Markus Hesse
City versus Bits
Von der Beschleunigung der Nachrichten und der Trägheit
des Raumes
Spätestens seit der Einführung des Internet wird
verstärkt über die Konsequenzen der »Informationsgesellschaft« spekuliert. Eine
populäre Erzählung ist diejenige von der Auflösung des Raumes, vom Verschwinden
der Distanz und dem Ende der traditionellen Stadt. Wie stellt sich diese
Diskussion heute dar, nach dem Platzen der »Internetblase« und dem vorläufigen
Ende der Hoffnungen auf eine schöne neue Ökonomie?
Die These von der Auflösung des Raumes, vom
Verschwinden der Distanz gehört zum Standardrepertoire in der Diskussion um die
Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Die Frage,
welche räumlichen Konsequenzen die »Informationsgesellschaft« haben könnte,
wurde schon in den Achtzigerjahren gestellt (vgl. etwa Läpple 1989). Doch so
richtig in Gang gekommen ist diese Diskussion erst in den Neunzigerjahren: als
sie augenscheinlich an vorhandenen (»realen«) Entwicklungen anknüpfte, also vom
prognostischen Druck befreit war und mit zunehmender Verbreitung und Anwendung
des Internet empirisch gesättigt erschien. Trotzdem wurde viel spekuliert,
vielleicht der Verlockung des Neuen, Modernen folgend. Seit dem Absturz der New
Economy dominiert nun ein eher nüchtener
Blick, zunehmend auch hinter die Kulissen.
Die
Erzählung von den virtuellen Räumen
Im Wesentlichen bezog und bezieht sich die Diskussion auf
fünf Felder: Erstens wurde die Entstehung einer »neuen« Ökonomie, also
die Herausbildung eines spezifischen, IKT-basierten Subsektors behauptet, wie
Hard- und Softwareproduktion, IKT-bezogene Dienste, Gestaltung von Webdesign
und -services et cetera (vgl. IMF 2001; Dehio,
Graskamp 2002). Haupthese ist hier, dass neue makroökonomische
Strukturen entstehen, die neben oder gar an die Stelle der alten Wirtschaftszweige
treten werden. Aus räumlicher Sicht ist hier vor allem von Bedeutung, dass eine
Neuverteilung von Standortvorteilen und -nachteilen und damit zur Neukonfiguration
regionaler Disparitäten vermutet wird (Laaser/Soltwedel 2001). Diese Annahme basiert unter anderem auf
der breit rezipierten Geschichte so genannter
»High-Tech-Regionen« und der damit verbundenen Frage, ob und inwiefern das Erfolgsmodell
des Silicon Valley oder der Route 128 um Boston anderenorts wiederholbar sei.
IT-Einführung und Anwendung gehen zweitens
einher mit der Identifikation eines neuen kulturellen Leitmilieus – vorwiegend
bestehend aus coolen, jungen Leuten, tätig in neuen Medien, bei Werbeagenturen,
Softwarehäusern, IKT-Dienstleistern et cetera und von tradierten Arbeitsmilieus deutlich abgehoben
(Meschnig, Stuhr 2001).
Dieses Milieu bringt spezifische Raumansprüche mit sich, die sich idealtypisch
an Standorten wie kreativen »Districts« (z. B.
London, Berlin-Mitte), aber auch in Technologiezentren, High-Tech
Business Parks oder Ähnlichem widerspiegeln. Die urbanen Affinitäten dieser
kreativen Milieus äußern sich auch in der Präferenz vieler Unternehmen zu
kernstädtischen Standorten (Zook 2000); komplementär
zu Lifestyleaspekten wie dem Wohnen und Arbeiten im Loft entstehen neue Formen
räumlicher Mobilität, dem Imperativ individueller Flexibilität folgend (Sennett 1998).
