Vom Putinismus zum
»Peronismus«?
Beslan ging ans Mark. Viel wurde geschrieben über die
miserable Versorgungs- und Betreuungslage vor Ort, über den desaströsen
militärischen Einsatz, über die verlogene Informationspolitik der Behörden,
über Putins autoritäre Maßnahmen, über seine Einschätzung vom Anschlag als eine
Aktion des internationalen Terrorismus, über die Aussage des obersten Militärs
Jurij Balujewskij, in Zukunft auch Präventivmaßnahmen überall auf der Welt zu
setzen. Bei allen Solidaritätserklärungen der Regierungen an die russische
Regierung, bei allem Mitgefühl für die betroffenen Menschen blieb gegenüber
Russland – sprich: seinem »Potentaten Putin« (Josef Joffe in der Zeit,
9.9.) und seinen militärischen und bürokratischen Apparaten – eine reservierte
bis feindselige Haltung. Putin versuche, wie The Economist am 9.9.
schrieb, »dass ›9/3‹ als Russlands 9/11 gesehen wird«. Putins Maßnahmen zielen
darauf ab, so die Zeitung, »sein Land auf einen Kriegszustand« einzuschwören.
Wofür aber die USA seinerzeit im Westen breite Unterstützung bekamen, ist im
Falle Russlands »unaufrichtig, und kann sogar gefährlich sein«.
Tatsächlich hat Putin in
seiner TV-Ansprache am 4.9. eine Kriegserklärung abgegeben, als er die Größe
Russlands beschwor, von Feinden sprach, die sich von »Russland als eine der
größten Atommächte« bedroht fühlen, Feinde, für die »der Terrorismus nur ein
Instrument darstellt, diese Ziele zu erreichen«, nämlich »diese Bedrohung zu
beseitigen«. In diesem Szenario war der gemeine Akt von Beslan »ein Angriff auf
unser Land«, Teil eines Feldzuges, mit dem der Feind »unsere Gesellschaft
spalten« möchte, bis »Russland ›aufgeteilt‹« wird. »Wir haben es mit einer
direkten Intervention des internationalen Terrors gegen Russland zu tun. Mit
einem totalen, grausamen und umfassenden Krieg ...« Das angekündigte
Maßnahmenbündel solle freilich »in voller Übereinstimmung mit der Verfassung
unseres Landes durchgeführt werden«. Mit keinem Wort wurde in der Ansprache
Tschetschenien erwähnt, nur einmal der Nordkaukasus als Kriegsziel der Feinde.
Menschenrechtler und
Vertreter der namhaftesten Organisationen der Zivilgesellschaft haben
dagegengehalten, dass die Ausarbeitung einer nationalen Antiterror-Politik »in
erster Linie eine breite und offene gesellschaftliche Diskussion und genaue
gesellschaftliche Kontrolle« erfordere. In ihrer »Erklärung von Bürgern und
Vertretern gesellschaftlicher Organisationen« vom 5.9. (http://www.hro.org)
heißt es weiter: »Aber die Reform der Sicherheitsorgane und stärkere
Sicherheitsmaßnahmen reichen nicht aus. Es ist an der Zeit, die Verbindung
zwischen dem Anwachsen des Terrorismus und der Situation in Tschetschenien und
in den benachbarten Gebieten anzuerkennen. Nur wenn die Sicherheitsorgane sich
in Zukunft an Recht und Gesetz halten und diejenigen, wer auch immer sie seien,
zur Verantwortung gezogen werden, die schwerste Verbrechen gegen die
Zivilbevölkerung begangen haben, und nur wenn wirklich und nicht nur zum Schein
die politische und wirtschaftliche Lage in Tschetschenien normalisiert wird,
nur dann wird es möglich sein, die Basis des Terrors zu verkleinern.«
Diese »gesellschaftliche
Diskussion« wird es wohl nicht geben. Schon während der Ereignisse in Beslan
wurde klar, dass die russische Führung Verhandlungen kategorisch ausschließt.
Dass Militär und Dienste ausschließlich auf eine harte Linie setzen, davon war
nicht nur der parteiische tschetschenische Schriftsteller Apti Bisultanow
überzeugt (SZ, 8.9.), auch andere russische Intellektuelle und
Menschenrechtler warfen Putin vor, keine anderen Lösungen zu kennen. Man
wusste offensichtlich schon bald, mit wem man es bei den Geiselnehmern zu tun
hatte. Ein Verhandlungsversuch von Alexander Dzassokow, dem Präsidenten der
Autonomen Republik Nordossetien, wurde von Angehörigen der Geheimpolizei
brachial unterbunden. In einem Interview in Le Monde (11.9.) erklärt er,
er habe Kontakt mit den ehemaligen tschetschenischen Präsidenten Aslan
Maschadow über dessen Londoner Gewährsmann Achmed Zakajew aufnehmen wollen, um
Maschadow in die Verhandlungen mit den Geiselnehmern einzuschalten. Maschadow
hatte eine Erklärung abgegeben, in der er den Terrorakt verurteilte, und
Dzassokow hatte den Eindruck, dass Zakajew helfen wollte. Zu diesem Zeitpunkt
sei schon klar gewesen, dass diese im Auftrag des islamistischen Terroristen
Shamil Bassajew handelten. Denn beim einzigen Vermittlungsversuch durch den
früheren inguschischen Präsidenten Ruslan Autschew, der die Freilassung von 27
Geiseln erwirken konnte, übergaben die Terroristen eine Botschaft, die mit
»Bassajew« unterzeichnet war. Dzassokows Hoffnung war es, als Ossete mit dem
Aufruf eines wichtigen Tschetschenenführers zu den Geiselnehmern zu gehen – das
hätte freilich bei der russischen Führung eine variable Haltung erfordert. Kurz
darauf wurden auf beide Tschetschenen, den gemäßigteren Maschadow und den
extremistischen Bassajew ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt.
