Herbert Hönigsberger

 

Außer Atem

 

Die politische Klasse im Hamsterrad

 

Durchgesetzt hat sich in der Öffentlichkeit das Bild von einer miserablen Politik mit bösen Absichten. Unser Autor hält die Politik eher für überfordert und überlastet. Zwar verkaufe sie noch zusammengestoppelte Notmaßnahmen als große Reformen. In Wirklichkeit seien die Gestaltungsspielräume nationaler Politik durch Internationalisierung und Institutionalisierung im Rahmen eines sich ausbreitenden Weltkapitalismus verringert. Statt mit Problemlösungen habe es die Politik mit Problemverlagerung und -moderation zu tun. Ihr Interventionspotenzial nehme ab, damit aber auch substanzielle Demokratie.

 

Konfuse Demonstrationen, sinkende Wahlbeteiligung, Wahlsieger, mit absoluter Mehrheit und Stimmenverlusten, Ost-West-Animositäten, Verschiebungen im Parteienspektrum, Populismus von links und rechts: Wenn eine gewachsene Demokratie ihre etablierten sozialen Sicherungssysteme unter schwierigen ökonomischen Umständen radikal umbauen muss, ist kaum mit allgemeinem Beifall zu rechnen. Die Agenda 2010 könnte allerdings mehr kosten als nur den üblichen Preis des sozialen Wandels. Möglicherweise bahnt sich ein Drama der politischen Klasse und eine Krise des Politischen an, die über das hinausgeht, was die Bundesrepublik bis dato verkraften konnte. Zwar ist im Agenda-Prozess, den letzten Landtagswahlen und in der jüngsten Haushaltsdebatte des Bundestags auch die gewöhnliche, wenngleich immer wieder gewöhnungsbedürftige Show des politischen Wettbewerbs zu besichtigen. Zwischen Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss wird fintiert und taktiert wie eh und je. Das Spiel mit Konfrontation, Kooperation und Schuldzuweisungen ist durchsichtig. Und die parteiübergreifende und reichlich widersprüchliche »Doppelstrategie« aus mehr Versprechungen und mehr Zumutungen, mehr Sparen und mehr Ausgaben, je nach Publikum und Klientel, erzeugt eher Achselzucken. Populistische Entgleisungen gehören dazu wie Betriebsunfälle. Politische Legitimation allerdings erwächst immer weniger aus den zunehmend unattraktiven Resultaten dieser abgenutzten Praktiken. Die beunruhigenden Probleme der politischen Klasse sind nicht die verworrene Reformkontroverse, mangelhafte Erklärungen von Hartz IV oder handwerkliche Fehler. Das alles kann man der schwierigen Materie zuschreiben. Zur Disposition steht vielmehr die politische Substanz – Status, Leistung und Akzeptanz der Politik und der politischen Akteure. Mit Glaubwürdigkeitsverlust ist die Tendenz ebenso zutreffend wie unzureichend beschrieben. Politik und Öffentlichkeit verfangen sich vielmehr in strukturellen Umbrüchen und Mentalitätsveränderungen, zu denen sie aus ihren jeweils verfestigten Logiken keinen Zugang mehr zu finden scheinen. Das könnte die Funktion von Politik im Kern treffen.

