Inhalt 5 / 2003


In dieser Ausgabe

 

Wir leben, wohl genährt, in einer Zeit großer Umbrüche. Eher abgebrüht als staunend durcheilen wir die Frankfurter Buchmesse, wo es die Welt zu lesen gibt – mit dem diesjährigen Schwerpunkt Russland. Folgt man Larissa Lissjutkinas bewegtem Essay, betreten wir eine weniger wohl genährte, wimmelnde Welt. Eine Gesellschaft, noch gezeichnet von den Spuren einer ins Monströse gekippten Utopie, bricht um und auf ins Informationszeitalter; aus den Altären der Literatur werden Verkaufsstände, aus den Gewissenswürmern der Nation werden Textproduzenten, die sich keiner höheren Idee mehr verpflichten.

Sich in Umbruchszeiten wie der jüngsten besser orientieren zu können, als auch traditionelle Geschichtsauffassungen wie die materialistische in eine zivilisationsgeschichtliche Gesamtperspektive zu überführen – das ist das Anliegen Helmut Fleischers in seinem Debattenbeitrag über imperiale Zivilisation. Dass sich die Veränderungen in der Welt auf die Lebensverhältnisse der deutschen Bundesbürger zunehmend auswirken, spiegelt sich auch in der derzeitigen verspäteten Reformdebatte. Selbst von Widersprüchen befangen fräst sie sich nur langsam durch den Zement von Gewohnheiten und starren Strukturen. Sowohl das Sozialwesen als auch der Bildungssektor sind stark verbürokratisierte und verbeamtete Bereiche, auch politische Entscheidungsträger kommen zahlreich von dort. Viel davon wird in den Beiträgen von Harry Kunz, Wolfgang Geiger, Peter Köpf und Alexander Provelegios deutlich. Dabei kann Staatlichkeit durchaus ein vertretbares bürgerfreundliches Sozialmodell managen, wie Michael Klinski es am Fall Norwegen darlegt.

Ein Brennpunkt der Veränderungen ist der Mittlere Osten, wo die USA im Irak vor großen Problemen steht. Drei namhafte französische Orientalisten, Laurence Louër, Sabrina Mervin und Olivier Roy vermitteln in einem Gespräch, das weniger politische und ökonomische als religiöse und familiäre Strukturen aufzeigt, tiefe Einblicke in die gesellschaftliche Dynamik der Golfregion. Die Ermordung des Schiitenführers Mohammad Baqer al-Hakim hat die Lage erheblich verschärft.

Tradition hat die herbstliche Bücherbeilage im Heft zum Buchmessenmonat. Kein Wegweiser, in Anbetracht von über 80000 Bücher, sondern ein ganz subjektives Entrée.


 

THEMA
RUSSLANDS LITERATUREN

Was hat Puschkin mit dem Bolschewismus zu tun? Wo kommt eine verschreckte gesellschaftliche Reaktion auf die postmoderne Idee, vermeintlich degoutante Bücher einer vor nichts zurückschreckenden Literaturszene öffentlich in einer (nicht funktionierenden) Klosettattrappe zu vernichten? Wo werden solche Happenings im TV übertragen und vom Publikum heftig diskutiert? In Russland – nein, in Moskau und Petersburg, denn die Provinz schnarcht weiter im Tolstoi-Takt – tritt eine neue Autorengeneration an, stürzt alte Götzen, macht die Klassiker für die Moderne verantwortlich und schreibt auch noch spannende Texte, die, bei aller Verrücktheit, einiges von der gesellschaftlichen Gefühlslage wiedergeben.

Radikale Vielfalt. Die Umbrüche der russischen Gesellschaft und die Entwicklung ihrer Literaturen. Larissa Lissjutkina
Seite 6

Ausstellung: »Traumfabrik Kommunismus.« Michael Ackermann
Seite 9

 

FORUM I
IMPERIALE ZIVILISATION

Der Gegenwartsdiskurs geht, so Helmut Fleischer, penetrant ideologisch, nur mit anderen Vorzeichen über die Bühne. Das stellt einer fest, der sich sein Leben lang mit den großen Ideologien auseinander gesetzt hat. Und präsentiert seinen Vorschlag für eine konsequente Historisierung, der den Fallen des »Minenfeldes Zeitgeschichte« entgehen soll.