Eine dritte These bezieht sich auf die Umgestaltung
der »alten« Ökonomie unter dem Einfluss der Informationstechnik, vor allem
durch die Einführung von IKT-Systemen und Anwendungen in bestehenden
Produktions- und Distributionsstrukturen (OECD 2002). IKT stellen umfassende
Rationalisierungspotenziale in Aussicht: erstens durch die Integration der
einzelnen Wertschöpfungsstufen zu komplexen Ketten, die nunmehr durchgängig
optimiert und rationalisiert werden können; zweitens durch den Abbau von
Informationsmonopolen über die Einrichtung elektronischer Marktplätze, auf
denen weltweite Beschaffung zu günstigen Konditionen praktiziert werden kann.
Technologien gelten hier als Treiber einer räumlichen Expansion der Ökonomie
und insofern als Basisinstrument der Globalisierung.
Ein besonderes Augenmerk gilt, viertens, einem
nachhaltigen Wandel in Funktion und Bedeutung von Städten beziehungsweise
Metropolregionen. Dieser geht, so eine Hypothese, einher mit ihrer
Re-Konfiguration als Cybercity oder Telepolis
– wenn auch diese Begriffe immer etwas nebulös blieben; zum anderen wurde eine
Transformation traditioneller Stadtfunktionen unterstellt, womit zumindest
implizit eine Bedrohung der Stadt an sich verbunden war (Graham, Marvin 2000).
Sie äußerte sich zum Beispiel in der Befürchtung, wesentliche Teile des
städtischen Handels würden in shopping-websites
und periphere Lagerhäuser diffundieren und somit aus
der Stadt verschwinden. Ausgenommen von solchen Bedrohungsszenarien waren
allein jene Regionen, in denen sich die neuen Industrien und ihre Zulieferer, Dienstleister et cetera ballten
(s. o.). Während Sassen (1991) mit ihrer These von der »Global City«
ausdrücklich für die Städte plädierte (wobei dies aber auf eine geringe
Zahl von Metropolen begrenzt und insofern nicht verallgemeinerbar war), sehen andere
den Aufstieg von Klein- und Mittelstädten voraus, in denen Erreichbarkeit per
IKT mit hoher Wohn- und Standortqualität kombiniert wird (Lincoln Institute
2001).
Eine weitere raum-zeitliche These bezieht sich schließlich, fünftens,
auf Verkehr und Kommunikation (Hepworth, Ducatel 1992). Sie argumentiert mit weit reichenden Optimierungspotenzialen
durch informatorische Steuerung und gipfelt in der Behauptung, dass es zu einer
nennenswerten Substitution physischen Transports durch immaterielle oder
virtuelle Transfers kommen würde – quasi als Königsweg aus dem ewigen Dilemma
der Verkehrsstaus. In Verbindung mit dem Bedeutungszuwachs virtueller Transfers
wurde sogar ein grundlegender Bedeutungsverlust von Distanz und physischem Raum
postuliert: »The Death of
Distance« (Cairncross 1997). Die Autorin gilt auch
heute noch als Kronzeugin dieser These, obwohl sie in ihrem Buch weit
vorsichtiger argumentiert hat, als der Buchtitel dies suggeriert und als viele
ihrer Apologeten dies immer wieder nahe legen.
New
Economy – nach dem Platzen der »bubble«
Wie sind diese fünf Thesenbündel nun aus heutiger Sicht zu
beurteilen? Welchen »realen« Verbreitungsgrad haben die IKT erreicht, und welche
räumlichen Implikationen hat ihre Anwendung? Um es auf eine knappe Formel zu
bringen: Es hat sich viel geändert, doch die Revolution ist vorerst ausgeblieben.
