Gerd Koenen
Mythen des 20. Jahrhunderts
Über das
je Neue und Andere in Antisemitismus und Antizionismus
Die gegenwärtige Debatte über eine globalisierte Ausbreitung des
Antisemitismus kreist im Wesentlichen um das Wiederauftauchen eines
altbekannten ideologischen Unwesens, eines »Dämons«, wie Josef Joffe schrieb,
der sich nur in trügerische neue Gewänder kleide und seine Hauptträger und
Hauptverbreitungsgebiete gewechselt habe. Was aber, wenn es sich – viel
schlimmer womöglich – um genuine Neuschöpfungen totalitärer Ideologien und
Doktrinen handelt, die von unterschiedlichen nationalen und kulturellen
Voraussetzungen her auf die radikale Veränderung der Weltsituation seit 1989
reagieren, und die den Rahmen dessen, was sinnvollerweise unter »Antisemitismus«
gefasst werden kann, längst sprengen?
Vom Antisemitismus zum Antizionismus
In diesem
– hier kurz referierten – Teil meines Beitrags* versuche ich zu zeigen, dass
der moderne »Antisemitismus«, der sich in verschiedenen europäischen Ländern unter
Berufung auf angeblich anthropologisch feststellbare Rassencharaktere und
»Blutsbande« vom überkommenen christlichen Antijudaismus absetzte, selbst eine
ideologische Neuschöpfung war, die auf bestimmte Entwicklungen der
industriellen Moderne reagierte.
Das gilt auf neuer Stufe für den
Nationalsozialismus, der am Ausgang des 1. Weltkriegs ein bis dahin undenkbares,
totalitäres Projekt formulierte: nämlich durch die gewaltsame Reinigung,
Stählung und Arrondierung des gegebenen Sozialkörpers und Territoriums eine
neue, festere Basis für den abgebrochenen Kampf um die Weltmacht zu gewinnen.
Die eliminatorische Verschärfung des Antisemitismus ist in all ihrer
Wahnhaftigkeit nur als ein funktioneller Teil dieses größeren Projekts zu verstehen.
Auch der sowjetische Antizionismus
lässt sich weder als eine bloße verkappte Rückkehr des alten russischen
Antisemitismus verstehen noch als eine Art Infektion durch den
Nationalsozialismus, sondern entstand seinerseits als integrierendes Element
des totalitären stalinistischen Projekts. Der Stalinismus hatte sich von Beginn
an in intimer Auseinandersetzung mit dem Trotzkismus entwickelt, der (in
nüchtern soziologischem Sinn) tatsächlich Züge eines »jüdischen Bolschewismus«
trug. In der Phase des »Kalten Krieges« ab 1947/48 entwickelte sich daraus das
ungleich weiter greifende Ideologem eines globalen Gegensatzes zwischen dem
»sozialistischen Lager« und einem kapitalistisch-kosmopolitischen Gegenlager.
»Zionismus« wurde zur Chiffre für das Ungreifbare der subversiven Wirkungen der
dynamischen Wirtschaftsformen und hedonistischen Lebensstile der westlichen
Welt überhaupt.
Vor allem in der Breschnew-Ära
wurde der »Zionismus« sogar als die eigentliche, schwarze Seele des Weltimperialismus
identifiziert und zu einer Weltmacht eigener Art erhoben. Die Schwäche dieser
monströsen Konstruktionen lag darin, dass sie ein Element des immer
lebensfremderen sowjetischen Ideologiekanons blieben. Juden galten zwar
potenziell als Agenten des Feindes, wie Angehörige ehemaliger »feindlicher
Nationalitäten« auch (Tschetschenen, Krimtataren, Wolgadeutsche usw.), und
unterlagen daher vielerlei Diskriminierungen. Von einer spezifischen
Judenverfolgung in der UdSSR kann jedoch nicht die Rede sein.
Mit der
von Gorbatschow, Jakowlew und Schewardnadse eingeleiteten Politik der
Perestrojka, einem zivilen »Umbau« des Imperiums und einem friedlichen Interessenausgleich
mit dem Westen, verschwand das ganze aufgeblähte Konstrukt des sowjetischen
Antizionismus beinahe über Nacht in der Mottenkiste – und gab den Weg frei für
eine Entwicklung, in der es (wie nach der Revolution 1917/18) viele Juden in
einem großen Exodus hinaus in die Welt trieb, aber viele in einer lange aufgestauten
Sozialdynamik auch bis weit hinauf in die Spitzenpositionen der nachsowjetischen
Wirtschaft, Gesellschaft und Politik des neuen Russland. Auf dem Gegenpol
bediente sich freilich auch ein Gutteil der politisch und ideologisch
entbundenen Kräfte – im Gewand einer chauvinistisch-antisemitischen Rechten
oder einer national-bolschewistischen Linken – mit frenetischem Eifer aus der
riesigen Rüstkammer des sowjetischen Antizionismus wie der des alten russischen
oder europäischen Antisemitismus.
