Rolf Wiggershaus

»Zurückkehren, damit nicht alles, was sich in uns angesammelt hat, verloren geht«

Über Theodor W. Adorno und Frankfurt am Main

Keiner aus dem Kreis um Max Horkheimer, dem Leiter des 1933 in die Schweiz, im Jahr darauf in die USA emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, sehnte sich so nach Europa zurück, war so ergriffen bei der ersten Wiederbegegnung mit dem alten Kontinent, sprach auch in späteren Jahren so emphatisch über seine Eindrücke und Gefühle dabei wie Theodor W. Adorno. Er kam im Herbst 1949 zunächst als Stellvertreter des sich nicht reisefähig fühlenden Institutsleiters zurück. »Die Rückkunft nach Europa«, schrieb er aus Paris, »hat mit einer Gewalt mich ergriffen, die zu beschreiben mir die Worte fehlen. Und die Schönheit von Paris leuchtet durch die Fetzen der Armut rührender noch als je zuvor ... Was hier noch ist, mag historisch verurteilt sein und trägt die Spur davon deutlich genug, aber daß es noch ist, das Ungleichzeitige selber, gehört auch zum geschichtlichen Bild und birgt die schwache Hoffnung, daß etwas vom Menschlichen, trotz allem, überlebt.«

Von der Unwahrscheinlichkeit der Kritischen Theorie beziehungsweise der Frankfurter Schule sprach einmal der Hamburger Soziologe Stefan Breuer – und das schließt auch die Unwahrscheinlichkeit dieser Ausstellung über Theodor W. Adorno in Frankfurt anlässlich seines 100. Geburtstags ein. Wäre nicht in den 1860er Jahren Unterfranken ein Zentrum antisemitischer Aktionen gewesen, wären die Wiesengrunds wohl nicht in das westlichere und großstädtischere Frankfurt am Main gezogen. Hätte es in Frankfurt am Main nicht ein stark jüdisch geprägtes Bürgertum mit ausgeprägtem sozialem und kulturellem Engagement gegeben, wäre keine Stiftungsuniversität gegründet worden, an die sich eine jüdische Stiftung spezieller und radikal gesellschaftskritischer Art, das Institut für Sozialforschung, unter Wahrung weit gehender Unabhängigkeit hätte anlehnen können. Hätte es nicht das von Hermann und Felix Weil gestiftete Institut für Sozialforschung gegeben, hätte Adorno nicht im US-amerikanischen Exil zum produktivsten und wichtigsten Mitarbeiter dieses Instituts werden können, dessen Rückkehr nach einem verlorenen Krieg selbst den Frankfurter Universitätsmitgliedern wünschenswert schien, die 1933 an seiner Vertreibung mitgewirkt hatten – rechnete man doch mit einem finanziell potenten Institut und wohlwollenden Reaktionen der US-amerikanischen Besatzungsmacht. Und solche Erwartungen hätte es nicht geben können, wäre nicht gegen die ursprünglich auf den Nordwesten Deutschlands zielenden Wünsche der USA der Südwesten Deutschlands mit Wiesbaden und Frankfurt am Main als Zentrum US-amerikanische Besatzungszone geworden. Das aber hätte alles nicht gereicht, hätte nicht Adorno einerseits in den USA die Erfahrung gemacht, dass Texte in seinem Stil dort gar nicht erst Verleger fanden, die sie auf dem Markt anzubieten wagten, und hätte er nicht andererseits auf eine Kindheit und Jugend und den Beginn einer Karriere als akademischer Lehrer in Deutschland zurückblicken können, die sich trotz mancher Krisen vor dem Hintergrund einer krisenhaften Zeit glanzvoll ausnahmen und dazu verlockten, es noch einmal zu versuchen.

»Wie war es noch mit Ihrer familiären Mischung – genuesisch-wienerisch?«, fragte Thomas Mann ein wenig salopp im Sommer 1948 bei Adorno an, als er mit seinem Buch über Die Entstehung des Doktor Faustus und Adornos bedeutendem Anteil daran begann. Dies Bild hatte also Adorno bis dahin von sich vermittelt: Produkt einer genuesisch-wienerischen Mischung. Adorno korrigierte es nur sehr behutsam für die ihm durch Manns »Roman eines Romans« gebotene »Hintertür zur Unsterblichkeit«, für die er dem Nobelpreisträger schon im Voraus dankte. Adorno taucht darin vor uns auf zwar als ein 1903 in Frankfurt am Main Geborener. Aber über den Vater erfährt man nur: Er sei »deutscher Jude«, über die Mutter dagegen: Sie sei Sängerin und »die Tochter eines französischen Offiziers korsischer – ursprünglich genuesischer – Abstammung und einer deutschen Sängerin«. Adorno spricht ausführlicher und stolzer über den Großvater mütterlicherseits, der von korsischen Bauern namens Calvelli abstammte und als mittelloser Fechtlehrer seinen Marktwert durch die Hinzufügung »Adorno« und schließlich gar »Adorno della Piana« zu steigern versuchte, als über den eigenen Vater, einen erfolgreichen und großzügigen Weingroßhändler, der seiner Familie, zu der noch die unverheiratete Schwester seiner Frau gehörte, die gutbürgerlichen Voraussetzungen für ein ganz künstlerischen – und im Falle Adornos eben auch theoretischen – Interessen gewidmetes Leben sicherte.