Art und Umfang des Wandels mögen auf den ersten Blick spektakulär erscheinen,
räumliche Implikationen sind aber kaum sichtbar. Die New Economy
ist tendenziell eingebrochen, und mit ihr ist ein guter Teil der kulturellen
Leitmilieus verdampft. Davon nehmen sich nur wenige »Leuchttürme« der
Telekomindustrie aus, wie etwa der finnische Mobiltelefonhersteller Nokia. Zu
den Überlebenden der Krise der New Economy zählen der
Internet-Händler Amazon.com, der im letzten Jahr erstmals Gewinn machte,
oder das Auktionshaus eBay, das elektronisches
Handeln zu einer Art Volkssport gemacht hat. In seiner Gesamtheit gilt der
Online-Handel mit Endverbrauchern aber eher als Indikator für die Grenzen der
Neuen Ökonomie: sein Marktanteil dürfte in Deutschland immer noch im deutlich
unteren einstelligen Prozentbereich liegen; viele Produkte sind schnell an
Grenzen der sozialen Akzeptanz und ökonomischen Machbarkeit gestoßen. Gegen
eine rapide Verbreitung des E-Commerce sprechen
manifeste Beharrungskräfte bei den Konsumenten (Einkaufen als kultureller Akt),
aber auch die Kostensituation im Handel generell, der mit extrem knappen
Gewinnmargen und ruinöser Konkurrenz konfrontiert ist.
Nach Angaben des Branchenverbandes BITKOM hatte die Informationswirtschaft
in Deutschland im Jahr 2002 einen Umfang von fast 800000 Arbeitsplätzen (alle Daten nach BMWi 2002). Damit war die Beschäftigung nach Jahren
stürmischen Wachstums erstmals rückläufig; doch immerhin hat dieser Sektor
schon das Niveau des Straßenfahrzeugbaus erreicht (ohne Zulieferer). Im internationalen
Vergleich gilt Deutschland (5,8 % des Gesamtvolumens) nach den USA (33,6 %) und
Japan (12,5 %) als drittgrößter Markt der Informationswirtschaft. Bei
Internet-Nutzung oder Mobilfunk-Verbreitung liegt Deutschland dagegen eher im
internationalen Mittelfeld. Über die engere Informationswirtschaft hinaus haben
die IKT großen Einfluss vor allem im System der als »alt« klassifizierten
Ökonomie ausgeübt, also auf dem Wege ihrer Anwendung in mehr oder minder
»normalen« Unternehmen. Empirische Studien legen die Vermutung nahe, dass dies
auch weiterhin so sein wird. Im Jahr 2001 hatten 89,3 Prozent der deutschen
Unternehmen einen Internetanschluss (bei privaten Haushalten lag dieser Wert
bei 38,4 %). Allein der elektronische Handel wird zu vier Fünfteln zwischen
Unternehmen und nicht mit Privatpersonen abgewickelt. IKT-basierte Systeme
haben bei der verstärkt praktizierten zwischenbetrieblichen Arbeitsteilung
einfach große Vorteile in puncto Produktivität,
Transparenz, Schnelligkeit und Kosten. Zugleich sind jedoch die explizit räumlichen Konsequenzen hier am wenigsten absehbar.
Zur
Transformation des Räumlichen
Über die Transformation der Städte beziehungsweise die
Veränderung räumlicher Aktionsmuster im Zuge des technologischen Wandels liegen
nur rudimentäre Kenntnisse vor. Zwar wurden schon früh Elemente einer
»Geographie der Informationsgesellschaft« identifiziert, in der räumliche
Bindungen gelockert und Polaritäten neu gewichtet werden (Hepworth
1989, zuletzt Kotkin 2000). Neue Muster räumlichen Agierens
wie Telearbeit oder elektronischer Handel haben sich etabliert. Sie wurden aber
sowohl bezüglich ihrer Verbreitung (s. o.) als auch hinsichtlich ihrer Folgen
weit überschätzt. Zudem wurde übersehen, dass virtuelle Transaktionen sich in
viele Richtungen auswirken können: physischer Transfer lässt sich nicht nur
ersetzen, wie vielfach erhofft, sondern wird durch IKT auch ergänzt und
angeregt. Just ausgangs der Neunzigerjahre findet außerdem eine new geographical economy wachsende Beachtung, die gerade die
traditionellen Faktoren räumlichen Wachstums – insbesondere Größenvorteile als
Folge von Konzentration – in den Blick rückt. Mit der Bedeutung räumlicher Nähe
für ökonomischen Erfolg wächst zugleich auch der Stellenwert der Städte. Insofern
liest sich die populäre Erzählung von der ›Auflösung‹ der Stadt, von »digitaler
Deurbanisierung« oder vom »Ende« des Raumes heute umstandslos als »Märchen« (Lampugnani
2002: 9). Insgesamt wurden wohl weniger neue Trends gesetzt als vielmehr
laufende Entwicklungen verstärkt.
