Markus Hesse

City versus Bits

Von der Beschleunigung der Nachrichten und der Trägheit des Raumes

Spätestens seit der Einführung des Internet wird verstärkt über die Konsequenzen der »Informationsgesellschaft« spekuliert. Eine populäre Erzählung ist diejenige von der Auflösung des Raumes, vom Verschwinden der Distanz und dem Ende der traditionellen Stadt. Wie stellt sich diese Diskussion heute dar, nach dem Platzen der »Internetblase« und dem vorläufigen Ende der Hoffnungen auf eine schöne neue Ökonomie?

 

Die These von der Auflösung des Raumes, vom Verschwinden der Distanz gehört zum Standardrepertoire in der Diskussion um die Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Die Frage, welche räumlichen Konsequenzen die »Informationsgesellschaft« haben könnte, wurde schon in den Achtzigerjahren gestellt (vgl. etwa Läpple 1989). Doch so richtig in Gang gekommen ist diese Diskussion erst in den Neunzigerjahren: als sie augenscheinlich an vorhandenen (»realen«) Entwicklungen anknüpfte, also vom prognostischen Druck befreit war und mit zunehmender Verbreitung und Anwendung des Internet empirisch gesättigt erschien. Trotzdem wurde viel spekuliert, vielleicht der Verlockung des Neuen, Modernen folgend. Seit dem Absturz der New Economy dominiert nun ein eher nüchtener Blick, zunehmend auch hinter die Kulissen.

 

Die Erzählung von den virtuellen Räumen

Im Wesentlichen bezog und bezieht sich die Diskussion auf fünf Felder: Erstens wurde die Entstehung einer »neuen« Ökonomie, also die Herausbildung eines spezifischen, IKT-basierten Subsektors behauptet, wie Hard- und Softwareproduktion, IKT-bezogene Dienste, Gestaltung von Webdesign und -services et cetera (vgl. IMF 2001; Dehio, Graskamp 2002). Haupthese ist hier, dass neue makroökonomische Strukturen entstehen, die neben oder gar an die Stelle der alten Wirtschaftszweige treten werden. Aus räumlicher Sicht ist hier vor allem von Bedeutung, dass eine Neuverteilung von Standortvorteilen und -nachteilen und damit zur Neukonfiguration regionaler Disparitäten vermutet wird (Laaser/Soltwedel 2001). Diese Annahme basiert unter anderem auf der breit rezipierten Geschichte so genannter »High-Tech-Regionen« und der damit verbundenen Frage, ob und inwiefern das Erfolgsmodell des Silicon Valley oder der Route 128 um Boston anderenorts wiederholbar sei.

IT-Einführung und Anwendung gehen zweitens einher mit der Identifikation eines neuen kulturellen Leitmilieus – vorwiegend bestehend aus coolen, jungen Leuten, tätig in neuen Medien, bei Werbeagenturen, Softwarehäusern, IKT-Dienstleistern et cetera und von tradierten Arbeitsmilieus deutlich abgehoben (Meschnig, Stuhr 2001). Dieses Milieu bringt spezifische Raumansprüche mit sich, die sich idealtypisch an Standorten wie kreativen »Districts« (z. B. London, Berlin-Mitte), aber auch in Technologiezentren, High-Tech Business Parks oder Ähnlichem widerspiegeln. Die urbanen Affinitäten dieser kreativen Milieus äußern sich auch in der Präferenz vieler Unternehmen zu kernstädtischen Standorten (Zook 2000); komplementär zu Lifestyleaspekten wie dem Wohnen und Arbeiten im Loft entstehen neue Formen räumlicher Mobilität, dem Imperativ individueller Flexibilität folgend (Sennett 1998).