Europa und der Rest der Welt. Votum für einen politischen Historismus. Helmut Fleischer
Seite 16

 

FORUM II
HONDERICH-DEBATTE

Der Streit um Ted Honderichs Buch, worin der Autor die palästinensischen Attentate rechtfertigt, füllte das Sommerloch. Wieweit und warum solche antijüdischen, antiisraelischen und antiamerikanischen Plattheiten »linkes« Gemeingut und geteilte Gedankenform sind, diese Debatte ist erneut eröffnet.

Symptom-Schmerzen. Zwei Beiträge über den Bodensatz von »Terrorismus«

Wir Antisemiten. Eike Hennig
Seite 21

Den Terrorismus denken …
Michael Opielka
Seite 22

 

ZUR ZEIT

Vor dem Backlash? Rürups Welt: Zwischen Sozialreform und Neoliberalismus. Harry Kunz
Seite 28

»Bürgerversicherung« ohne Versicherung. Das norwegische Sozial- und Steuersystem und sein Gesundheitswesen.
Michael Klinski
Seite 32

Bildung +/- Politik. Eine Dialektik der Freiheit. Wolfgang Geiger
Seite 38

Wie viel Ökonomie braucht ein Kind? Über die schleichende Übernahme der Klassenzimmer durch die Wirtschaft. Peter Köpf / Alexander Provelegios
Seite 43

Wie Berlin eine Chance verspielte. Weltklima und Stadtpolitik. Hartwig Berger
Seite 47

Americana – Korrespondenzen aus der Neuen Welt (I): »Two Years Later«. Martin Altmeyer
Seite 53

Buch: Don DeLillos »Cosmopolis«. Martin Altmeyer
Seite 54

Zu viel Realismus, zu viel Idealismus. Gedanken zur Kosovo-Frage. Ernst Köhler
Seite 61

Kollektive Rechte und Maximalforderungen. Ungarische Minderheit in Rumänien. Richard Wagner
Seite 68

 

FOTO-REPORTAGEN

Gesichter der Flut. Ilja C. Hendel
Seite 24

Schiiten im Iran. Markus Kirchgeßner
Seite 71

 

 

SCHWERPUNKT
IRAKS SCHIITEN

Was sind die maßgeblichen geistigen Zentren des Iraks? Welche Parteien und Familien spielen im Schiitismus außerhalb des Iran eine wesentliche Rolle? Welche Auswirkungen hatte Saddam Husseins jahrzehntelanger Kampf gegen die schiitischen Strukturen? Wie entwickelte sich das Verhältnis zur islamischen Revolution im Iran? Welche Einflussnahme gab es auf die wahhabitischen Länder am Golf, welche Wandlungen waren diese Beziehungen unterworfen? Welche Rolle spielt der Libanon? Über diese und weitere Fragen diskutierten im Juli-Heft der französischen Zeitschrift Esprit die Orientalisten Laurence Louër, Sabrina Mervin und Olivier Roy – ein Gespräch, das einen etwas anderen Blick auf die irakische Gesellschaft erlaubt.

Wiedergeburt in Nadschaf. Ein Gespräch über Glauben, Politik & Wandel am Golf.
Laurence Louër, Sabrina Mervin,
Olivier Roy

Seite 73

Buch: Susan Sontags »Das Leiden anderer betrachten«. Helmut Veil
Seite 78

 

 