Grundsätzlich stehen neue Technologien, Gesellschafts- und
Raumentwicklung in einem engen Zusammenhang (siehe S. Schmitz: Revolutionen
der Erreichbarkeit. Gesellschaft, Raum und Verkehr im Wandel).
Technologische Innovationen können die Industriegesellschaft graduell
weiterentwickeln, sie können im Fall ihrer breiten Diffusion und Anwendung aber
auch einen Wendepunkt markieren: Durch die Lockerung von Raum- und
Standortbindungen wird das räumliche Beziehungsgefüge neu geordnet. Diese
Lockerung resultiert aber nicht allein aus dem technologischen Wandel, sondern
passiert im Verbund mit der alten Infrastruktur, insbesondere den
Hochgeschwindigkeitsnetzen. Dies heißt nun nicht, dass Kategorien wie Raum oder
Distanz in der Informationsgesellschaft keine Rolle mehr spielen würden: sie werden
unter den neuen Bedingungen nur anders ausgefüllt als vorher. Statt einer
Auflösung des Raumes ist insofern von einer Reorganisation der Erreichbarkeitsverhältnisse
auszugehen. Sinkende Raumwiderstände (preiswerte Mobilität, ausgebaute Verkehrsnetze)
erlauben die Ausdehnung der Aktionsräume, und dies begünstigt die Herausbildung
einer selektiven, polarisierten Raumentwicklung. Diese ist erst für die starke
Zunahme von Personen- und Güterverkehr der letzten Dekaden verantwortlich. In
dieser Wirkungskette spielen weniger einzelne Technologien als komplexe
Subsysteme eine treibende Rolle: Dazu gehören etwa neue Produktions- und Distributionskonzepte,
mit denen Warenproduktion und -verteilung in den Unternehmen sukzessive
verändert wurden – bereits lange vor dem Aufstieg des Internet. Auch bei der
Personenmobilität spielt der technologische Kontext vorläufig nur eine Nebenrolle;
letztlich kommt er erst in der siedlungsstrukturellen Kulisse zum Tragen, wo
sich neue Mobilitätsmöglichkeiten und individuelle Nachfrage zu einer zunehmend
fragmentierten Stadtlandschaft ausformen.
Wie sieht die Zukunft der Erreichbarkeit aus? Die reine
Organisation und Abwicklung von räumlicher Mobilität durch IuK-Technologien
dürfte weiter verbessert und erleichtert werden. Unter Berücksichtigung ihres
soziokulturellen Kontexts sind nach dem derzeitigen Stand keine großen
Pendelausschläge in diese oder jene Richtung zu erwarten: weder übermäßige
Verkehrseinsparungen noch das krasse Gegenteil. Es spricht vielmehr dafür, dass
neue Technologien genau diejenigen Tendenzen unterstützen, die unter dem
Einfluss sozioökonomischer Kräfte (Einkommen, Wohlstandsverteilung) derzeit
ohnehin ablaufen: ein zunehmend komplexes Alltagshandeln, das sowohl am oberen
wie am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie durch wachsenden
Mobilitätsdruck bestimmt wird. Probleme, die dabei auftreten, lassen sich mit
mehr Information und Kommunikation nicht per se lösen (was nützt GPS im
Stau?), es werden aber auch nicht zwangsläufig neue generiert. Insofern lässt,
bezogen auf räumliche Mobilität und Verkehr, erstens die Neuerfindung der Welt
auch in der Informationsgesellschaft vorläufig noch auf sich warten. Allerdings
laufen, dies wäre eine zweite Botschaft, unter ihrer Oberfläche dynamische
Veränderungen ab, die langfristig durchaus weit reichende Konsequenzen haben
könnten. Dies spricht von der Terminologie her eher für eine evolutorische denn revolutionäre Bewertung
des Wandels.