Eine dritte These bezieht sich auf die Umgestaltung der »alten« Ökonomie unter dem Einfluss der Informationstechnik, vor allem durch die Einführung von IKT-Systemen und Anwendungen in bestehenden Produktions- und Distributionsstrukturen (OECD 2002). IKT stellen umfassende Rationalisierungspotenziale in Aussicht: erstens durch die Integration der einzelnen Wertschöpfungsstufen zu komplexen Ketten, die nunmehr durchgängig optimiert und rationalisiert werden können; zweitens durch den Abbau von Informationsmonopolen über die Einrichtung elektronischer Marktplätze, auf denen weltweite Beschaffung zu günstigen Konditionen praktiziert werden kann. Technologien gelten hier als Treiber einer räumlichen Expansion der Ökonomie und insofern als Basisinstrument der Globalisierung.

Ein besonderes Augenmerk gilt, viertens, einem nachhaltigen Wandel in Funktion und Bedeutung von Städten beziehungsweise Metropolregionen. Dieser geht, so eine Hypothese, einher mit ihrer Re-Konfiguration als Cybercity oder Telepolis – wenn auch diese Begriffe immer etwas nebulös blieben; zum anderen wurde eine Transformation traditioneller Stadtfunktionen unterstellt, womit zumindest implizit eine Bedrohung der Stadt an sich verbunden war (Graham, Marvin 2000). Sie äußerte sich zum Beispiel in der Befürchtung, wesentliche Teile des städtischen Handels würden in shopping-websites und periphere Lagerhäuser diffundieren und somit aus der Stadt verschwinden. Ausgenommen von solchen Bedrohungsszenarien waren allein jene Regionen, in denen sich die neuen Industrien und ihre Zulieferer, Dienstleister et cetera ballten (s. o.). Während Sassen (1991) mit ihrer These von der »Global City« ausdrücklich für die Städte plädierte (wobei dies aber auf eine geringe Zahl von Metropolen begrenzt und insofern nicht verallgemeinerbar war), sehen andere den Aufstieg von Klein- und Mittelstädten voraus, in denen Erreichbarkeit per IKT mit hoher Wohn- und Standortqualität kombiniert wird (Lincoln Institute 2001).

Eine weitere raum-zeitliche These bezieht sich schließlich, fünftens, auf Verkehr und Kommunikation (Hepworth, Ducatel 1992). Sie argumentiert mit weit reichenden Optimierungspotenzialen durch informatorische Steuerung und gipfelt in der Behauptung, dass es zu einer nennenswerten Substitution physischen Transports durch immaterielle oder virtuelle Transfers kommen würde – quasi als Königsweg aus dem ewigen Dilemma der Verkehrsstaus. In Verbindung mit dem Bedeutungszuwachs virtueller Transfers wurde sogar ein grundlegender Bedeutungsverlust von Distanz und physischem Raum postuliert: »The Death of Distance« (Cairncross 1997). Die Autorin gilt auch heute noch als Kronzeugin dieser These, obwohl sie in ihrem Buch weit vorsichtiger argumentiert hat, als der Buchtitel dies suggeriert und als viele ihrer Apologeten dies immer wieder nahe legen.

 

New Economy – nach dem Platzen der »bubble«

Wie sind diese fünf Thesenbündel nun aus heutiger Sicht zu beurteilen? Welchen »realen« Verbreitungsgrad haben die IKT erreicht, und welche räumlichen Implikationen hat ihre Anwendung? Um es auf eine knappe Formel zu bringen: Es hat sich viel geändert, doch die Revolution ist vorerst ausgeblieben. Art und Umfang des Wandels mögen auf den ersten Blick spektakulär erscheinen, räumliche Implikationen sind aber kaum sichtbar. Die New Economy ist tendenziell eingebrochen, und mit ihr ist ein guter Teil der kulturellen Leitmilieus verdampft. Davon nehmen sich nur wenige »Leuchttürme« der Telekomindustrie aus, wie etwa der finnische Mobiltelefonhersteller Nokia. Zu den Überlebenden der Krise der New Economy zählen der Internet-Händler Amazon.com, der im letzten Jahr erstmals Gewinn machte, oder das Auktionshaus eBay, das elektronisches Handeln zu einer Art Volkssport gemacht hat. In seiner Gesamtheit gilt der Online-Handel mit Endverbrauchern aber eher als Indikator für die Grenzen der Neuen Ökonomie: sein Marktanteil dürfte in Deutschland immer noch im deutlich unteren einstelligen Prozentbereich liegen; viele Produkte sind schnell an Grenzen der sozialen Akzeptanz und ökonomischen Machbarkeit gestoßen. Gegen eine rapide Verbreitung des E-Commerce sprechen manifeste Beharrungskräfte bei den Konsumenten (Einkaufen als kultureller Akt), aber auch die Kostensituation im Handel generell, der mit extrem knappen Gewinnmargen und ruinöser Konkurrenz konfrontiert ist.