Überhaupt bedeutete der
historische Kollaps der Sowjetunion nicht, dass ihre tragenden Ideologeme nicht
von anderen Kräften unter anderen historischen Umständen und in neuen
Formulierungen aufgegriffen und weiterentwickelt worden wären. Eine nähere
Untersuchung würde womöglich ergeben, dass die sowjetische Globalpolitik der
Sechziger- und Siebzigerjahre und die dazu gehörige, in allen Weltsprachen
verbreitete Propaganda als der große Totalisator gewirkt hat, über den sich die
Themen eines antiimperialistisch und antikapitalistisch erweiterten
Antizionismus im Ideologiekanon vieler nationaler Befreiungsbewegungen und
sozialistischer Staatsparteien der Dritten Welt festgesetzt haben, besonders im
arabischen Raum, wo es im Nasserismus, Baathismus und so weiter entsprechende
Ideologeme bereits gab. Etwas Ähnliches gilt für Teile der Neuen Linken des
Westens nach 1968.
Bei solchen Ideologietransfers in
andere Länder und Kulturen handelt es sich allerdings weniger um bloße Prozesse
einer Übertragung oder Ansteckung als vielmehr um Akte der Aneignung und
Anverwandlung, die sich aus den jeweils eigenen, autochthonen Motiven und
Interessen der Akteure speisen – die daher auch das eigentliche Feld der Untersuchung
und Diagnose sein müssen. Mit bloßen Zitatenreihen (so beklemmend sie sich
lesen mögen) ist wenig gesagt und gewonnen; erst im lebendigen Kontext
jeweiliger Bewegungen, Gesellschaften und Kulturen werden diese Formeln und
Ideen relevant – oder bleiben sie irrelevant. Überhaupt sind die Metamorphosen
und Verwandlungsformen durchweg interessanter und belangvoller als das bloße
Recycling der bekannten Stereotype – bis hin zu der eingangs aufgeworfenen
Frage, ob Judenhass und Antisemitismus das Wesen dieser neuen totalitären
Ideologiebildungen noch angemessen beschreiben oder vollständig erklären
können.
»Felix Culpa«: die westdeutsche Linke
Das lässt
sich am Wiederauftauchen eines virulenten linken Antizionismus in der
Bundesrepublik Deutschland der späten Sechziger- und Siebzigerjahre besonders
deutlich exemplifizieren. Zunächst hatte die Opposition einer Neuen Linken sich
ja gerade am »restaurativen« Geist der Adenauer-Ära entzündet, die als eine
Zeit der massiven Verdrängungen der NS-Verbrechen galt, in der nur
oberflächlich angepasste »alte Nazis« auf wichtigen Gebieten die Szene
beherrschten.
Ganz ähnlich und doch ganz anders
aus sowjetischer Perspektive: Da war die Errichtung der »Bonner
Spalterrepublik«, ihre Wiederaufrüstung und Eingliederung in die NATO, sowie
die besondere Beziehung, die sie im Zeichen der »Wiedergutmachung« mit dem
zionistischen Israel pflegte, Ausfluss ein und derselben imperialistisch-revanchistischen
Politik. … Tatsächlich erkannte die Regierung Adenauer unter allen
Massenverbrechen des »Dritten Reiches« ausschließlich im Fall des Judenmords
eine gewisse Haftungspflicht an, der sie in den Verhandlungen mit Israel nach
versicherungsrechtlichen und bündnispolitischen Gesichtspunkten Folge leistete
– während alle weiteren Fragen einer moralisch-politischen Haftung für die
deutschen Verbrechen auf den killing fields des europäischen Ostens dahinter
verschwinden konnten.
In einem polemischen Essay unter
dem Titel »Unser Auschwitz«, mit dem das Kursbuch 1965 seine Karriere
als das intellektuelle Leitorgan einer entstehenden neuen Linken eröffnete, hat
kein anderer als Martin Walser recht plastisch beschrieben, wie in der
offiziellen und publizistischen Begleitung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses
die Vorführung der Täter als »Bestien in Menschengestalt« gerade dazu diente,
das Ereignis aus der gutbürgerlichen Gesellschaft der Bundesrepublik und jeder
kollektiven Verantwortung hinaus zu eskamotieren. Walsers Aufsatz forderte
(scheinbar unnachgiebig und eindeutig) eine Internalisierung dieser
historischen Schuld: Da Auschwitz als »großdeutsche Sache« auf »Volk und Staat«
zurückverweise, »gehört jeder zu irgendeinem Teil zu der Ursache von
Auschwitz«, und es wäre »eines jeden Sache, diesen Anteil aufzufinden«.