 

»Allzu viel stammt bei ihm aus dem Intellekt und dem Willen, statt aus den Tiefen der Natur. Etwas Unvergleichliches hat er aber uns beiden voraus: ein herrliches äußeres Dasein und eine wundervolle Selbstverständlichkeit des Wesens. Er ist schon ein schönes Exemplar Mensch, und wenn ich auch nicht ohne Skepsis gegen seine Zukunft bin, so beglückt mich doch seine Gegenwart.« So urteilte Ende 1921 Siegfried Kracauer, der 14 Jahre ältere Mentor und Freund in einem Brief an Leo Löwenthal über den jungen Adorno. Der erschien fast wie ein Wunderkind und zeigte genialische Züge: in der Schule eine Klasse übersprungen und beim Abitur Primus omnium; gleichzeitig am Hochschen Konservatorium Kompositions- und Klavierunterricht erhaltend und musikalisch hoch begabt; schon früh publizistisch tätig und bis 1933 unter anderem die meisten Opernaufführungen und Konzerte in der Musikstadt Frankfurt besprechend; mit 21 schon Dr. phil.; Freund und Gesprächspartner herausragender Intellektueller wie Kracauer und Walter Benjamin; von Alban Berg, dem erfolgreichsten des Schönberg-Kreises, als ein Komponist eingeschätzt, von dem Großes zu erwarten war; mit Universitätsdozenten wie Max Horkheimer und Friedrich Pollock in engem Kontakt stehend; und die Antrittsvorlesung 1931 über »Die Aktualität der Philosophie« war nicht der Vortrag eines unsicheren jungen Gelehrten, sondern die Performance eines Begeisterten, der das Podium verließ »wie ein gefeierter Solist« (P. v. Haselberg).

Doch man kann keineswegs von einer glatten Karriere sprechen. Auf manchen Wegen stieß er an Grenzen, äußere und innere. Adorno geht 1925 nach Wien zu Alban Berg mit der Vorstellung, Komponist und Pianist zu werden. Aber er findet dort nicht, was er erhoffte: einen Schönberg-Kreis, dem er sich anschließen und als dessen anerkannter Protagonist er fungieren konnte. Er stößt auf Ablehnung gerade bei dem von ihm als Autorität verehrten Arnold Schönberg, der von Adornos teilweise pathetischen Musikkritiken befürchtet, dass sie das Publikum eher von der neuen Musik fern halten als es zu ihr hinführen. Vor allem erlebt Adorno auch die bedrängte materielle Lage dieser Künstler, die alle nicht aus so wohlhabenden Familien kommen wie er. Dann das Scheitern des ersten Habilitationsversuchs in Frankfurt. Später die Fehlschläge beim Versuch, sich in Berlin als Musikkritiker zu etablieren. Das deprimiert trotz der warmen Worte aus Frankfurt. »Mein lieber Bub, weiter Alles gute! Deine Bewerbung ist A I! Aber eine besondere Beruhigung ist es mir, zu wissen, daß Du jetzt die Sache ›sportiv‹ betrachtest ...«, schreibt ihm der Vater im Mai 1929. Und nach dem eher glanzvoll verlaufenden zweiten Habilitationsunternehmen und den ersten Semestern als Privatdozent an der Frankfurter Universität in deren Blütezeit 1933 der abrupte Bruch: der Entzug der Lehrerlaubnis, die Flucht der Freunde, die ohne Verständigung mit ihm erfolgte Emigration des Instituts für Sozialforschung und des Horkheimer-Kreises, dem anzugehören seit längerem sein größter Wunsch war und bei dem er »wie eine Freundin auf Heirat (gedrängt)« hatte. Als er dann 1938, seit kurzem verheiratet mit seiner langjährigen Freundin Gretel Karplus, die ihre Fabrik in Berlin aufgeben musste, in New York endlich formell Mitarbeiter des Horkheimer-Instituts geworden war, kamen von zu Hause die Schreckensnachrichten der Eltern. Im Oktober war der Vater, 68 Jahre alt, verhaftet und vier Wochen festgehalten worden. In der so genannten Kristallnacht wurde das Haus der Eltern mit einem Steinhagel bombardiert, mitten in der Nacht der Vater zum Polizeipräsidium, die 73-jährige Mutter ins Frauengefängnis in der Klappergasse gebracht und tagelang festgehalten. In der wiesengrundschen Weinhandlung wurden die Keller und Büroräume verwüstet und geplündert. Nach ihrer Flucht 1939 über Kuba in die USA kamen Vater und Mutter nie mehr nach Frankfurt zurück.