Nach Angaben des Branchenverbandes BITKOM hatte die Informationswirtschaft in Deutschland im Jahr 2002 einen Umfang von fast 800000 Arbeitsplätzen (alle Daten nach BMWi 2002). Damit war die Beschäftigung nach Jahren stürmischen Wachstums erstmals rückläufig; doch immerhin hat dieser Sektor schon das Niveau des Straßenfahrzeugbaus erreicht (ohne Zulieferer). Im internationalen Vergleich gilt Deutschland (5,8 % des Gesamtvolumens) nach den USA (33,6 %) und Japan (12,5 %) als drittgrößter Markt der Informationswirtschaft. Bei Internet-Nutzung oder Mobilfunk-Verbreitung liegt Deutschland dagegen eher im internationalen Mittelfeld. Über die engere Informationswirtschaft hinaus haben die IKT großen Einfluss vor allem im System der als »alt« klassifizierten Ökonomie ausgeübt, also auf dem Wege ihrer Anwendung in mehr oder minder »normalen« Unternehmen. Empirische Studien legen die Vermutung nahe, dass dies auch weiterhin so sein wird. Im Jahr 2001 hatten 89,3 Prozent der deutschen Unternehmen einen Internetanschluss (bei privaten Haushalten lag dieser Wert bei 38,4 %). Allein der elektronische Handel wird zu vier Fünfteln zwischen Unternehmen und nicht mit Privatpersonen abgewickelt. IKT-basierte Systeme haben bei der verstärkt praktizierten zwischenbetrieblichen Arbeitsteilung einfach große Vorteile in puncto Produktivität, Transparenz, Schnelligkeit und Kosten. Zugleich sind jedoch die explizit räumlichen Konsequenzen hier am wenigsten absehbar.

 

Zur Transformation des Räumlichen

Über die Transformation der Städte beziehungsweise die Veränderung räumlicher Aktionsmuster im Zuge des technologischen Wandels liegen nur rudimentäre Kenntnisse vor. Zwar wurden schon früh Elemente einer »Geographie der Informationsgesellschaft« identifiziert, in der räumliche Bindungen gelockert und Polaritäten neu gewichtet werden (Hepworth 1989, zuletzt Kotkin 2000). Neue Muster räumlichen Agierens wie Telearbeit oder elektronischer Handel haben sich etabliert. Sie wurden aber sowohl bezüglich ihrer Verbreitung (s. o.) als auch hinsichtlich ihrer Folgen weit überschätzt. Zudem wurde übersehen, dass virtuelle Transaktionen sich in viele Richtungen auswirken können: physischer Transfer lässt sich nicht nur ersetzen, wie vielfach erhofft, sondern wird durch IKT auch ergänzt und angeregt. Just ausgangs der Neunzigerjahre findet außerdem eine new geographical economy wachsende Beachtung, die gerade die traditionellen Faktoren räumlichen Wachstums – insbesondere Größenvorteile als Folge von Konzentration – in den Blick rückt. Mit der Bedeutung räumlicher Nähe für ökonomischen Erfolg wächst zugleich auch der Stellenwert der Städte. Insofern liest sich die populäre Erzählung von der ›Auflösung‹ der Stadt, von »digitaler Deurbanisierung« oder vom »Ende« des Raumes heute umstandslos als »Märchen« (Lampugnani 2002: 9). Insgesamt wurden wohl weniger neue Trends gesetzt als vielmehr laufende Entwicklungen verstärkt.