Schaut man näher hin, war Walsers
Plädoyer schon weniger eindeutig: Denn der »Anteil« der vielen aus dem Volk
sollte vor allem in der Duldung und Unterstützung der eigentlichen »politischen
und wirtschaftlichen Verursacher« bestanden haben, die die Linksintellektuellen
der Bundesrepublik jetzt wieder »die herrschende Klasse« zu nennen begannen.
Walsers Formel »Unser Auschwitz« konnte insofern auch als Losung oder Appell
verstanden werden, sich dieses Themas von links her zu bemächtigen, um es (wenn
man so will, ganz im Sinne seiner zweideutigen Friedenspreis-Anklagerede von
1998) »politisch zu instrumentalisieren«.
Wie das ging, hatte der Kursbuch-Herausgeber
Hans Magnus Enzensberger kurz zuvor in seinen »Reflexionen vor einem
Glaskasten« vorgeführt, die er unter dem Eindruck des Tel Aviver
Eichmann-Prozesses von 1961 und vor dem Hintergrund der Weltkonflikte um Berlin
und Kuba verfasst hatte. Auschwitz, schrieb Enzensberger, sei »ein Ereignis,
das die Wurzeln aller bisherigen Politik offen gelegt hat«: dass staatliche
Macht noch stets auf Verbrechen gegründet sei. Zum Inbegriff des Gewaltmonopols
in seiner aktuellsten Gestalt aber sei »die Verfügungsgewalt über das nukleare
Gerät geworden«, die Atomwaffen also. »Dieses Gerät aber ist die Gegenwart und
die Zukunft von Auschwitz.« Wer den Genozid von gestern verurteilen oder
»bewältigen« wolle, der dürfe zur Planung des »Genozid von morgen« nicht schweigen.
Hannah Arendt, auf deren viel
zitierte Formel von der »Banalität des Bösen« sich Enzensberger dabei bezogen
hatte, verwahrte sich in einer Replik im Merkur heftig gegen diese
Gleichsetzung eines hypothetischen atomaren »Megatods« mit der höchst realen
»Endlösung der Judenfrage«. In einem Brief an den Herausgeber Hans Paeschke
spitzte sie ihre Kritik noch weiter zu. Sie hätte, schrieb sie, Enzensberger
sagen müssen: »Ich habe Ihnen ja nicht vorgeworfen, dass Sie leugnen, dass die
Deutschen an Auschwitz schuld sind, sondern dass Sie sich dafür noch eine Feder
an den Hut stecken.« Um mit spitzer Intuition hinzuzufügen: »Oh, Felix Culpa!«
Damit war prägnant angedeutet,
worum es sich handelte: um eine damals erstmals zu Tage getretene Tendenz unter
den jüngeren, linken, antifaschistischen Deutschen, sich »Auschwitz« als eines
eigenen, negativen Mythos zu bemächtigen. Zunächst war das ein Mittel der
radikalen Distanzierung und emotionalen Abnabelung von der Kriegs- und
Elterngeneration, der »Generation von Auschwitz«, wie es bald hieß, die einem
das alles eingebrockt hatte, derentwegen man sich überall rechtfertigen musste.
In die authentischen Gefühle von Scham und Schande mischten sich freilich bald
steile Selbststilisierungen und schwüle Selbstfaszinationen. Gerade die
prononcierte und pauschale Anerkennung der deutschen Schuld vermochte die
»Nachgeborenen« nämlich, wie sie bald herausfanden, in den Stand einer
militanten Unschuld und moralischen Superiorität zu versetzen, der mit
»Masochismus«, wie ein geläufiges Missverständnis es will, rein gar nichts zu tun
hatte und hat.
Als die Faschisten der Gegenwart
aber entdeckten die neuen deutschen Linken im Widerschein des Kriegs in Vietnam
die Weltenherrscher in Washington, die über das »nukleare Gerät« verfügten und
gerade dabei waren, ein neues, globales Auschwitz zu veranstalten – wenn ihnen
nicht eine Revolution der unterdrückten, um ihre Befreiung kämpfenden Völker
der Welt, unterstützt von den jugendlichen Revolutionären der Metropolenländer,
in den Arm fiel.