Dabei soll man sich nicht täuschen. Deutschland wird im internationalen Vergleich gut regiert. Die agierende politische Klasse – einige Tausend Minister, Abgeordnete, Staatssekretäre, Parteivorstände und hauptamtliche höhere Funktionäre in Bund und Ländern, dazu zahlreiche prominente Pensionäre – ist formal hoch qualifiziert, fachlich kompetent, erfahren, lernfähig und besser informiert als 90 Prozent der repräsentierten Bürger. Sie hält im Großen und Ganzen die Mitte und kennt den endlichen Inhalt des politischen Instrumentenkastens, der ihre Handlungsoptionen definiert. Konzeptionelle Intelligenz und handwerkliche Kompetenz sind breit gestreut und annähernd gleich verteilt. Wer regiert, kann auf genügend Sachverstand in Ministerien, Wissenschaft und Politikberatung zurückgreifen. Die Vorstellung dagegen, Opposition oder Regierungen wüssten jeweils allein und entschieden besser als die anderen, wie es geht, ist nur eine der vielen Suggestionen des politischen Wettbewerbs. Ist die Politik unter sich, herrscht mehr Übereinstimmung als in den öffentlichen Inszenierungen von Gegnerschaft. In den alltäglichen Entscheidungssituationen dominieren Pragmatismus, Konsensorientierung und die nüchterne Suche nach moderaten Operationen mit mittlerer Reichweite, die tragbare Belastungen und akzeptable Benefits breit streuen. Die Binnenkommunikation ist in aller Regel rationaler, differenzierter, problemorientierter, kompetenter als die öffentliche Resonanz. Meist entspricht die interne Reflexion des politischen Systems auch der Komplexität der Wirklichkeit mehr als die mediale Präsentation. Und in den nichtöffentlichen Parteivorstands-, Fraktions- und Kabinettssitzungen herrscht mehr Nachdenklichkeit, Selbstaufklärung, ja Selbstkritik, als die Talkshowgefechte erahnen lassen.

Zudem wälzt die politische Klasse in Bund und Ländern beträchtliche Teile des Sozialprodukts um und produziert eine gewaltige Menge an Gesetzen und Verordnungen. Doch magert die Substanz des ganzen Outputs seit Jahren ab. Zu einer allseits respektierten, geschweige denn mitreißenden Inszenierung von Reformen scheint die politische Klasse kaum noch in der Lage. Europa, das chancenreichste Projekt, versinkt im Kleingedruckten. Es dominieren Ökonomismus und krude Wachstumsideologen. Die Sozialpolitik steht unter dem Diktat steigender Fallzahlen und abnehmender Finanzmittel. Die Gesellschaftspolitik ist in der Defensive, Wirtschafts- und Finanzpolitik bewegen sich auf dünnem Eis. Dahinter verblasst manch respektable Leistung. Die Sanierung der Sozialsysteme ist zwar eingeleitet, aber längst nicht abgeschlossen. Ihre komplette Neustrukturierung steht noch aus. Ein Ende ist nicht abzusehen. Richtung und Umfang – wenn auch nicht jede Einzelheit – der Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung den Haushalt und die Sozialkassen über die Runden zu retten versucht, erscheinen praktisch alternativlos. Sie sind notwendige Konsequenz wachsender Ausgaben und sinkender Einnahmen in einer schwierigen Konjunktur- und Wachstumsphase, einer schwierigen Positionierung der deutschen Ökonomie in der Weltwirtschaft, einer fortdauernden Belastung durch die Folgen der deutschen Vereinigung sowie demografischer Trends. Für widersprüchliche Details sind unübersichtliche Interessenkonstellationen und die föderale Politikverflechtung verantwortlich. Die meisten Gesetze dieses Notprogramms wurden von einer parteienübergreifenden Sanierungskoalition beschlossen. So oder so ist die politische Klasse im deutschen Föderalismus gesamtschuldnerisch haftbar – für die alten Sozialsysteme, die nicht mehr haltbar sind, genauso wie für den Umbau. Und für intendierte, nichtintendierte und ausbleibende Effekte ihres risikoreichen Großexperiments. Denn auf breiter Front werden vertraute soziale Standards und verfügbare Einkünfte reduziert. Aber der Arbeitsmarkt stagniert so ungerührt wie die Haushaltskonsolidierung. Und die Wachstumsaussichten sind kurzfristig zwar nicht völlig trübe, aber auch nicht glänzend und langfristig völlig ungewiss.

 