Grundsätzlich stehen neue Technologien, Gesellschafts- und Raumentwicklung in einem engen Zusammenhang (siehe S. Schmitz: Revolutionen der Erreichbarkeit. Gesellschaft, Raum und Verkehr im Wandel). Technologische Innovationen können die Industriegesellschaft graduell weiterentwickeln, sie können im Fall ihrer breiten Diffusion und Anwendung aber auch einen Wendepunkt markieren: Durch die Lockerung von Raum- und Standortbindungen wird das räumliche Beziehungsgefüge neu geordnet. Diese Lockerung resultiert aber nicht allein aus dem technologischen Wandel, sondern passiert im Verbund mit der alten Infrastruktur, insbesondere den Hochgeschwindigkeitsnetzen. Dies heißt nun nicht, dass Kategorien wie Raum oder Distanz in der Informationsgesellschaft keine Rolle mehr spielen würden: sie werden unter den neuen Bedingungen nur anders ausgefüllt als vorher. Statt einer Auflösung des Raumes ist insofern von einer Reorganisation der Erreichbarkeitsverhältnisse auszugehen. Sinkende Raumwiderstände (preiswerte Mobilität, ausgebaute Verkehrsnetze) erlauben die Ausdehnung der Aktionsräume, und dies begünstigt die Herausbildung einer selektiven, polarisierten Raumentwicklung. Diese ist erst für die starke Zunahme von Personen- und Güterverkehr der letzten Dekaden verantwortlich. In dieser Wirkungskette spielen weniger einzelne Technologien als komplexe Subsysteme eine treibende Rolle: Dazu gehören etwa neue Produktions- und Distributionskonzepte, mit denen Warenproduktion und -verteilung in den Unternehmen sukzessive verändert wurden – bereits lange vor dem Aufstieg des Internet. Auch bei der Personenmobilität spielt der technologische Kontext vorläufig nur eine Nebenrolle; letztlich kommt er erst in der siedlungsstrukturellen Kulisse zum Tragen, wo sich neue Mobilitätsmöglichkeiten und individuelle Nachfrage zu einer zunehmend fragmentierten Stadtlandschaft ausformen.

Wie sieht die Zukunft der Erreichbarkeit aus? Die reine Organisation und Abwicklung von räumlicher Mobilität durch IuK-Technologien dürfte weiter verbessert und erleichtert werden. Unter Berücksichtigung ihres soziokulturellen Kontexts sind nach dem derzeitigen Stand keine großen Pendelausschläge in diese oder jene Richtung zu erwarten: weder übermäßige Verkehrseinsparungen noch das krasse Gegenteil. Es spricht vielmehr dafür, dass neue Technologien genau diejenigen Tendenzen unterstützen, die unter dem Einfluss sozioökonomischer Kräfte (Einkommen, Wohlstandsverteilung) derzeit ohnehin ablaufen: ein zunehmend komplexes Alltagshandeln, das sowohl am oberen wie am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie durch wachsenden Mobilitätsdruck bestimmt wird. Probleme, die dabei auftreten, lassen sich mit mehr Information und Kommunikation nicht per se lösen (was nützt GPS im Stau?), es werden aber auch nicht zwangsläufig neue generiert. Insofern lässt, bezogen auf räumliche Mobilität und Verkehr, erstens die Neuerfindung der Welt auch in der Informationsgesellschaft vorläufig noch auf sich warten. Allerdings laufen, dies wäre eine zweite Botschaft, unter ihrer Oberfläche dynamische Veränderungen ab, die langfristig durchaus weit reichende Konsequenzen haben könnten. Dies spricht von der Terminologie her eher für eine evolutorische denn revolutionäre Bewertung des Wandels.