Wo inmitten aller »politischen
Bewusstwerdung« so viel unbewusste Motive im Spiel waren wie gerade in der
bundesdeutschen Neuen Linken, musste der triumphale Sieg der »israelischen
Blitzkrieger« im Sechstagekrieg von 1967 zu einer abrupten Entidealisierung des
bis dahin freundlich oder sogar schwärmerisch betrachteten Landes der ursozialistischen
Kibbuzzim führen. Zumal diejenigen, die den Siegern am lautesten applaudierten
und die Unterstützung Israels zur bundesdeutschen Staatsraison erklärten,
dieselben waren, die (wie die Springer-Blätter) die Berliner Studenten und
Demonstranten des 2. Juni 1967 als »rote SA« oder als »nützliche Idioten
Moskaus« denunzierten.
In diesem sich wie im Selbstlauf
aufheizenden intellektuellen Klima einer »Außerparlamentarischen Opposition«,
die sich mit immer omnipotenterem Gestus als Teil einer Front der
Weltrevolution stilisierte, fand die sowjetische These dankbare Aufnahme,
wonach die israelischen Zionisten dabei seien, mit den Wiedergutmachungsmillionen
der »alten Nazis« aus Bonn unter der Schirmherrschaft des US-Imperialismus den
Nahen Osten und seine Ölquellen neu zu kolonisieren. Das Neuartige – und für
junge Deutsche besonders Attraktive – am sowjetischen Antizionismus war eben
die Lösung vom ethnischen oder religiösen Substrat des Judentums. Besser noch:
Diesem globalisierten »Zionismus« konnten nun alle Eigenschaften der
diskreditierten faschistischen Rechten der Weltkriegsepoche wie Nationalismus,
Militarismus, Rassismus und so weiter zugeschrieben werden.
Die jungen Führer der Fatah, und
erst recht die der linksradikalen Gruppen in der PLO, wussten diese
Vorstellungen sehr gut zu bedienen. Abu Ijad, der zweite Mann hinter Arafat,
erklärte 1969: »Wenn wir als Ziel unseres Kampfes das Zusammenleben von Juden
und Palästinensern in einem fortschrittlichen Palästina – nach der Zerschlagung
des Zionismus – erklären, dann bedeutet das, dass wir auf der Seite eines jeden
verfolgten und unterdrückten Juden stehen, dass wir bereit sind, ihm ein Gewehr
in die Hand zu geben und gemeinsam mit ihm zu kämpfen.« Natürlich waren solche
Erklärungen das Papier kaum wert, auf dem sie gedruckt waren. Aber sie sprachen
das mächtige Motiv der ersten europäischen Nachkriegs-Generation an, und gerade
der neugetauften deutschen Linken, sich aus dem Schatten der Katastrophengeschichte
ihrer Eltern zu lösen und als Teil einer weltweiten »Befreiungsbewegung« sich
neu zu erfinden.
So spielte das Zitat Abu Ijads
eine Schlüsselrolle in einer unter anderem vom »Palästina-Komitee« des
Frankfurter SDS gezeichneten Erklärung vom November 1969, kurz vor der Reise
einer Delegation zur PLO-Solidaritätskonferenz nach Algier, der auch der junge
Joschka Fischer angehörte. Diese Erklärung befasste sich mit dem Bombenattentat
auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin am 9. November 1969, das die Teilnehmer
einer Gedenkveranstaltung zur »Reichskristallnacht« hätte zerfetzen sollen (der
Zeitzünder funktionierte allerdings nicht). Der Anschlag aus dem Umfeld der
»Umherschweifenden Haschrebellen« alias »Tupamaros Westberlin« sollte die erste
und bewusst schockierende Tat einer »deutschen Guerilla« werden, die, wie es im
begleitenden Flugblatt unter der höhnischen Überschrift »Schalom und Napalm«
hieß, den »hilflosen Antifaschismus« der studentischen Protestbewegung
überwinden sollte. Denn um wirklich zum Revolutionär zu werden, kam es darauf
an, wie der Ex-Kommunarde Dieter Kunzelmann in einem offenen »Brief aus Amman«
(aus einem palästinensischen Ausbildungslager) an die Genossen daheim schrieb,
endlich die »Vorherrschaft des Judenkomplexes« in der Linken zu brechen.