Gegenstand und Handlungsraum der Politik haben sich im letzten Jahrzehnt dramatisch verändert. Die Politik hat sich an der ökonomischen und kulturellen Globalisierung abzuarbeiten, an chaotischen multipolaren internationalen Strukturen. Sie sieht sich mit neuen religiösen und ethnischen Konflikten, neuen Formen kriegerischer Auseinandersetzungen konfrontiert. Wachstumsprobleme, Staatsverschuldung, Überstrapazierung sozialer Sicherungssysteme, demographischer Wandel, Brüche im Generationenvertrag, Migration, ökologische Zwänge und Grenzen der Biosphäre, Energie- und Ressourcenverteilung, Wandel fundamentaler sozialer Beziehungen, Pluralisierung von Interessen und Wertvorstellungen et cetera drängen auf die Agenda. Dabei ist die politische Klasse auf ein reduziertes Instrumentenset mit abnehmender Reichweite zurückgeworfen. Die Optionen, die Wahlmöglichkeiten zwischen grundlegend voneinander abweichenden Instrumentenkombinationen, nehmen ab. Die Differenz zwischen Aufgaben und Handlungspotenzialen wächst. Vor allem in der Währungs-, Fiskal- und Budgetpolitik werden die nationalen Handlungsmöglichkeiten durch EU-Vorgaben begrenzt und die verbleibenden Handlungsmöglichkeiten durch transnational operierende wirtschaftliche Großeinheiten eingeschränkt. Kein Programm mehr ohne Elemente zur Optimierung der Rahmenbedingungen einer funktionstüchtigen Ökonomie. Die globale Kapitalmobilität zwingt das Staatshandeln in einen internationalen Standortwettbewerb, eine Konkurrenz von politischen Gestaltungsräumen und gesellschaftlichen Modernisierungskonstellationen, von Rechts-, Steuer- und Bildungssystemen, Infrastruktur, Kultur und Sicherheit et cetera. Daher rührt die wachsende Bedeutung angebotspolitischer Instrumente. Für diese Standortkonkurrenz ist der deutsche Föderalismus nicht konstruiert. Immer weniger ist die Politik in der Lage, durchgreifende Steuerungsleistungen zu erbringen, stellen ihre Ergebnisse zufrieden, wird sie verstanden.

Missverständnisse zwischen Politik und Öffentlichkeit sind an der Tagesordnung. Sie scheinen jedoch zu wachsen. Die politische Klasse ist mit Entscheidungen beauftragt, entsprechend ist sie programmiert. Sie verengt ihre Wahrnehmung deshalb aber zwangsläufig auf entscheidbare Gegenstände, auf rechtsförmige Alternativen im finanziellen Rahmen öffentlicher Haushalte, die in den verfassungsmäßigen Verfahren bearbeitet werden können. Die konsens- und kompromissgeprägte Binnenlogik des Politischen ist jedoch immer weniger verallgemeinerbar, und sie wird öffentlich nur noch bedingt nachvollzogen. Sie bricht sich an den Rationalitäten durchsetzungsfähiger Interessen und den hartnäckigen Reflexen zunehmend belasteter gesellschaftlicher Gruppen. Eine gestresste Öffentlichkeit verknotet zudem ihre Interessen, Vorurteile, Wissenspartikel, Erfahrungen, Hoffnungen zu einem schwer entwirrbaren Knäuel widersprüchlichen gesellschaftlichen Bewusstseins. Dabei neigt sie dazu, komplexe Verhältnisse so lange zu vereinfachen, bis sie sich mit ihren Vorurteilen decken. Das öffentliche Interesse an Verschlichtung und das mediale Interesse an der knappen Form schaukeln sich gegenseitig hoch. Ein Resultat ist das Verlangen nach der einfachen, aber großen Lösung, nach dem Hieb durch den gordischen Knoten. In der Außenkommunikation taumelt die politische Klasse deshalb zwischen Versuchen, die politische Binnenrationalität zu vermitteln und den öffentlichen Bedarf an einfachen Wahrheiten und schlichten Lösungen zu befriedigen.