 

Die Medienstadt

In räumlicher Hinsicht besitzt die Informationsgesellschaft noch immer eine besondere Affinität zu urbanen Zentren. Die Herausbildung eines eigenständigen ökonomischen Sektors der neuen Medien hat bereits zur Rede von der »Medienstadt« geführt (siehe S. Krätke: Medienstadt. Urbane Cluster und globale Zentren der Kulturproduktion). Wirklich interessant ist auch hier nicht zwangsläufig das »Neue« an sich, sondern die Tatsache, dass und wie dieser Wirtschaftszweig an traditionellen Sektoren andockt: insbesondere den »alten« Medien (Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen) und den kulturellen Institutionen wie beispielsweise der Kunst, der Musik oder den Museen und ihrer marktförmigen Vermittlung. Diese Bereiche vermischen sich mit denen der neuen Medien und der Werbewirtschaft im Bild einer »Kulturindustrie« neuen Typs. Sie wird auch als eine der Leitindustrien des 21. Jahrhunderts bezeichnet: indem sie die Inhalte (content) liefert, die dann mit Hilfe der neuen Technologien verbreitet, ausgetauscht und kommerziell vertrieben werden.

Die Überformung der traditionellen Medienlandschaft mit neuen Technologie- und Wertschöpfungssektoren wird in räumlicher Hinsicht so interpretiert, dass diese neben der Herausbildung des eingangs erwähnten Leitmilieus der »media people« – bedingt durch ihre sehr spezifischen Muster von Wert-Schöpfung sowie das dominante soziale Milieu – eine Affinität für die so genannten kreativen »Districts« großer Städte haben. Schließlich will man nicht »irgendwo« arbeiten, sondern an attraktiven Orten, in denen sich die Kreativen gegenseitig anregen können. Solcherart urbane Affinitäten wurden mittlerweile in einer größeren Zahl von Fallstudien nachgewiesen, und zwar nicht nur bei den Internet-Content-Produzenten, sondern auch am Beispiel alter Mediensektoren wie dem des Verlagswesens.

Sind die alten Medien in Deutschland unter anderem konzentriert in München, Hamburg, Frankfurt und Leipzig angesiedelt, gelten als bevorzugte »Locations« der neuen Medienunternehmen Köln, Hamburg, München und der Raum Berlin. Die Filmwirtschaft in Potsdam-Babelsberg und der kulturökonomische Komplex (neudeutsch Cluster) in der Berliner Innenstadt geben ein gutes Beispiel für diese Entwicklung. Beide Standorte bauen auf verschiedenen historischen Entwicklungspfaden auf, sie sind zugleich lokal und überregional stark vernetzt. In Potsdam-Babelsberg arbeiten heute etwa 1500 Menschen in 125 Medienunternehmen, hinzu kommen noch einmal ebenso viele Beschäftigte bei Zulieferern. Die Informations-, Kommunikations- und Medienwirtschaft Berlins umfasste 1999 etwa 75000 Beschäftigte und 25000 »freie« Mitarbeiter (also gut 100000 Erwerbstätige von ca. 1,2 Millionen insgesamt). Die Affinität der Medienunternehmen für Metropolen sowie die Konzentration der Betriebe in kernstädtischen Zentren stützt die These von einer »Konvergenz von Urbanität und Medienszene« (Krätke): Die sozialen Milieus im Mediensegment der New Economy dienen bisher als manifester Beleg für die Vitalität der Stadt, nicht als Indiz für ihre Abschaffung.

 