Warum hat Putin diese –
zweifellos geringe – Möglichkeit nicht zu nutzen versucht? Wurden hier Kinder
zugunsten einer starren Linie der Härte geopfert? Auge um Auge, Zahn um Zahn –
zeugt nicht die Opferbilanz in Tschetschenien – 35000 bis 100000 zivile Tote – vom völligen Scheitern
dieser »Politik«?
Josef Joffe hat im
Gefolge des Massakers von Beslan mit
der »Verständigungs-Falle« (Zeit, 9.9.) einen Begriff ins Spiel
gebracht, für den er den Bush-Orden verdient. Der Schulterschluss mit Putin
bereitet ihm Unbehagen, immerhin steht ihm Bundeskanzler Schröder dabei zur
Seite. Und: »Die Wahl fällt nicht schwer, wenn sich die Wahl auf ›bin Laden
oder Putin?‹ zuspitzt. Unser Tun müssen wir dabei schärfster moralischer
Prüfung unterwerfen. Doch machen wir uns nichts vor: Der unversöhnliche Hass
des Terrors gilt nicht dem Tun, sondern dem schieren Sein des Westens.« Aber
wozu muss er sich noch »scharf prüfen«, wenn die Wahl so einfach ist? Denn
Joffe macht es wie Putin, er reduziert alles auf das simpelste Grundmuster.
»Wurzeln des Terrors« – da winkt er politisch amnestiert ab, hebt stattdessen den
moralischen Zeigefinger: »Was haben nordossetische Kinder mit dem Unrecht zu
tun, das Tschetschenen erleiden?« Navid Kermani weist in der NZZ vom
11.9. (»Strategie der Eskalation«) auf die Gefahren der großen Vereinfachungen
hin: »Könnte es nicht sein, dass gerade dies der Fehler der Terrorbekämpfung
ist: eine Sprache zu sprechen, die Terroristen verstehen? Womöglich treten die
Koalitionäre [gegen den Terror, B. W.] eben dadurch erst mit den Terroristen in
eine Kommunikation, die neue Antworten geradezu herausfordert.« Kermani weist
darauf hin, dass es kein einziges erfolgreiches Beispiel für die Eindämmung des
Terrors durch immer härtere Gegenmaßnahmen gibt, Tschetschenien inklusive, und
fordert das »Primat der Politik« ein.
Den fordert auch The
Economist, wahrlich keine linke Zeitung. Auch dort wird angemahnt, dass in
Tschetschenien die russischen Streitkräfte »Teil des Problems« sind; dass die
Kriegsökonomie der Russen (Bestechungsgelder, illegaler Verkauf von
Rüstungsgütern an die Rebellen, Korruption, Einkassieren von Aufbaugeldern aus
Moskau usw.) und ihrer Statthalter (genannt wird der Kadyrew-Clan) Teil des
Problems sind. »Doch während des gesamten Konflikts hat Herr Putin sich
geweigert zu verhandeln, um die Tschetschenen zu mäßigen.« Und ironisch wird
der Kremlherr beim Wort genommen: »Außerdem, wenn Herr Putin Tschetschenien ein
›internationales Problem‹ nennt, dann hat er ja Recht – obwohl der Weg, den er
dort eingeschlagen hat, nichts damit zu tun hat.«
Hier gelangt man
gewissermaßen auf den toten Punkt. »Putin will noch mehr Kontrolle« (NZZ,
14.9.), »Putin legt Hand an Russlands Verfassung« (Welt, 14.9.), »Kein
Umbau des Staates ..., sondern ein Ausbau des Systems Putin« (SZ,
15.9.)... Dazu die beunruhigende Äußerung von Lilia Schewtsowa vom Carnegie-Institut
in Moskau: »Der Kreml ist zu konstruktiver Politik nicht fähig. Die Macht ist
aber zu korrupt, um eine echte Diktatur zu errichten. ... Man muss den Kreml
scharf kritisieren. Aber Putins Rücktritt wäre eine Gefahr. Radikale
Nationalisten sitzen schon in den Startlöchern. Putins Dilemma ist, dass er
sich nur auf wenige, korrumpierte Kräfte stützen kann. Alle anderen hat er aus
dem Weg geschafft – Medien, Opposition, Kommunisten, Zivilgesellschaft.