Dieses Doppelspiel mit Aufklärung und Populismus überfordert die politischen Akteure ebenso wie ihr ohnehin kompliziertes Doppelleben. Pausenlos pendeln sie zwischen öffentlicher Politikinszenierung und interner Politikformulierung, Außendarstellung und Binnenkommunikation, Entscheidungsvermittlung und Entscheidungsfindung, Wahlkampf und Kabinettssitzung. Die mediale Öffentlichkeit verlangt völlig neue Formen der Selbstinszenierung, die Entscheidungsfindung neue Formen des Wissensmanagements und der Beratung. In der Binnenkommunikation wissen Politiker um die quasi naturgesetzliche Gewalt, mit der die selbst erzeugten gesellschaftlichen Verhältnisse über die Urheber kommen, und um den Druck verfestigter Strukturen, die ständig Pläne und Konzepte zerschreddern. In der Außendarstellung hält die politische Klasse am überholten Machergestus, an der umfassenden Problemlösung, der klaren Linie, dem Masterplan, der Politik aus einem Guss und am Primat der Politik fest, weil beträchtliche Teile der Öffentlichkeit diese Erwartung hegen. Damit macht sie sich aber zu Gefangenen von Gestaltungsutopien, die Fehleinschätzungen und beschönigende Annahmen über Natur und Grundstruktur der chaotischen Verhältnisse, in die politisch interveniert wird, geradezu voraussetzen. Erfolgs- und Profilierungsdruck erzwingen in der Außenkommunikation eine systematische Überzeichnung der Leistungsfähigkeit politischer Steuerung, von der große Teile der politischen Klasse intern längst Abschied genommen haben. Sie wissen, was die Empirie der Politikgenese in Deutschland bestätigt. Die politischen Ergebnisse folgen nicht konzeptioneller Vernunft und konsistenter Problembewältigung, obwohl regierende Wahlkämpfer dies behaupten und opponierende es versprechen. Der politische Output ist vielmehr die meist zwiespältige Resultante ökonomischer Imperative der globalen Standortkonkurrenz und widerstreitender Interessen, die in den sich selbst blockierenden Strukturen des Föderalismus klein verhandelt werden.

Das Fluidum, in dem nüchterne politische Akteure zu selbstgerechten Rechthabern mutieren, die auf alles eine Antwort haben, liefert der öffentliche Raum. Getrieben vom medialen Verlangen nach dem Drama von Sieg und Niederlage kreieren sie immer neue Blüten der »Poesie der Macher«. Bei Christiansen und Co. präsentieren sich Politiker, als gäbe es kein Scheitern. Aufgeklärte Skeptiker verwandeln sich schlagartig zu Meistern des Universums, die keinerlei Zweifel beunruhigen. Unter Erfolgsdruck stacheln sich Opposition und Regierende zu immer absurderen Behauptungen eigener Leistungsfähigkeit an, hetzen sich in Gestaltungsillusionen und Ordnungsutopien. Nur im öffentlichen Raum sichten Politiker falsche Analysen, verfehlte Konzepte, handwerkliche Fehler, Verlogenheit und Dummheit ausschließlich beim politischen Gegner. In der medialen Falle neigt Politik zum oppositionellen Katastrophismus ebenso wie zu regierungsamtlicher Beschönigung. Diese Differenz zwischen Außendarstellung und Binnenkommunikation spaltet die politische Klassen in zwei Gruppen, deren Unterschied oft wichtiger ist als der parteipolitische Gegensatz: In die Lautsprecher, die alles versprechen, und die Zyniker, die wissen, dass sie in den internen Verhandlungen davon nichts halten können. Problematischer noch: Diese Differenz generiert gespaltene Persönlichkeiten.

 

Im Widerspruch zwischen öffentlicher Erwartung und realer Fähigkeit der Politik zerbröseln derweil alte Muster der Macherkommunikation. Mit der Agenda 2010 wird versucht, ein Not- und Sanierungsprogramm als Reform auszugeben. Damit wird mit der vertrauten Vorstellung von Reform gebrochen. Politische Projekte, die einer widerstrebenden Ökonomie zwecks Wohlfahrtssteigerung abgerungen wurden, werden nun mit praktisch ausweg- und alternativlosen, mehr oder minder zwanghaften Anpassungsreaktionen an ökonomische Naturgewalten gleichgesetzt. Der Reformmythos wird für eine begrenzte und eher unappetitliche Praxis in Dienst gestellt. Statt ökonomisch determinierte Notstandshandlungen von Reformen zu unterscheiden, wird die Differenz verwischt. Notprogramm und Reformpolitik wurden sachlich und zeitlich in eins gesetzt, anstatt sie zu entzerren. Unerquickliche Maßnahmen lassen sich aber nicht mit demselben Gestus inszenieren wie Reformen, die das Dasein erfreulicher gestalten. So wird aus dem positiv besetzten Begriff der Reform eine Drohung. Und noch ein vertrautes Kernelement der politischen Kommunikation scheint desavouiert. Zum Standardrepertoire jedes Politikers gehört auch, zur Begründung des eigenen Tun eine glänzende Perspektive auszumalen, vielleicht sogar eine Vision. Doch fällt das immer schwerer. Die Suggestion, nach einer Phase von Stagnation oder gar des Rückbaus von »Errungenschaften« warte erneut eine glänzende Zukunft, verfängt nicht. Die Öffentlichkeit hat Erfahrung mit Fehlprognosen und Irrtümern. Halbierung der Arbeitslosenzahlen und stabile Renten, Nulldefizit bis 2006, zu hohe Wachstumsraten und zu hohe Potenziale bei der Senkung der Lohnnebenkosten: Der öffentliche Populismus verarbeitet all dies unter »Versprochen – gebrochen«.