Die Rolle der »alten« Stadt im telematischen Zeitalter

Je größer der Abstand zum Hype um die New Economy wird, umso stärker richtet sich der Blick auch wieder auf das Leistungsvermögen der historischen europäischen Stadt (siehe V. M. Lampugnani: Verhaltene Geschwindigkeit. Die Zukunft der telematischen Stadt). Dies hat zwei Gründe: Zum einen wurden Ausmaß und Konsequenzen der Überformung der Städte durch die Informationsgesellschaft weit überschätzt; zum anderen dient die traditionelle Stadt als eine Art authentisches Widerlager gegen den Aufstieg des Virtuellen, als Aufstand des Echten gegen das Surrogat. V. M. Lampugnani sieht in Verhaltene Geschwindigkeit den Baubestand der Städte als wichtigen Speicher menschlicher Erinnerung: Die Stadt fungiert hier als Buch, in dem der Bestand des kollektiven und individuellen Gedächtnisses niedergelegt ist. Genauso wie mündliche Kommunikation durch den Buchdruck ergänzt, aber nicht obsolet gemacht wurde, wird die gebaute Stadt durch die elektronischen Speichermedien nicht in ihrer Substanz in Frage gestellt: »Die Stadt ist ein Denkmal ihrer selbst – und damit ein Lehrstück.« (S. 55)

Unter den möglichen Thesen zur Rolle der neuen Technologien im städtischen Kontext (Ergänzung städtischer Funktionen bzw. Komplementarität, Optimierung, Substitution oder Neutralität) werden vor allem Optimierung und Komplementarität für relevant gehalten; haustechnische Innovationen zum Beispiel werden das Wohnen nicht grundlegend verändern, dürften es aber angenehmer und – etwa bezogen auf den Energieverbrauch – nachhaltiger gestalten. Wo die Zukunft der telematischen, aber »nicht durchtelematisierten« Stadt beschworen wird, hat diese Argumentationsweise etwas sympathisch Unmodernes. IKT bringen schließlich nicht per se mehr Information hervor, und mehr Information ist nicht per se besser einzuschätzen als weniger Information. Die Kehrseite dieses kulturkritischen Ansatzes ist allerdings, dass er letztlich doch sehr stark dem Bild der »alten« Stadt verhaftet bleibt. Neuere »Stadttheorien« wie Ansätze zur Netzstadt oder zur Zwischenstadt werden ausgerechnet dahingehend kritisiert, dass sie mit der städtischen Wirklichkeit nichts zu tun hätten – ein Argument, das man wohl mit Recht eher den Protagonisten der »europäischen« Stadt vorhalten kann. Auch klingt manche Option der Telematik (etwa zum Verkehr) nach schierem Optimismus, durch empirische Plausibilität nicht gedeckt. Und doch dürfte das Beharren auf dem Prinzip von Urbanität, auf der Beständigkeit konkreter Orte für die Interaktion von Menschen und zur Regelung demokratischer Angelegenheiten der städtischen Realität näher kommen als die vorschnelle Rede vom Verdampfen der Stadt im Cyberspace

 

Hohe Trägheit im System

Wie sind die Analysen und Prophezeiungen zur telematischen Stadt, zur »City of Bits« aus heutiger Sicht einzuschätzen? Woraus erklärt sich die offenkundige Diskrepanz zwischen der Prognose vom Untergang der alten Stadt beziehungsweise vom Aufstieg des Cyberspace einerseits und der doch eher schlichten Realität andererseits (Christie, Hepworth 2001)? Auf den ersten Blick hat sie womöglich triviale Ursachen: Zum einen ist der Prognostik die Zeitachse aus den Fugen geraten. Technologische Innovationen brauchen erfahrungsgemäß einen größeren Zeitraum, um sich durchzusetzen, manchmal Jahrzehnte. Dies lehren die Erfahrungen mit dem Telefon oder dem Auto. Gemessen an den historisch wenigen Jahren, die seit dem Aufstieg des Internet vergangen sind, war die Erwartung an diesen Wandel viel zu hoch. Vielleicht stehen durch die Anwendung der IKT tatsächlich gravierende Veränderungen bevor; ihre Folgen werden aber erst mittelfristig absehbar sein.

