle Leben in seiner Tendenz und seinem Bedürfnis, sich in Fächer aufzuteilen, beständig dem Risiko des Selbstbetrugs ausgesetzt ist: In dem Bemühen, eine Wissenschaft wie die Mathematik zu werden, läuft die moderne Philosophie Gefahr, sich des Inhalts zu berauben, dessen sie bedarf, um sich den konkreten Problemen in der Welt stellen zu können. Entsprechend verliert die Kultur den Kontakt mit genau jenen kritischen Impulsen, die sie am Leben hält, wenn sie ausschließlich zum Bereich von Experten wird, die ihr Spezialwissen verkaufen oder im Dienste des Wissenschafts- und Lehrbetriebs stehen.

Das Jahr des hundertsten Geburtstag Theodor W. Adornos könnte sich als das Jahr herausstellen, in dem die Dynamik, die in dieser Idee steckt, wieder in die Diskussion um die kulturelle Figur und den Philosophen Adorno zurückkehrt. Dass man sich dreißig Jahre nach seinem Tod an ihn als schwer verständlichen und einschüchternden akademischen Spezialisten erinnert wird, liegt auch an der Spannweite seines Lebenswerks. Es erstreckt sich über Philosophie, Soziologie, Musikwissenschaft, Literaturkritik und Marxsche politische Theorie und hat eine unzusammenhängende Rezeptionsgeschichte in den verschiedensten akademischen Disziplinen über sich ergehen lassen müssen. Die angemessene Wahrnehmung von Adornos theoretischen Abreiten wurde jedoch nicht allein durch die Dialektik von Kultur und Spezialisierung erschwert. Die Tatsache, dass Adorno nicht nur mit den protestierenden Studenten der sechziger Jahre aneinander geriet, sondern auch mit vielen, die die Studenten und alles wofür sie eintraten hassten, hat das kulturelle Bild von Adorno – Adorno als Persönlichkeit – in eine Art Chiffre verwandelt, in die all die Ambivalenzen jener Zeit auf paradoxe Art und Weise eingeschrieben wurden. Sein Denken blieb hinter diesem inkonsistente Bild oftmals verborgen. Ob er nun als paradoxer „revolutionärer Pessimist“, als prüder Provokateur, als anti-subjektivistischer Philosoph der Subjektivität oder als émigré retourné, der weder Amerika, noch Jazz, weder Politik noch den Sommer der Liebe verstand, dargestellt wurde, — stets prägte ein klischeehaftes Bild des Autors die seine einzelnen Werke und die Diskussion über die anhaltende Bedeutung seiner Gedanken.

Theodor W. Adorno. Ein Letztes Genie von Detlev Claussen bietet ein biografisches Portrait Adornos als kulturelle Figur, das sowohl das Fachwissen als auch das Kulturwissen in Bezug auf Adorno verändert. Das Buch ist weniger eine chronologische Darstellung, sonder besteht aus eng miteinander verwobenen biografischen Essays, die Adornos Denken in Bezug auf Gesellschaft und Erfahrung erforschen. Dabei wird das Bild von Adorno als Spezialisten – als Philosoph, Soziologe, Musiker und Literaturkritiker – durch eine Entmystifizierung der Person neu geschaffen. Claussen stellt Adornos Leben als Reihe intellektueller Freundschaften dar und untersucht dabei die Ideen, die den Denker Adorno an die Welt banden, indem er diese Ideen als gelebte Erfahrung präsentiert – als Dialog mit anderen, als Beschäftigung mit historischen Ereignissen, als Bedürfnis nach künstlerischer und individueller Selbstdarstellung, als Versuch, Wut, Einschränkungen, Gewalt und Diskriminierung zu bewältigen.