Diese Auflösung grundlegender politischer Kommunikationsmuster ist in vermutlich epochale Umbruchprozesse eingebettet. Jahrzehntelang haben Generationen von Politikern aller Parteien in Übereinstimmung mit leichtgläubigen Bürgern und ihren Verbänden soziale Segnungen und Erwartungen gesteigert. Das Resultat wurde als Beleg für die Leistungsfähigkeit des zur sozialen Marktwirtschaft domestizierten Kapitalismus gefeiert. Dieser Output galt nicht nur als Quelle der Systemlegitimierung im Kalten Krieg gegenüber dem Ostblock, sondern auch als maßgebliche Quelle der Legitimität der politischen Institutionen. Jetzt werden diese Leistungen als Privilegien gegeißelt und die ehedem umworbenen Empfänger als Besitzstandswahrer denunziert, die über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Der ökonomisch erzwungene Rückbau traditioneller Sozialstaatselemente wird in einen mutigen Tabubruch verkehrt und als reformatorische Großtat gefeiert, die seinerzeitigen Erfolge dagegen als seit jeher falsche Politik gegeißelt. Dahinter löst sich eine Vorstellung auf, die im Westen Konsens gestiftet und im Osten Hoffnung geweckt hat. Es sei in einer Gesellschaft kapitalistischen Zuschnitts – nicht in großen Schritten, aber doch stetig, nicht für alle gleich, aber doch auch für die da unten – möglich, sozialen Fortschritt und soziale Gerechtigkeit dauerhaft zu sichern. Nur allzu bereitwillig haben Politik und Gesellschaft gemeinsam diese Hoffnung gehegt. Doch der unaufhaltsame und unumkehrbare Fortschritt – mehr Gerechtigkeit, mehr Chancen, mehr Einkommen, mehr Renten – könnte sich nun als Trugbild erweisen.

In dem Prozess, in dem das Notprogramm Konturen annimmt, wachsen die Zweifel an lang gehegten und von allen Parteien gepflegten Hoffnungen auf die kooperative Leistungsfähigkeit von Politik und Ökonomie unter kapitalistischen Vorzeichen. Die globalen Wachstumsrisiken, die andauernde Arbeitslosigkeit und die Krise der sozialen Sicherungssysteme sind dabei, die Sozialstaatsillusion, den parteienübergreifenden Sozialdemokratismus von Brandt bis Blüm und den spontanen, quasi »natürlichen« Reformismus in uns allen zu blamieren. Und der Bürger ist nicht nur mit der Regierung und der SPD unzufrieden, er rächt sich an den Regenten für seine eigenen Illusionen und Irrtümer. Die eigene Leichtgläubigkeit wird der Politik und zuallererst der Regierung als Betrug angelastet. Die Regenten regieren in ohnehin schwierigen Zeiten gegen eine sich transformierende Massenpsychologie an. Der Systemglaube zerfällt. Diese Desillusionierung schmerzt und macht zornig. Der Desillusionierungsschmerz ist allgegenwärtig. Viele Bürger der ehemaligen DDR plagt er doppelt. Sie haben sich an die DDR zu opportunistisch gewöhnt und auf den Westen zu euphorisch gehofft.