Zum anderen ist die allseitige Komplexität der in Rede stehenden Wirkungsbeziehungen zu nennen, die genaue Antworten auf die gestellten Fragen erschwert. So erscheint es immer noch kaum möglich, die Rolle der IKT vom Einfluss anderer Stellgrößen zu isolieren, von den externen Randbedingungen ganz zu schweigen. Im Geist des »technologischen Determinismus« wurde aber genau dieser Gegenstand von seinen sozialen und ökonomischen Kontexten abstrahiert. In der Konsequenz wurden Technologien als solche untersucht, aber weniger, inwieweit ihre Anwendung Eingang in bestehende Strukturen findet, an welchen Stellen der Realität sie andockt und mit welchen Trägheiten ihre Durchsetzung konfrontiert ist. Im Beziehungssystem von Information, Infrastruktur und materiellen »flows« wurde also bisher einseitig Ersteres untersucht, was eindeutig auf Kosten der Zusammenhänge ging.

Aus räumlicher Sicht ist zentral, dass diese Elemente im Beziehungssystem von Transfer-, Transport- und Kommunikationsfunktionen eng miteinander verbunden sind. Materialfluss, Transportstrom und Infrastruktur sind auf verschiedenen Schichten angesiedelt, die übereinander gelagert und eng miteinander verzahnt sind. Der unterliegende physische Raum bildet die Basis der Entwicklung. Informatorische Transfers entwickeln sich immer im Kontext mit der harten, materiellen Schicht des physischen Raumes. Beide werden auch im vielleicht ambitioniertesten theoretischen Überbau zur Informationsgesellschaft verhandelt, den Manuel Castells mit seiner Network Society (1996, 2002) entworfen hat. Zumindest werden die möglichen Konsequenzen für Stadt und Raum hier am gründlichsten analysiert. Seine Thesen bündeln sich in den Figuren vom »space of flows«, dem »Raum der Ströme« (das Netz), und dem »space of places«, den realen Orten. Mit dieser Art Metatheorie versucht Castells einen umfassenden, differenzierten Analyse- und Erklärungsrahmen zu schaffen und hebt sich damit von der tendenziell eindimensionalen Technikfolgenforschung ab. Die Breite seines Ansatzes geht jedoch auf Kosten der Treffgenauigkeit – vor allem bezüglich der Frage, was das denn konkret für die Raumentwicklung bedeutet. Es bleibt unklar, inwiefern sich reale und virtuelle Räume gegenseitig bedingen, also keinen Gegensatz bilden, sondern komplementär zueinander sind (vgl. dazu und zur politischen Kritik Marcuse 2002). Und seine Theorie hat sich auch noch zu wenig mit den Widersprüchen im Kräftefeld zwischen virtuellen und realen Strömen und Räumen befasst.

Denn während die Systemdynamiken auf der Ebene von Material- und Informationsfluss beschleunigt verlaufen, wirkt der physische Raum als materielles Fundament und zugleich als Widerlager. Die Spannung zwischen diesen beiden Ebenen lässt sich auch als »Trägheit« verstehen. Trägheit besteht dann, wenn die Schicht informatorischen Transfers in Widerspruch zu anderen Systemelementen gerät (etwa dem Materialfluss, der Infrastruktur) oder Konflikte mit dem sozialen und ökonomischen Kontext aufwirft. Diese Eigenschaft liegt vor allem in unterschiedlichen Systemdynamiken begründet: Während IKT- und Web-basierte Abwicklungen scheinbar immer direkter, schneller, perfekter ablaufen, reagieren Infrastrukturen und materielle Räume eher träge, ebenso wie soziale Systeme. Aus dieser Trägheit, die sowohl im System steckt als auch insbesondere durch physische Räume hervorgebracht wird, ergibt sich eine erhebliche Reibung. Sie blockiert den Cyberspace und wirft politisch-planerischen Handlungsbedarf auf.