LITERATUR-EXTRA

Über Bücher von Hector Abad , Max Aub , Per Olov Enquist, Julia Franck, Jorge Franco, Santiago Gamboa, Pedro Juan Gutiérrez, Willem Frederik Hermans, Keigo Higashino, Paulus Hochgatterer, Michail Jelisarow, Michael Kumpfmüller, Wladimir Makanin, Edna O’Brien, Hanns-Josef Ortheil, Pier Antonio Quarantotti, Arthur Phillip, Michael Raleigh, Margit Schreiner, Jáchym Topol, William Trevor, Ljudmila Ulitzkaja, Anke Velmeke, Juan Villoro, Jorge Volpi, Antje Wagner und Virginia Woolf. Mit Beiträgen von Michael Ackermann, Mareile Ahrndt, Martin Droschke, Erich Hackl, Heiko Hänsel, Eva Horn, Siegfried Knittel, Ernst Köhler, Wilhelm Pauli, Joscha Schmierer, Michael Schweizer, Brigitte Voykowitsch, Jürgen Walla, Renate Wiggershaus, Balduin Winter
Seite 81

 

 

FEUILLETON
NEUE TECHNOLOGIEN

Spätestens seit der Einführung des Internet wird verstärkt über die Konsequenzen der »Informationsgesellschaft« spekuliert. Eine populäre Erzählung ist diejenige von der Auflösung des Raumes, vom Verschwinden der Distanz und dem Ende der traditionellen Stadt. Wie stellt sich diese Diskussion heute dar, nach dem Platzen der »Internetblase« und dem vorläufigen Ende der Hoffnungen auf eine schöne neue Ökonomie?

City versus Bits. Von der Beschleunigung der Nachrichten und der Trägheit des Raumes. Markus Hesse
Seite 99

»Zurückkehren, damit nicht alles, was sich in uns angesammelt hat, verloren geht.« Theodor W. Adorno und Frankfurt am Main. Rolf Wiggershaus
Ausschließlich auf unserer Web-Site:

Das zwanzigste Jahrhundert als Person. Über Detlev Claussens Buch über Theodor W. Adorno. Eric Oberle

Genie? Gesellschaftstheoretiker! Über Deltev Claussens Buch über Theodor W. Adorno. Jürgen Meier

Seite 105

Bücherfenster: Empire Amerika? / Die Krise des Islam. Joscha Schmierer
Seite 108

Lachen lernen in München.
Jürgen Walla
Seite 118

 

 

KOMMENTARE & KOLUMNEN

Editorial

Seite 3

Ereignisse  & Meinungen: Europäischer »Geschichtsdialog«. Balduin Winter
Seite 26

Recht: Kommissionitis. Uwe Günther
Seite 31

Nachgezählt: Globale Entwicklung der Armut. Peter Lohauß
Seite 36

Glosse: Frau auf Frau? Albrecht von Lucke
Seite 40

Republikanische Randnotizen (5). Willfried Maier
Seite 42

Nord-Süd: Geschlechtergleichstellung in der Afrikanischen Union. Uschi Eid
Seite 46

Auf dem Weg zur gesellschaftlichen Vielfalt – Ausweitung der Diskriminierungsverbote in der EU. Uta Klein
Seite 50

Brief aus Österreich: »Internationale Lachnummer.« Gerhard Fritz
Seite 52

Umweltpolitik: USA – Umweltschutz als Wahlkampfthema. Sascha Müller-Kraenner
Seite 56

Brief aus den Niederlanden: Das postkoloniale ABC. Frank Eckardt  
Seite 58

Brief aus Südostasien: Geständnis nach 40 Jahren. Doris Klein
Seite 60

Fotobuch: Die unbekannten Europäer. Helmut Veil
Seite 65

Kein Durchbruch. Serbien nach dem Mord an Zoran Djindjic. Ernst Köhler
Seite
66

Kommentar Italien: Kreative Wirtschaftspolitik. Annemarie Nikolaus
Seite 70

Aus dem Beitrittsgebiet: Tiere in Sonderwirtschaftszonen. Wilhelm Pauli
Seite
110

Untaten & Orte: Mord in Skandinavien. Michael Schweizer
Seite 112

Film-Schnitte : Nostalgiker und Grenzgänger. Michael Ackermann
Seite 114

Aufgelesene Töne: Der Untergrund taucht auf. Vor 35 Jahren: Die Essener Songtage. Christoph Wagner
Seite 116

Titel, Echo, AutorInnen, Impressum
Seite 119

 

 

© Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe Oktober/November 2003 / 5/03.