Der Klassenkompromiss im großen Stil, der korporatistische Sozialstaat und der hoch-regulierte Kapitalismus – das waren der politische Überbau und die ökonomische Basis des Kalten Kriegs. Der Sozialstaat wurde in Deutschland zuerst einem moralisch diskreditierten und anschließend in der Systemkonkurrenz gefesselten Kapitalismus abgerungen. Er wurde von einer Wiederaufbaugemeinschaft nach einer politisch-militärischen Katastrophe und an der Front des Kalten Krieges geschaffen. Dieses Ergebnis einer Jahrzehnte währenden Sondersituation mit historisch einmaligen Bedingungen für gesellschaftlichen Konsens und soziale Kohäsion zerbröselt jetzt. Die sozialdemokratische Erfolgsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg könnte – anstatt die pessimistischen marxschen Krisenprognosen auf immer und unumstößlich zu widerlegen – nur eine lange Schonzeit im Glashaus des Kalten Krieges gewesen sein. Sein Ende ist mit einer beunruhigenden Entdeckung verbunden: Der Kapitalismus, der lange als gebändigt galt, kehrt wieder. Jetzt weicht der äußere Druck der Systemkonkurrenz, die Ruhe an der inneren Front und innergesellschaftliches Appeasement erzwang. Der Sieg im Kalten Krieg setzt die systemischen Destruktionskräfte wieder frei. Dem regulierten Kapitalismus der Systemkonkurrenz, vom hochstilisierten Gegner allein gelassen, ist ein Stabilisierungsmotiv abhanden gekommen. Damit hat die Stärke der Politik im Kalten Krieg, die sie auch gegen die Ökonomie ausgespielt hat, ihren Urgrund verloren. Der allgemeine, parteienübergreifende Sozialdemokratismus nebst seiner Tradition des Antikommunismus war die politische Leit- und Integrationsideologie des Kalten Krieges. Er wird jetzt obsolet. Nach der Ordnung des Kalten Krieges lösen sich auch die Mentalitäten auf, die er produziert hat.

Von all den gesellschaftlichen Umbrüchen weiß die politische Klasse qua Funktion einiges und ahnt noch mehr. Der Verlust an Einfluss und Ansehen, dieses rastlose Dahindümpeln und atemlose Auf-der-Stelle-Treten, das ruhelose Zappen zwischen politischer und öffentlicher Logik, die Unvereinbarkeit von öffentlicher Erwartung und eigener Einsicht haben Spuren hinterlassen. Ihre persönliche Verfassung oszilliert zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifel. In unverfänglichen Momenten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit bekennen Politiker reale Ohnmacht und erlebte Ohnmachtsgefühle, zeigen sie sich zutiefst beunruhigt vom undurchschaubaren Chaos der Verhältnisse. In stillen Stunden wittert die politische Klasse selbst, nicht der souveräne Akteur zu sein, zu dem sie sich stilisiert, sondern von einer hegemonialen Ökonomie dominiert und von aggressiven Medien inszeniert zu werden. Fällt die Last der Allzuständigkeit ab, weichen auch die Allmachtsphantasien. Dann macht die zur Schau getragene Selbstgewissheit einer bescheidenen Selbsteinschätzung Platz, treten hinter der Selbstüberschätzung die Selbstzweifel zu Tage, schimmert Angst vor der eigenen Überflüssigkeit durch. Dann fließen Alkohol und Tränen.

 