Ein gutes Beispiel hierfür liefert der elektronische Handel: Dort standen ausgefeilten Webpages und einer technologischen Überausstattung auf der einen Seite logistisch profane Lieferdienste und geradezu archaische »Handarbeit« andererseits gegenüber. Dieser hohen Trägheit im System entspricht ein manifestes Akzeptanzproblem auf Seiten der Nachfrage: durch latente Verweigerung des Online-Kaufs anhaltend hoher Anteile der Konsumenten. Dieses Problem kann man auch als soziale Trägheit interpretieren. Dass man mit dem Ausliefern von Konsumgütern kaum Geld verdienen kann, kommt schließlich als eine Art ökonomischer Trägheit hinzu. Auch hier kommen die wenigen Erfolgsmeldungen von gelungenen Mischungen aus Alt und Neu: Nicht zufällig dominieren heute solche Betriebe im E-Commerce, die entweder über ein stationäres Netz verfügen und beide Vertriebswege kombinieren, oder aber die schon im traditionellen Versandhandel erfolgreich waren und das Internet nun parallel zum Katalog weiterentwickeln.

Schließlich war auch die Diskussion um die telematische Stadt nicht frei vom Hype um die New Economy, der sich unter anderem einem allgemeinen Deutungsdilemma von Wissenschaft und Forschung verdankt: Es äußert sich in der latenten Überschätzung der Gegenwart gegenüber dem historischen Gang der Dinge und in der verbreiteten Faszination des »Neuen«. Der Blick auf die räumliche Dimension des technologischen Wandels ist durch einen wissenslogischen Fehlschluss verstellt, der dieses vermeintlich entstehende Neue von seinen historischen Ausgangsbedingungen und Kontexten, dem »Alten«, rigide getrennt hat. Eine solche Vorgehensweise hat Bruno Latour (1993), in einem anderen Kontext, mit Verweis auf die künstliche beziehungsweise willkürliche Dichotomie von Natur und Kultur, von modern und amodern kritisiert. Dies gilt im Grunde auch für den informationstechnischen Diskurs: Auf der Grundlage einer schematischen Trennung zwischen »Alt« und »Neu« wurde das Erste verworfen, das Letztere überhöht und zum Fetisch gemacht –in der Wissenschaft und in den Medien, vor allem in der Wirtschaftspublizistik. Mit anderen Worten: Im Taumel des Modernen ging der Blick dafür verloren, wie viel Substanz tatsächlich hinter dem Hype stand und wo die Sache im Kern eher auf eine Transformation und Hybridisierung des Bestehenden hinauslief.

Nachdem der Rausch des Neuen verflogen ist, herrscht nun Enttäuschung. Im Grunde besteht dazu jedoch kein Anlass, denn die Sache wird gerade erst interessant: Neue Technologien werden ja nicht verschwinden. Sie werden die Lebensbedingungen und -praktiken der Menschen langfristig fundamental beinflussen. Auch könnte jener Teil der »Neuen« Ökonomie eine Wiederauferstehung feiern, der komplementär zur modernisierten alten Ökonomie gebraucht wird, ohne diese zu ersetzen. Ob damit gleich revolutionäre Sprünge in der Organisation von Raum und Zeit einhergehen, ist eine zweite, viel schwierigere Frage. Ihre Beantwortung könnte unter anderem davon abhängen, ob und wie Mobilkommunikation das Verhältnis von konkretem Ort (place) und abstraktem Raum (space) tatsächlich spürbar verändern wird. Dies würde eine Art »körperlicher« Adaption der neuen IKT voraussetzen. Ob so etwas möglich ist und damit individuelles Handeln relevant beeinflussen wird oder ob es nur eine Nische im technisch-sozialen Wandel darstellt, darüber kann man vorerst nur spekulieren.

 

Stefan Schmitz: Revolutionen der Erreichbarkeit. Gesellschaft, Raum und Verkehr im Wandel, Opladen (Leske und Budrich) 2001 (320 S., 24,90 €)

Stefan Krätke: Medienstadt. Urbane Cluster und globale Zentren der Kulturproduktion, Opladen (Leske und Budrich) 2002 (267 S., 19,80 €)

Vittorio Magnago Lampugnani: Verhaltene Geschwindigkeit. Die Zukunft der telematischen Stadt, Berlin (Wagenbach) 2002 (109 S., 19,50 €)

 

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Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe Oktober/November 2003 / 5/03.