 

Zurück kam der Sohn, der früher Geflohene, unter günstigeren Umständen Entkommene. »Eines Tages ... betrat ein kleiner, nicht rundlicher, doch, ich möchte sagen überall abgerundeter Herr mein Büro, setzte sich und sprach von den Erfahrungen, die er, ein soeben aus den USA nach Deutschland zurückgekehrter Professor, mit den Studenten der Frankfurter Universität gemacht habe. Während er sprach – und er sprach pausenlos, in vollkommen abgerundeten und gegliederten Sätzen und mit einer Stimme von seltsam zierlicher Schärfe –, blickte er mit Augen, die erfüllt waren von Konzentration und musikalischer Abwesenheit, durch mich hindurch. In der ersten Viertelstunde, in der Theodor Adorno mit mir sprach, ist mir ... klar geworden, daß es mit meinem Ghetto-Programm aus einfachen Texten gegen die Restauration und für ein neues Leben zu Ende gehen mußte. Um dem zu widerstehen, was auf uns zukam, war eine große Konzentration des Hindurchblickens nötig. Auf den wiederaufgebauten Ruinen der Bourgeoisie war kein Enthusiasmus mehr möglich.« Der Rückblick Alfred Anderschs, des Begründers und ersten Leiters des Abendstudios des Hessischen Rundfunks, auf seine erste Begegnung mit Adorno gibt einen intensiven Eindruck von der Wirkung, die Adorno auf kulturkritische Aufklärer in der frühen Bundesrepublik hatte: irritierend und unwiderstehlich, apodiktisch und werbend, elitär und volkspädagogisch zugleich.

Das beeindruckte auch Peter Suhrkamp. Während Gottfried Bermann Fischer es ablehnte, Adornos Minima Moralia zu verlegen, weil er einen »inneren Widerstand gegen ihre Superklugheit« empfand, setzte sein Lektor Suhrkamp sich vehement für das Buch ein. Als er seinen eigenen Verlag gründete, wurde Adorno einer seiner ersten und treuesten Autoren, die Minima Moralia ein überraschend großer Erfolg. Das war der Beginn – so Wolfgang Schopf im Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen Briefwechsel Adornos mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld – einer »in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Wirkung eines aus dem Exil zurückgekehrten Autors und ... zweier Verleger«. Es ist schwer vorstellbar, dass Adornos teils durch den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch abgeschnittene und dem Vergessen preisgegebene, teils im US-Exil zur Flaschenpost beziehungsweise zur Schubladenexistenz verurteilte, teils wegen der Ängste Horkheimers keine Neuauflagen erlebenden Arbeiten ihr Publikum erreicht hätten ohne das Engagement des durch KZ-Haft gesundheitlich schwer geschädigten Peter Suhrkamp.

Bald überstrahlte der Glanz des Buch- und Funkautors, Konferenzteilnehmers und Vortragskünstlers, schließlich auch des Universitätslehrers den Horkheimers. Der außerhalb der Universität anwachsende Glanz weckte aber im Universitätsmilieu bestenfalls gemischte Gefühle. Adorno wurde schließlich – 54-jährig – nicht auf Grund seiner Leistungen und Qualitäten als Lehrender, Forschender und Publizierender zum Ordinarius für Philosophie und Soziologie ernannt, sondern als Wiedergutmachungsfall, der seine Rechte gegen Widerstände aus der Fakultät anmahnen musste und dessen Wiedergutmachungslehrstuhl mit seinem Tod wegfiel. Es ist eine nüchterne Feststellung, frei von Pathos, wenn Jürgen Habermas Adorno einen »Schriftsteller unter Beamten« nannte.

