Jürgen Meier

 

Genie? Gesellschaftstheoretiker!

 

Über Detlev Claussens Buch über Theodor W. Adorno

 

War Adorno, ein letztes Genie? »Der Geniebegriff wäre so Adorno, »wenn irgend etwas an ihm zu halten ist, von jener plumpen Gleichsetzung mit dem kreativen Subjekt loszureißen, die aus eitel Überschwang das Kunstwerk in das Dokument seines Urebers verzaubert und damit verkleinert«. Diese Antwort steht ganz im Banne Kants, für den das Genie »ein Talent zur Kunst sei, nicht zur Wissenschaft«. Wollte also sein acht Jahre älterer Freund Horkheimer, als er Adorno in einem Nachruf ein Genie »unserer Zeit des Übergangs« nannte, als Künstler würdigen, um ihn als Denker zu schmälern? Sicher nicht! Sicher wollte der ältere Freund seine Hochachtung in eine Identität, einen Begriff, setzen. Nicht bedenkend, dass Adorno ein Freund des Nicht-Identischen war. Der Buchtitel stützt sich auf Horkheimer, und löst dabei ganz die Vorahnung Adornos ein. Dieser hatte nämlich befürchtet, dass seine Würdigung als Genie seine geistige Arbeit verkleinern könnte. Als Genie ausgezeichnet würde man ihn als Künstler verehren, »um ihn gleichzeitig als Wissenschaftler unmöglich zu machen«. Detlev Claussen zeichnet einen Adorno, wie er den Lesern unbekannt sein dürfte, eben als Künstler, als Musiker, der, zweiundzwanzigjährig, als frisch promovierter Philosoph, 1925 von Frankfurt nach Wien auszog, um hier bei Alban Berg die Kunst des Komponierens zu perfektionieren, mit der er in Frankfurt bei seinem Lehrer Sekles begonnen hatte. Auch das Klavierspiel, im Elternhaus bereits an der Seite zwei professioneller Musikerinnen, seiner Mutter und seiner Tante, gelernt, wollte er bei dem, »wohl qualifiziertesten Pianisten in der Umgebung Schönbergs«, Eduard Steuermann, verbessern. In Wien traf er auf Eisler, dem späteren Komponisten der DDR-Nationalhymne. Eisler, fünf Jahre älter, erhielt Privatunterricht bei Arnold Schönberg. Ein Ziel, das Adorno selbst anstrebte, das er aber nicht erreichte. Die Begabung Eislers, dessen Bruder Gerhard und Schwester Ruth Fischer, Parteifunktionäre in der KPD waren, scheint nicht unwesentlich daran beteiligt gewesen zu sein, dass Adorno wieder in seine Heimatstadt Frankfurt zurück kehrte, um sich dort im bereits gegründeten »Institut für Sozialforschung«, zu engagieren, das der Sohn eines reichen Frankfurter Bürgers, Felix Weil, als Stiftung an der Universität ins Leben rief. Es sollte, so der Kommunist Weil, unabhängig sein, aber gleichzeitig akademische Akzeptanz genießen. Adorno, soll noch wenige Jahre vor seinem plötzlichen Tot gesagt haben, es sei noch immer ein Trauma für ihn, dass er sich nicht ganz der Musik hingegeben  habe. Für Adorno war Musik Revolution. »Der Zweck der Revolution ist die Abschaffung der Angst«, schreibt er 1936 an seinen Freund Walter Benjamin. Die Musik sei Abschaffung von Angst. Musik sei Verdopplung. Claussen sieht in diesem ästhetischen Radikalismus Adornos die Schranke, die Adorno, anders als Bloch, Eisler und Brecht, vor dem Mythos der »glorreichen« Sowjetunion schützte. »Wer singt ist nicht allein«, schrieb Adorno, »er hört die Stimme, ein Anderes, was doch er selbst ist. Sich selbst zum Anderen werden, sich entäußern. Darin liegt eine Fülle von Momenten: Die Wendung gegen die Angst (wer Angst hat singt weil er dann nicht mehr allein ist)«. Adornos Kulturkritik war von diesem Gedanken getragen, dessen »negative Dialektik« er während seines Exils in Hollywood in der »Kulturindustrie«, ebenfalls an der Musik, bestens zu beschreiben verstand: »In der Ära des Tonfilms, des Radios und der gesungenen Reklamesprüche ist sie gerade in ihrer Irrationalität von der geschäftlichen Vernunft ganz beschlagnahmt worden.«