Die
Medienstadt
In räumlicher Hinsicht besitzt die Informationsgesellschaft
noch immer eine besondere Affinität zu urbanen Zentren. Die Herausbildung eines
eigenständigen ökonomischen Sektors der neuen Medien hat bereits zur Rede von
der »Medienstadt« geführt (siehe S. Krätke: Medienstadt.
Urbane Cluster und globale Zentren der Kulturproduktion). Wirklich
interessant ist auch hier nicht zwangsläufig das »Neue« an sich, sondern die
Tatsache, dass und wie dieser Wirtschaftszweig an traditionellen Sektoren
andockt: insbesondere den »alten« Medien (Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen)
und den kulturellen Institutionen wie beispielsweise der Kunst, der Musik oder
den Museen und ihrer marktförmigen Vermittlung. Diese Bereiche vermischen sich
mit denen der neuen Medien und der Werbewirtschaft im Bild einer
»Kulturindustrie« neuen Typs. Sie wird auch als eine der Leitindustrien des
21. Jahrhunderts bezeichnet: indem sie die Inhalte (content)
liefert, die dann mit Hilfe der neuen Technologien verbreitet, ausgetauscht und
kommerziell vertrieben werden.
Die Überformung der traditionellen Medienlandschaft mit
neuen Technologie- und Wertschöpfungssektoren wird in räumlicher Hinsicht so
interpretiert, dass diese neben der Herausbildung des eingangs erwähnten Leitmilieus
der »media people« – bedingt durch ihre sehr
spezifischen Muster von Wert-Schöpfung sowie das dominante soziale Milieu –
eine Affinität für die so genannten kreativen »Districts«
großer Städte haben. Schließlich will man nicht »irgendwo« arbeiten, sondern an
attraktiven Orten, in denen sich die Kreativen gegenseitig anregen können.
Solcherart urbane Affinitäten wurden mittlerweile in einer größeren Zahl von
Fallstudien nachgewiesen, und zwar nicht nur bei den Internet-Content-Produzenten,
sondern auch am Beispiel alter Mediensektoren wie dem des Verlagswesens.
Sind die alten Medien in Deutschland unter anderem
konzentriert in München, Hamburg, Frankfurt und Leipzig angesiedelt, gelten als
bevorzugte »Locations« der neuen Medienunternehmen
Köln, Hamburg, München und der Raum Berlin. Die Filmwirtschaft in
Potsdam-Babelsberg und der kulturökonomische Komplex (neudeutsch Cluster) in
der Berliner Innenstadt geben ein gutes Beispiel für diese Entwicklung. Beide
Standorte bauen auf verschiedenen historischen Entwicklungspfaden auf, sie sind
zugleich lokal und überregional stark vernetzt. In Potsdam-Babelsberg arbeiten
heute etwa 1500 Menschen in 125 Medienunternehmen, hinzu
kommen noch einmal ebenso viele Beschäftigte bei Zulieferern. Die
Informations-, Kommunikations- und Medienwirtschaft Berlins umfasste 1999 etwa
75000 Beschäftigte
und 25000
»freie« Mitarbeiter (also gut 100000 Erwerbstätige von ca. 1,2 Millionen insgesamt). Die Affinität
der Medienunternehmen für Metropolen sowie die Konzentration der Betriebe in
kernstädtischen Zentren stützt die These von einer »Konvergenz von Urbanität
und Medienszene« (Krätke): Die sozialen Milieus im
Mediensegment der New Economy dienen bisher als
manifester Beleg für die Vitalität der Stadt, nicht als Indiz für ihre
Abschaffung.
Die
Rolle der »alten« Stadt im telematischen Zeitalter
Je größer der Abstand zum Hype um
die New Economy wird, umso stärker richtet sich der
Blick auch wieder auf das Leistungsvermögen der historischen europäischen Stadt
(siehe V. M. Lampugnani: Verhaltene
Geschwindigkeit. Die Zukunft der telematischen Stadt).