 

Wenn man wie Claussen ein intellektuelles Leben als Folge von Auseinandersetzungen mit Individuen und Ereignissen versteht, die durch Ideen vermittelt sind, dann gibt Adornos intellektuelle Biografie Aufschluss über große Teile dessen, was der Historiker Eric Hobsbawm das „kurze zwanzigste Jahrhundert“ genannt hat. Es ist jener Zeitraum, der Weltkriege und Revolutionen umfasste, Holocaust und GuLag, die endgültige Zerstörung der alten europäischen Ordnung und die Einrichtung der modernen sozialstaatlichen Demokratien. Adornos Philosophie entwickelte sich aus der „Hochkultur“ des neunzehnten Jahrhunderts; er versuchte, dieses Denken umzugestalten, indem er es auf die Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts bezog. Er tat dies, so argumentiert Claussen, aus zwei Gründen: Aus der Hoffnung heraus, die Vergangenheit als das zu verstehen, was die Ausübung von Freiheit strukturiert und limitiert, und aus dem persönlichen Bedürfnis des eigenen Schuldgefühls, den Holocaust überlebt zu haben. Adornos anhaltendes Verdienst als Theoretiker lag in seiner avancierten Rolle als Vermittler von Traditionen, die, wenn auch gebrochen, viel Bewahrenswertes enthielten. In diesem Sinne bietet macht sein Leben es möglich, die noch lebendige Dimension deutschsprachigen intellektuellen Lebens im zwanzigsten Jahrhundert zu verstehen, wie es durch ein wahrhaft ‚inneres Exil’ überlebte und verändert wurde; das Exil derjenigen deutschen und deutsch-jüdischen Intellektuellen, die vor dem Nationalsozialismus fliehen mussten.

 

In einem mitreißenden Eingangskapitel werden die frühen Jahre Adornos mit Blick auf Geschichte und kulturelle Entwicklungen in Deutschland untersucht und auch die Erfahrungen der europäischen Juden mit einbezogen. Claussen interpretiert und beschreibt das individuelle Leben in Bezug auf weiterreichende und umfassende, überindividuelle Entwicklungen. Es ist die Geschichte von Wunderkind Teddie, der bürgerlichen Gewächshauspflanze, dessen starke Identifikation mit der deutschen Hochkultur sowohl global gedeutet wird – im Sinne der allgemeinen demografischen und historischen Muster von Modernisierung, Säkularisierung und Industrialisierung –, als auch lokal – im Sinne der spezifischen Position der jüdischen Gemeinde Frankfurts und ihrer Fraktionen. Claussen beschreibt die Geschichte der Schönen Aussicht und des Börneplatzes, von Ostend und Westend, von Königstein und Amorbach durch die historische Dialektik von Modernisierung und Assimilation und analysiert parallel dazu Adornos éducation sentimentale anhand derer, die sie förderten und der Verbindungen, aus denen sie hervorging. Die beiläufig erzählte Geschichte Frankfurts, das einerseits beschützte Provinz und andererseits im historischen Wandel begriffen ist stellt, wenn man so will, eine alternative, deutsch-jüdische Version der Erzählung bürgerlicher Transformationen und Illusion dar, wie sie in Thomas Manns Buddenbrooks geschildert wird. Manns Epos von Vätern und Söhnen im neunzehnten Jahrhundert, das durch die Spannung zwischen Künstler und Bürger belebt wird, ist, wie Claussen zeigt, in der Frankfurter Lebenswelt des fin-de-siècle greifbar. Und doch wäre, wie Claussen darlegt, dieses Epos ein sehr viel anderes, reichte es bis in zwanzigste Jahrhundert hinein oder sollte es von den ganz anderen Spannungen erzählen, die zwischen deutschen und jüdischen Dimensionen von Identität und Kultur bestanden.