Angesichts der fortschreitenden und immer schnelleren Veränderung der ökonomischen Basis unserer Gesellschaften sind Reformprozesse nie am Ende. Es ist vielmehr eine permanente Aufgabe, zu überprüfen, ob die Überbausysteme der Politik noch mit den radikalen, schnellen Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaften Schritt halten können.« Für die Einsichtsfähigkeit der politischen Klasse erscheint sogar nützlich, dass einzelne Akteure früher Jungsozialisten waren – wie das Zitat von Gerhard Schröder aus der Haushaltsdebatte des Bundestages belegt. Auf die Lernkurve, in die der Kanzler seine Klassengenossen hineinmanövrieren will, wird jedoch auch die Öffentlichkeit einschwenken müssen. Denn um die Rückkoppelung, in die sich irreale öffentliche Erwartungen und irreale politische Versprechungen gegenseitig hochschrauben, zu trennen, ist ein gemeinsames Bremsmanöver erforderlich. Eine Generalkarte für den Weg aus der Gestaltungsfalle und den Dilemmata politischer Binnenlogik und Außenkommunikation gibt es nicht. Aber einzelne Etappen lassen sich auf dem Bremsweg schon markieren: Den Gestaltungswahn kommunikativ abrüsten, medialen Pressionen widerstehen, die Binnenrationalität durch Wissensmanagement steigern, Popularisierung von Rationalität statt Populismus. Ob politische Klasse und Öffentlichkeit diesen Abrüstungsprozess hinbekommen, ist offen. Denn selbst die Politiker, die ihren Machtverlust längst zur Kenntnis genommen haben, tun sich schwer, ihn öffentlich produktiv zu wenden, wenn der mediale Reflex ungewiss ist. Und ob die kritische Masse der aufgeklärten Öffentlichkeit groß genug ist, diesen Reflex zu erzeugen, bleibt genauso unsicher.

Doch zeichnet sich in der Transformation der Leitideologie des Kalten Krieges und bei der Suche nach einem Äquivalent für die Ära des globalen Kapitalismus eine gemeinsame Arbeitshypothese ab. Realistischer als das Gegenteil ist, für das soziopolitische Großexperiment Demokratie und Kapitalismus wenigstens von dreierlei auszugehen: Gesellschaft ist grundsätzlich nicht steuerbar, die Verhältnisse sind chaotisch und die Ökonomie ist dem Gemeinwohl weder verpflichtet noch verpflichtbar. Politik bewegt sich dann nicht von Problemlösung zu Problemlösung in eine immer bessere Zukunft, sondern rotiert zwischen Problemverlagerung und Problemmoderation, was, wenn es gut geht, gesellschaftliche Kohäsion sicherstellen kann. Diese minimalistische – nicht antikapitalistische, sondern reserviert-vorsichtige – Arbeitshypothese für kapitalistische Umstände erlaubt einen skeptischen und realistischen, gleichwohl ambitionierten Pragmatismus. Der erspart der Politik weder permanente Aktion – zu tun ist genug – noch die schwierige Suche nach einer tragfähigen Ordnung, die reinen Gewissens als halbwegs gut und gerecht gelten kann. Aber er blendet weder sich noch andere mit falschen Erwartungen. Und er ist ein Gegenpol zum wieder aufgelegten politisierenden Antikapitalismus. Der übertrumpft die Heilsgewissheit der praktizierenden Politiker noch um einiges. Und sieht bei der politischen Klasse nur Verrat, Betrug, Dummheit und bösen Willen am Werk anstatt problematische strukturelle und systemische Konfigurationen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges und in der Globalisierung verändert sich das Verhältnis von Politik und Ökonomie. Eine Antwort der Politik auf den globalen Kapitalismus ist der Versuch, Schwächen nationalstaatlicher Steuerung durch Staatenverbünde und internationale Institutionen zu kompensieren. Dieser Trend stärkt die Exekutiven zu Lasten der Parlamente. Die Selbstbehauptung der Politik gegenüber der globalen Ökonomie könnte also die Entmachtung der Kerninstitutionen der Demokratie, denen der Souverän der Verfassungstexte noch am nächsten kommt, weiter vorantreiben. Die Politik schreibt damit auch den Klassiker fort, wie es wohl Demokratie und Kapitalismus miteinander halten. Mittlerweile scheint der internationale Kapitalismus die nationalstaatlich organisierte Demokratie vor allem deswegen gut tolerieren zu können, weil ihr Interventionspotenzial abnimmt. Umgekehrt scheint es genau aus diesem Grunde erheblich fragwürdiger, ob die Demokratie den Kapitalismus aushält und substanzielle Demokratie unter der Hegemonie eines globalen Kapitalismus haltbar ist. Doch eines ist gewiss: Keine Demokratie ohne Demokraten, weder ohne demokratische Citoyens noch ohne demokratische politische Klasse. Für die Demokratie sind leistungsfähige Politiker und funktionstüchtige politische Institutionen so wichtig wie eine an Demokratie interessierte Bürgergesellschaft.