Eigentlich gibt es nur ihn.« (taz, 11.9.)
Im Frühjahr hatte in
einigen russischen
Analysezeitschriften eine Art Liberalismusdebatte stattgefunden.
»Postsowjetischer Liberalismus: Krise oder Bankrott?«, titelte der Vestnik
analitiki 3/04. Eine tiefe Krise wird eingestanden, denn, so der
Akademieprofessor Alexander Kara-Murza, in Russland sei das Projekt des
Liberalismus »nicht einmal im Ansatz verwirklicht worden«. Den »Liberalen«
stünden vielgestaltige »Bolschewiki« gegenüber, darunter jene der herrschenden
Bürokratie, die »Liberalenfresser« seien. So käme es zu einem
»Pseudoliberalismus der Macht«, der autoritär und gegen das Volk gerichtet sei.
Der Politologe Andrej Piontkovskij betont, dass die treibende Kraft der Wende
die »Partei-KGB-Nomenklatura« gewesen sei, die ein Projekt der Umwandlung absoluter
politischer Macht in umfassende wirtschaftliche Macht einzelner
Spitzenvertreter betrieben habe; das sei der soziale Boden des
Wirtschaftsliberalismus, der sich heute im »Triumph der zynischsten,
habgierigsten, sozial verantwortungslosesten Bürokratie« manifestiere. Diese
Gruppierung habe inzwischen wieder massive politische Macht konzentriert und
umfassendes Vermögen erworben. »Die russischen Wirtschaftsliberalen, zu denen
Piontkovskij auch Präsident Putin zählt, seien allein auf die wirtschaftlichen
Freiheiten fixiert und lehnten den politischen Liberalismus mit seinen
Freiheits- und Beteiligungsrechten ab, und das obwohl ... Russland bereits
zweimal in seiner Geschichte an einem Mangel an Freiheit gescheitert sei.« (SWP-Zeitschriftenschau
11, August 04) Auch Mark Urnov, Dekan der politischen Fakultät der Moskauer
Hochschule für Wirtschaft, registriert ein »Liberalismusdefizit« in der
»gelenkten Demokratie«. »Ungeliebt, aber notwendig« sei der Liberalismus,
schreibt er in der Nowaja gazeta (7.6.) und führt Gründe dieser
Nichtliebe an. Etwas hilflos mutet freilich seine Antwort auf die
Klassiker-Frage »Was tun?« an: Aufklärung, gesellschaftliche Debatte mit allen
Kräften. Was aber, wenn die »Bolschewiki« in Gestalt des FSB zuschlagen wie im
Fall von Anna Politkowskaja, die durch einen Giftanschlag von aufklärerischer
Tätigkeit »abgehalten« wurde (The Guardian, 9.9.)? Andrej Rjabow vom
Moskauer Carnegie-Institut analysierte »Die gegenwärtige politische Entwicklung
Russlands. Probleme und Perspektiven« in der Märznummer von Svobodnaja mysl’.
Darin stellt er der neuen Elite ein schlechtes Zeugnis aus: Eine freiheitliche,
marktwirtschaftliche, demokratisch organisierte Gesellschaft läge gar nicht in
ihrem Interesse. Wolle Russland eine Rolle in der Welt spielen, müsse es sich
modernisieren. Notwendig sei eine »sozial-wirtschaftlich-technische Revolution,
die das gesamte Leben der Gesellschaft radikal verändert«, was wiederum das
Engagement breitester Schichten derselben erfordere. Doch die Wirtschaftselite
hat ihre ökonomischen Ressourcen und den politischen Apparat, die neuen
Mittelschichten sind vom Staat und von der Industrie, so wie sie sind,
abhängig, und die Massen hätten genug von Umwälzungen jeder Art. So könne es
sein, dass das Land auf einen »russischen Peronismus« zutreibt.
Welche Perspektiven der
»Wirtschaftsliberalismus« à la Putin betreibt, äußert sich beim Staatskonzern
Gazprom. Mit dem Putin-Vertrauten Alexei Miller an der Spitze wurde vor drei
Jahren ein neues Management installiert, um den lecken Riesen wieder
klarzumachen. Es geht nicht mehr nur um Erdgas, mit neuen Funden in Sibirien
und auf Sachalin will man nun groß ins Erdölgeschäft einsteigen. Dazu wurde
bereits der Ölkonzern Rosneft »geschluckt«, und offensichtlich spekuliert man
jetzt auf einige Gustostücke aus der Versteigerungsmasse des Ölkonzern Yukos (Welt,
15.9., NZZ, 18.9.). Diesen Markt will der Kreml nicht aus der Hand
geben, hier geht es ums große Ganze: Russland ist dabei Saudi-Arabien zu
überholen und der größte Erdölexporteur der Welt zu werden. Vielleicht mit ein
Grund für die »Männerfreundschaft« zwischen Putin und Schröder. Vor dieser
strategischen Frage tritt Tschetschenien in den Hintergrund.