Adorno, er war 14 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg endete und die modernistische kulturelle Revolution ihren Anfang nahm, war einer der letzten Intellektuellen des neunzehnten und somit einer der ersten des zwanzigsten Jahrhunderts. Zu spät geboren, um in die Armee eingezogen zu werden, aber jung genug, um der Generation von Intellektuellen anzugehören, die in den Krieg musste, wurde er oft als Wunderkind angesehen, das entweder die Nüchternheit oder die Radikalität derjenigen vermissen ließ, die, nachdem sie Kaiser und Vaterland verteidigen sollten, dazu verurteilt waren, unter ihrer patriotischen Desillusionierung ebenso zu leiden wie unter dem erstarkendem politischen Antisemitismus. Aus Claussens Sicht ist es jedoch gerade diese Qualität Adornos als spätreifender Mensch, die es ihm erlaubte, seine Bedeutung zu erlangen. Da Adorno im Exil heranreifte – in den Jahren zwischen 1933 und 1950, die er in England und Amerika verbrachte – hatte er die Möglichkeit, auf seine eigene Erfahrung und die des zwanzigsten Jahrhunderts allgemeiner zu reflektieren und sie bis zur Theorie zu steigern. Gerade auf Grund seines recht geringen Alters war Adorno einer der wichtigsten Wegbereiter für die Rückkehr der Kultur, und der Kulturkritik, nachdem sie 1933 gescheitert und in der Barbarei von Auschwitz völlig zum Erliegen gekommen war.

Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie stellt nicht nur die großen Erzählungen über das deutsche Geistesleben im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert in Frage, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag dazu, die zahlreichen Klischees, Adornos Person umgeben, zu widerlegen. Die einzelnen Kapitel widmen sich detailreichen Interpretationen der theoretischen und persönlichen Verbindungen Adornos mit einer Anzahl von Schlüsselfiguren – die wichtigsten sind Thomas Mann und Fritz Lang, Bertolt Brecht und Hanns Eisler, Siegfried Kracauer und Max Horkheimer, Ernst Bloch und Georg Lukàcs – und stellen diese in einen geschichtlichen und politischen Kontext. Auf intellektueller Ebene dient dieses faszinierende Aufgebot von Persönlichkeiten, die selbst einige der hellsten Sterne am Firmament der Weimarer Kultur darstellten, als Gesprächspartner Adornos. Er arbeitete während dieser Zeit daran, den Kardinalfehler der Zwischenkriegsära, die Ineinssetzung von Politik und Kultur, zu überwinden und eine Philosophie zu entwickeln, die die Beziehungen zwischen Politik und Kultur durch historische Reflexion und begriffliche Vermittlung zu erfassen suchte.

Obwohl der geschichtsphilosophische Anspruch des Buches hoch ist, bleibt Claussens Herangehensweise bemerkenswert elegant, insbesondere in Anbetracht der schwindelerregenden theoretischen Möglichkeiten von Autor und Gegenstand. Der Leser fühlt sich nur selten wie der auf dem Zauberberg zurückgelassene Hans Castorp. So wird etwas eine Darstellung der Freundschaft zwischen Adorno und Fritz Lang dazu genutzt, die Komplexität der Filmproduktion im Hollywood der vierziger Jahre, die Emigrationserfahrung und das berüchtigte Kulturindustrie-Kapitel aus der Dialektik der Aufklärung zu diskutieren. Es gelingt Claussen immer wieder, viele der schwierigsten Passagen der Philosophie Adornos entlang von Freundschaften und reichhaltigen Lebenserfahrungen darzustellen, die sie genährt haben. Politik und Musik, Literatur und Kunst, Soziologie und Philosophie werden im Zusammenhang eines zwar streitbaren aber engen Freundeskreises präsentiert und erhellen einander und somit auch den Denker und seine Person. Das Ergebnis ist ein Buch, das ganz im Geiste von Adornos Begriff der Kulturkritik den Denker entgegen allgemeiner Erwartungen liest und dabei dessen Begriffe und Gedanken zum Tanzen bringt.

 

Detlev Claussen, Theodor W. Adorno, Ein letztes Genie, S. Fischer Verlag, 496 Seiten, Gebunden, 26,90 Euro, ISBN 3-10-010813-2. Aus dem Englischen von Christoph Bestian