Dies hat zwei Gründe: Zum einen wurden Ausmaß und Konsequenzen der Überformung
der Städte durch die Informationsgesellschaft weit überschätzt; zum anderen
dient die traditionelle Stadt als eine Art authentisches Widerlager gegen den
Aufstieg des Virtuellen, als Aufstand des Echten gegen das Surrogat. V. M. Lampugnani sieht in Verhaltene Geschwindigkeit den
Baubestand der Städte als wichtigen Speicher menschlicher Erinnerung: Die Stadt
fungiert hier als Buch, in dem der Bestand des kollektiven und individuellen
Gedächtnisses niedergelegt ist. Genauso wie mündliche Kommunikation durch den
Buchdruck ergänzt, aber nicht obsolet gemacht wurde, wird die gebaute Stadt
durch die elektronischen Speichermedien nicht in ihrer Substanz in Frage
gestellt: »Die Stadt ist ein Denkmal ihrer selbst – und damit ein Lehrstück.«
(S. 55)
Unter den möglichen Thesen zur Rolle der neuen Technologien
im städtischen Kontext (Ergänzung städtischer Funktionen bzw. Komplementarität, Optimierung, Substitution oder
Neutralität) werden vor allem Optimierung und Komplementarität
für relevant gehalten; haustechnische Innovationen zum Beispiel werden das
Wohnen nicht grundlegend verändern, dürften es aber angenehmer und – etwa
bezogen auf den Energieverbrauch – nachhaltiger gestalten. Wo die Zukunft der telematischen, aber »nicht durchtelematisierten«
Stadt beschworen wird, hat diese Argumentationsweise etwas sympathisch
Unmodernes. IKT bringen schließlich nicht per se mehr Information hervor, und
mehr Information ist nicht per se besser einzuschätzen als weniger Information.
Die Kehrseite dieses kulturkritischen Ansatzes ist allerdings, dass er
letztlich doch sehr stark dem Bild der »alten« Stadt verhaftet bleibt. Neuere
»Stadttheorien« wie Ansätze zur Netzstadt oder zur Zwischenstadt werden ausgerechnet
dahingehend kritisiert, dass sie mit der städtischen Wirklichkeit nichts zu tun
hätten – ein Argument, das man wohl mit Recht eher den Protagonisten der
»europäischen« Stadt vorhalten kann. Auch klingt manche Option der Telematik (etwa zum Verkehr) nach schierem Optimismus,
durch empirische Plausibilität nicht gedeckt. Und doch dürfte das Beharren auf
dem Prinzip von Urbanität, auf der Beständigkeit konkreter Orte für die
Interaktion von Menschen und zur Regelung demokratischer Angelegenheiten der
städtischen Realität näher kommen als die vorschnelle Rede vom Verdampfen der
Stadt im Cyberspace
Hohe
Trägheit im System
Wie sind die Analysen und Prophezeiungen zur telematischen Stadt, zur »City of Bits« aus heutiger Sicht
einzuschätzen? Woraus erklärt sich die offenkundige Diskrepanz zwischen der
Prognose vom Untergang der alten Stadt beziehungsweise vom Aufstieg des
Cyberspace einerseits und der doch eher schlichten Realität andererseits
(Christie, Hepworth 2001)? Auf den ersten Blick hat
sie womöglich triviale Ursachen: Zum einen ist der Prognostik die Zeitachse
aus den Fugen geraten. Technologische Innovationen brauchen erfahrungsgemäß
einen größeren Zeitraum, um sich durchzusetzen, manchmal Jahrzehnte. Dies
lehren die Erfahrungen mit dem Telefon oder dem Auto. Gemessen an den historisch
wenigen Jahren, die seit dem Aufstieg des Internet vergangen sind, war die
Erwartung an diesen Wandel viel zu hoch. Vielleicht stehen durch die Anwendung
der IKT tatsächlich gravierende Veränderungen bevor; ihre Folgen werden aber
erst mittelfristig absehbar sein.