In Wien lernte Adorno recht bald den ungarischen Philosophen Lukács kennen, dessen Werke Theorie des Romans und »Geschichte und Klassenkampf« er noch in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard nutzte. »Von diesem Treffen«, so Clausen, »hat Teddie in Wien am 17. Juni 1925 seinem gespannten Freund Kracauer in Frankfurt am Main einen aufgeregten Bericht geliefert, aus dem bis heute nicht zitiert werden darf«. Man sprach über den Kommunismus, »wie er von Lukacs diskutiert wurde, ... wie von einer intellektuellen Option, Parteizugehörigkeit hatte für fast alle eher etwas von einem existentiellen Mythos, außer paradoxerweise für den exponierten Lukacs selbst, der sich schon damals heftigsten Attacken von Seiten der Komintern ausgesetzt sah«. Als 1963 Lukacs Ästhetik erscheint, stützt er sich an mehreren Stellen anerkennend auf die Musiktheorie Adornos, dessen Analysen sich im wesentlichen stets auf seine frühe Formulierung stützte. Das kompositorische Subjekt sei »kein individuelles«, sondern »ein kollektives. Aller Musik, und wäre es die dem Stil nach individualistischste, eignet unabdingbar ein kollektiver Gehalt: jeder Klang allein schon sagt Wir«. Hier stimmte der Gleichklang zu Lukács.

 

Doch das Interesse an Adorno, anlässlich seines hundertsten Geburtstages, ist weniger ein Interesse an seinem künstlerischem »Genie«, als an seiner Gesellschaftstheorie die er in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Frankfurt, Berlin und Wien von Kracauer, Benjamin, Lukács, Brecht, Bloch, Eisler, empfing, um sie in den Dreißigerjahren im amerikanischen Exil bis zu seinem Tot 1969 besonders an junge Menschen, die auf der Suche nach einem anderen Leben, als dem spätbürgerlichen, waren, weiterzugeben. Doch in dieser Beziehung vermittelt Claussen wenig Kenntnis.

Adornos Philosophie wird zwar im eifersüchtigen Spannungsfeld zwischen einzelnen Akteuren, wie Marcuse, Brecht, Bloch und immer wieder und besonders, Lukacs, geschildert, sie bekommt aber keine eigene Farbe, die ja wirkungsvoll auf die Akteure der Studentenbewegung zu wirken verstand. Claussen zitiert Adornos hegelsche Umkehr »Das Ganze ist das Unwahre«, als Hegel »affirmativ«. Clausen zeigt nicht, warum Adorno sich diesen Satz als Leitlinie nahm, um das Ganze, nach Ausschwitz, in seiner unmenschlichen Wirkung auf den einzelnen Menschen zu brandmarken. Ein Zitat hätte ausgereicht, um das kritische Denken seiner Hegelumkehr deutlich zu machen. »Der Bürger«, schreibt Adorno, »ist tolerant. Seine Liebe zu den Menschen, wie sie sind, entspringt dem Haß gegen den richtigen Menschen« (Minima Moralia). Das ist Adornos »negative Dialektik«. Alfred Schmidt, wohl einer der bekanntesten Adorno-Assistenten, der bei Claussen nur als Augenzeuge zitiert wird, der belegen soll, dass Adorno seine erste Frankfurter Vorlesung »mit einer Windjacke bekleidet« dozierte, schrieb über Adorno, dass er «die zu bloßer Methode verkommene Philosophie wieder als das versteht, was sie schon im Altertum war: als ›Lehre vom richtigen Leben‹ des Einzelnen« (»Adorno – ein Philosoph des realen Humanismus«). Hieraus ergibt sich Adornos Widerspruch zu Hegel. »Das Ganze ist das Unwahre, nicht bloß weil die These von der Totalität selber die Unwahrheit, das zum Absolutum aufgeblähte Prinzip der Herrschaft ist. ... Das ist das Wahre an Hegels Unwahrheit. Die Kraft des Ganzen, die sie mobilisiert, ist keine bloße Einbildung des Geistes, sondern die jenes realen Verblendungszusammenhangs, in den alles Einzelne eingespannt bleibt. Indem aber Philosophie wider Hegel die Negativität des Ganzen bestimmt, erfällt sie zum letzten Mal das Postulat der bestimmten Negation, welche die Position ist (Adorno: »Erfahrungsberichte der Hegelschen Philosophie«, S. 89.)