 

Als sich in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre innerhalb kurzer Zeit eine Studenten- und Protestbewegung von überraschender Vehemenz entwickelte, hatte Adorno großes Verständnis dafür, soweit es um bestimmte Universitätsreformen ging. Verständnis hatte er auch für die Motive weiter gehender Hoffnungen und Forderungen. Kein Verständnis aber hatte er für Versuche, solche Forderungen um jeden Preis durchzusetzen. Wenn auch weniger offensiv als Habermas, entzog er sich doch nicht den Auseinandersetzungen mit den Studenten. Beispielsweise beteiligte er sich im September 1968 in Frankfurt am Main an einer Podiumsdiskussion über »Autorität und Revolution«. Zu den Teilnehmern gehörte auch einer seiner begabtesten Schüler: Hans-Jürgen Krahl, der zugleich Hauptrepräsentant des Frankfurter SDS war. Im Publikum saß unter anderem Günter Grass. Der warf Adorno später in einem Brief vor, er habe sich von Krahl in die Defensive drängen lassen und habe auf Suggestivfragen, Unterstellungen, unterschwellige Erpressungsversuche weich und nahezu schuldbewusst reagiert. Adornos Reaktion auf diesen Brief zeigt ihn als lebende Aporie, als jemanden, der vielschichtig empfand und langfristig dachte.

»Ich habe«, schrieb er unter anderem, »seit ich politisch dezidiert denke, versucht, meine Position zu wahren ohne Renegatentum. Die öffentliche Distanzierung von der APO aber würde mich in das Licht des Renegaten setzen, so deutlich auch aus allem, was ich geschrieben habe, hervorgeht, daß ich mit dem bornierten Praktizismus der Kinder, der bereits in abscheulichen Irrationalismus übergeht, nichts zu tun habe. In Wahrheit habe nicht ich meine Position geändert, sondern jene die ihre, oder vielmehr die meine, da sie ja doch unendlich viele Kategorien von mir, besser: von der Frankfurter Schule überhaupt bezogen haben. So war’s nicht gemeint.

Müßten Sie aber, lieber Herr Grass, dieselben Erfahrungen mit den sogenannten Kollegen machen, die ich immer wieder machen muß; widerführe Ihnen, daß das von Ihnen geleitete Institut vom Rektor der eigenen Universität als ›taktische Basis‹ des SDS öffentlich denunziert wird, während gleichzeitig wir alle die größten Schwierigkeiten haben, und uns nach Kräften bemühen, den SDS-Studenten ihre Clichés auszutreiben – dann hätten Sie Nachsicht dafür, daß ich nun auch wiederum nicht mit den Rüeggs e tutti quanti gegen die Studenten mich verbinden möchte, mit denen unsereiner dann immer noch mehr gemein hat, wenn sie einen totschlagen, als mit jenen, wenn sie uns als einen der Ihren an die liebevolle Brust drücken.«

Abschließend formulierte er als Konsequenz für sich noch entschiedener: »Ich selbst sehe meine Aufgabe immer mehr darin, einfach das auszusprechen, was ich zu erkennen glaube, ohne irgendwelche Rücksichten nach irgendeiner Seite. Damit zusammen geht eine steigende Aversion gegen jegliche Art von Praxis, in der mein Naturell und die objektive Aussichtslosigkeit von Praxis in diesem geschichtlichen Augenblick sich zusammenfinden mögen.«

 

Am 6. August 1969 starb Adorno während des Urlaubs im Wallis in der Schweiz. In jenem Sommer war er wohl noch mehr als sonst erholungsbedürftig. Doch unabhängig davon war für ihn klar, dass er trotz Erreichen des Emeritierungsalters weiterlehren würde. Er hatte ja beides: ein Sendungsbewusstsein und wirklich etwas zu sagen. Ich hoffe, die wohlkomponierte Ausstellung trägt dazu bei, beides näher zu bringen: die komplexe Person und das vielfältige Werk, beide geprägt von den Erfahrungen einer Epoche der Extreme, die vielleicht nicht zu Ende ist.

 

Der Text folgt der Rede zur Eröffnung der Ausstellung »Adorno in Frankfurt« in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main am 4. September 2003.

 

Zu Detlev Claussens Buch »Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie«liegen zwei umfangreiche und auch kontroverse Beiträge von Eric Oberle (»Das zwanzigste Jahrhundert als Person«) und Jürgen Meier (»Genie? Gesellschaftstheoretiker!«) vor. Aus Platzgründen können wir die Beiträge nur auf unserer Website veröffentlichen. Siehe: www.oeko-net.de/kommune/

 

© Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe Oktober/November 2003 / 5/03.