Zum anderen ist die allseitige Komplexität der in
Rede stehenden Wirkungsbeziehungen zu nennen, die genaue Antworten auf die
gestellten Fragen erschwert. So erscheint es immer noch kaum möglich, die Rolle
der IKT vom Einfluss anderer Stellgrößen zu isolieren, von den externen
Randbedingungen ganz zu schweigen. Im Geist des »technologischen Determinismus«
wurde aber genau dieser Gegenstand von seinen sozialen und ökonomischen Kontexten
abstrahiert. In der Konsequenz wurden Technologien als solche
untersucht, aber weniger, inwieweit ihre Anwendung Eingang in bestehende
Strukturen findet, an welchen Stellen der Realität sie andockt und mit welchen
Trägheiten ihre Durchsetzung konfrontiert ist. Im Beziehungssystem von
Information, Infrastruktur und materiellen »flows«
wurde also bisher einseitig Ersteres untersucht, was eindeutig auf Kosten der
Zusammenhänge ging.
Aus räumlicher Sicht ist zentral, dass diese Elemente im
Beziehungssystem von Transfer-, Transport- und Kommunikationsfunktionen eng miteinander
verbunden sind. Materialfluss, Transportstrom und Infrastruktur sind auf
verschiedenen Schichten angesiedelt, die übereinander gelagert und eng miteinander
verzahnt sind. Der unterliegende physische Raum bildet die Basis der
Entwicklung. Informatorische Transfers entwickeln sich immer im Kontext mit der
harten, materiellen Schicht des physischen Raumes. Beide werden auch im
vielleicht ambitioniertesten theoretischen Überbau
zur Informationsgesellschaft verhandelt, den Manuel Castells
mit seiner Network Society (1996, 2002)
entworfen hat. Zumindest werden die möglichen Konsequenzen für Stadt und Raum
hier am gründlichsten analysiert. Seine Thesen bündeln sich in den Figuren vom
»space of flows«, dem »Raum
der Ströme« (das Netz), und dem »space of places«, den realen Orten. Mit dieser Art Metatheorie versucht
Castells einen umfassenden, differenzierten Analyse-
und Erklärungsrahmen zu schaffen und hebt sich damit von der tendenziell eindimensionalen
Technikfolgenforschung ab. Die Breite seines Ansatzes geht jedoch auf Kosten
der Treffgenauigkeit – vor allem bezüglich der Frage, was das denn konkret
für die Raumentwicklung bedeutet. Es bleibt unklar, inwiefern sich reale und
virtuelle Räume gegenseitig bedingen, also keinen Gegensatz bilden, sondern
komplementär zueinander sind (vgl. dazu und zur politischen Kritik Marcuse
2002). Und seine Theorie hat sich auch noch zu wenig mit den Widersprüchen im
Kräftefeld zwischen virtuellen und realen Strömen und Räumen befasst.
Denn während die Systemdynamiken auf der Ebene von Material-
und Informationsfluss beschleunigt verlaufen, wirkt der physische Raum als
materielles Fundament und zugleich als Widerlager. Die Spannung zwischen diesen
beiden Ebenen lässt sich auch als »Trägheit« verstehen. Trägheit besteht dann,
wenn die Schicht informatorischen Transfers in Widerspruch zu anderen
Systemelementen gerät (etwa dem Materialfluss, der Infrastruktur) oder
Konflikte mit dem sozialen und ökonomischen Kontext aufwirft. Diese Eigenschaft
liegt vor allem in unterschiedlichen Systemdynamiken begründet: Während IKT-
und Web-basierte Abwicklungen scheinbar immer direkter, schneller, perfekter
ablaufen, reagieren Infrastrukturen und materielle Räume eher träge, ebenso wie
soziale Systeme. Aus dieser Trägheit, die sowohl im System steckt als auch
insbesondere durch physische Räume hervorgebracht wird, ergibt sich eine erhebliche
Reibung. Sie blockiert den Cyberspace und wirft politisch-planerischen
Handlungsbedarf auf.