Die ›Phänomenologie‹ Hegels betrachtete die ›Realität des Allgemeinen‹ als die ›Bewegung der Individualität‹. Demgegenüber wollte Adorno die Dialektik von Individuum und Gesellschaft voll austragen. Adorno wollte auf die These hinaus, dass sich das Allgemeine in der kapitalistischen Gesellschaft nicht nur »durchs Zusammenspiel der Einzelnen« realisiert, sondern dass ebenso sehr die Gesellschaft »wesentlich die Substanz des Individuums ist«. Adorno, anders als Lukàcs, glaubte nicht mehr an die Möglichkeit das Ganze zu erkennen. Er negierte den Begriff der Totalität und kaprizierte sich auf die Rettung des Individuums. »Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen« (»Noten zu Literatur«).

Die Dialektik von Individuum und Gesellschaft rückt in den Mittelpunkt von Adornos Denken. An ihr lässt sich seine Kulturkritik ablesen, die mit dem Prinzip Ernst macht, nicht Ideologie an sich sei unwahr, sondern ihre Prätention, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen.

»Das ›objektive Ende der Humanität‹ besagt in Adornos Analyse, ›dass der Einzelne als Einzelner, wie er das Gattungswesen Mensch repräsentiert, die Autonomie verloren hat, durch die er die Gattung verwirklichen könnte‹« (Alfred Schmidt, ebenda).

Lukács wird bei Claussen deutlich als Adornos zentraler theoretischer Widersacher erkannt. Doch statt die Widersprüche beider Denker exakt zu skizzieren, verläuft er sich in wüste Lukács-Beschimpfungen. Dieser, von »linksradikaler Askese« gequälte Lukács, der selbst in einer hübschen Budapester Wohnung mit gutem Ausblick gelebt habe, werfe Adorno vor, er bevorzuge das »Grand Hotel Abgrund«. Diesen Vorwurf wiederholt der Autor an drei verschiedenen Stellen seines Buches. Lukács Vorwurf vom »Grand Hotel Abgrund« geht auf einen Aufsatz (1933) zurück, in dem er den bürgerlichen Intellektuellen vorwirft, sie würden in ihren Analysen stets von der Ideologie ausgehen und in ihr stecken bleiben, statt das gesellschaftliche Sein in seinen Klassenwidersprüchen zu erkennen. In diesem, vom Ort des wirklichen Lebens entfernten, ideologischen Gewirr, würden sie sich »häuslich« einrichten. »Das Grand Hotel ›Abgrund‹«, so Lukács, »verlangt von seinen Gästen keine Legitimation, nur die des geisteigen Niveaus«. Wenn er Adorno in seinem Vorwort zur Theorie des Romans (1962) diesen Vorwurf macht, so ist dies keine Kritik an Adornos Wertschätzung eines feinen Hotels, sondern eben ein theoretischer. In Clausens Buch spricht nicht Adorno, wie er es im Vorwort ankündigt, sondern Claussen. Adorno stritt sich mit Lukács auf einem anderen Niveau, dies kann unbeschwert nachprüfen, wer in der Adorno Gesamtausgabe des Suhrkamp Verlages stöbert.

 

Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a. M. (S. Fischer Verlag) 2003 (485 S., 22,90 €)