Ein gutes Beispiel hierfür liefert der elektronische Handel:
Dort standen ausgefeilten Webpages und einer technologischen Überausstattung
auf der einen Seite logistisch profane Lieferdienste und geradezu archaische
»Handarbeit« andererseits gegenüber. Dieser hohen Trägheit im System entspricht
ein manifestes Akzeptanzproblem auf Seiten der Nachfrage: durch latente
Verweigerung des Online-Kaufs anhaltend hoher Anteile der Konsumenten. Dieses
Problem kann man auch als soziale Trägheit interpretieren. Dass man mit
dem Ausliefern von Konsumgütern kaum Geld verdienen kann, kommt schließlich als
eine Art ökonomischer Trägheit hinzu. Auch hier kommen die wenigen
Erfolgsmeldungen von gelungenen Mischungen aus Alt und Neu: Nicht zufällig
dominieren heute solche Betriebe im E-Commerce, die
entweder über ein stationäres Netz verfügen und beide Vertriebswege
kombinieren, oder aber die schon im traditionellen Versandhandel erfolgreich
waren und das Internet nun parallel zum Katalog weiterentwickeln.
Schließlich war auch die Diskussion um die telematische Stadt nicht frei vom Hype
um die New Economy, der sich unter anderem einem allgemeinen
Deutungsdilemma von Wissenschaft und Forschung verdankt: Es äußert sich
in der latenten Überschätzung der Gegenwart gegenüber dem historischen Gang der
Dinge und in der verbreiteten Faszination des »Neuen«. Der Blick auf die
räumliche Dimension des technologischen Wandels ist durch einen wissenslogischen
Fehlschluss verstellt, der dieses vermeintlich entstehende Neue von seinen historischen
Ausgangsbedingungen und Kontexten, dem »Alten«, rigide getrennt hat. Eine
solche Vorgehensweise hat Bruno Latour (1993), in
einem anderen Kontext, mit Verweis auf die künstliche beziehungsweise
willkürliche Dichotomie von Natur und Kultur, von modern und amodern kritisiert. Dies gilt im Grunde auch für den
informationstechnischen Diskurs: Auf der Grundlage einer schematischen Trennung
zwischen »Alt« und »Neu« wurde das Erste verworfen, das Letztere überhöht und
zum Fetisch gemacht –in der Wissenschaft und in den Medien, vor allem in der
Wirtschaftspublizistik. Mit anderen Worten: Im Taumel des Modernen ging der
Blick dafür verloren, wie viel Substanz tatsächlich hinter dem Hype stand und wo die Sache im Kern eher auf eine
Transformation und Hybridisierung des Bestehenden
hinauslief.
Nachdem der Rausch des Neuen verflogen ist, herrscht nun
Enttäuschung. Im Grunde besteht dazu jedoch kein Anlass, denn die Sache wird
gerade erst interessant: Neue Technologien werden ja nicht verschwinden. Sie
werden die Lebensbedingungen und -praktiken der Menschen langfristig
fundamental beinflussen. Auch könnte jener Teil der
»Neuen« Ökonomie eine Wiederauferstehung feiern, der komplementär zur modernisierten
alten Ökonomie gebraucht wird, ohne diese zu ersetzen. Ob damit gleich
revolutionäre Sprünge in der Organisation von Raum und Zeit einhergehen, ist
eine zweite, viel schwierigere Frage. Ihre Beantwortung könnte unter anderem
davon abhängen, ob und wie Mobilkommunikation das Verhältnis von konkretem Ort
(place) und abstraktem Raum (space) tatsächlich spürbar verändern wird. Dies
würde eine Art »körperlicher« Adaption der neuen IKT voraussetzen. Ob so etwas
möglich ist und damit individuelles Handeln relevant beeinflussen wird oder ob
es nur eine Nische im technisch-sozialen Wandel darstellt, darüber kann man
vorerst nur spekulieren.
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(Leske und Budrich) 2002
(267 S., 19,80 €)
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