Falsch, antworteten die
Unterzeichner vom Frankfurter Palästina-Komitee. Anschläge auf jüdische Einrichtungen
dienten nur den Herrschenden, die »die durch die Barbarei des Faschismus
erzeugten Schuldgefühle ... in der BRD in einen positiven Rassismus in Gestalt
des Philosemitismus« ummünzen wollten, um zu kaschieren, dass das verbündete
»Israel selber ein rassistischer Staat« und ein Werkzeug des globalen
Imperialismus sei. Sollten die Berliner Attentäter allerdings der
»Klassenjustiz« in die Hände fallen, werde man sie trotz ihrer »politischen
Fehler« verteidigen. Wohlgemerkt: Zu den Verfassern dieser von heute aus
skandalösen Erklärung gehörten Aktivisten wie Daniel Cohn-Bendit, Ronny Loewy,
Detlev Claussen und andere – was nur zeigt, dass der virulente Antizionismus
dieser Jahre keineswegs nur im lunatic fringe, sondern im Zentrum der
68er-Bewegung verankert war, so wie der Antiamerikanismus auch.
Die Motive dieses Antizionismus
und Antiamerikanismus waren psychologisch komplex und oftmals paradox – und
konnten bei französischen Aktivisten, auch jüdischer Herkunft, denen ihrer
deutschen oder italienischen Generationsgenossen durchaus ähneln. Weder die
einen noch die andern, schrieb Pascal Bruckner im Rückblick auf seine eigenen
68er-Aventüren, »konnten es den USA verzeihen, dass sie uns vom
nationalsozialistischen oder faschistischen Joch befreit hatten«.
Auch die Parteinahme für die
Palästinenser als »Opfer der Opfer« war vor allem ein Beweis, dass man sich von
den Festlegungen durch die Geschichte der Elterngeneration befreit hatte und
sich, wie die Palästinenser auch, nicht mehr »zum Juden machen« lassen würde.
So wie es Bernward Vesper, der Sohn des deutsch-völkischen Dichters Will Vesper
und erste Lebensgefährte Gudrun Ensslins, seinem jüdisch-amerikanischen
Trip-Gefährten Burton auftrumpfend erklärte: »Unter Hitler wart … Ihr die
Schweine. Euch gibt es nicht mehr. Aber wir werden uns vorbereiten. Wir werden
uns nicht abschlachten lassen, Sir!«
Nicht zufällig war es gerade die »Pasionaria« eines moralischen Antifaschismus
der Sechzigerjahre, Ulrike Meinhof, die sich im Herbst 1972 als RAF-Gefangene
in ihrer Köln-Ossendorfer Haftzelle einem staatlichen Vernichtungswillen
ausgesetzt wähnte, dessen »politischer Begriff das Gas« sei; und die genau
dort, in ihrer metaphorischen Gaskammer also, ein monströses Pamphlet
verfasste, worin sie die Geiselnahme der israelischen Sportler im Olympischen
Dorf in München durch ein Kommando des »Schwarzen September« (tatsächlich der
Al Fatah von Arafat und Abu Ijad) als eine vorbildliche antifaschistische,
antiimperialistische und internationalistische Aktion schlechthin rühmte.
Kein Zufall natürlich auch, dass
gerade die deutschen terroristischen Gruppen der Siebziger- und Achtzigerjahre
sich in eine fast symbiotische Beziehung mit den extremsten Fraktionen der
palästinensischen Kampfgruppen begaben, wie außer ihnen nur die Japanische Rote
Armee; während sich in den Stammheimer Prozesserklärungen der inhaftierten
RAF-Kader inmitten ihres forcierten Internationalismus seltsame Untertöne
vernehmen ließen, wonach auch die Bundesdeutschen als »Kolonisierte« durch den
siegreichen US-Imperialismus ihrer »Identität« beraubt worden seien und zu
Recht an die Seite der »Verdammten dieser Erde« gehörten.
Narzisstische Bindung an Auschwitz
Ob es bei
alledem aber um die »Wiederkehr des Verdrängten«, des alten deutschen
Nationalismus und Antisemitismus, in neuem linkem Gewand ging – eines alten
»Dämons« also –, scheint mir mehr als fraglich. Eher handelte es sich um den gewaltsamen
Versuch, sich von etwas allzu Präsentem, Belastendem und Kränkendem zu
befreien. Das ließe sich zur Not unter die Formel eines »Antisemitismus wegen
Auschwitz« fassen. Aber man muss schon genauer hinschauen. Denn tatsächlich
haben die radikalen linken »Antizionisten« der 68er-Generation seither
diametral entgegengesetzte Wege eingeschlagen.
Von einem »Antisemitismus wegen
Auschwitz« kann man zweifellos und buchstäblich bei einigen Ideologen einer
Neuen Rechten sprechen, die fast alle aus dem Nest der Neuen Linken geschlüpft
sind. Der letzte, krasseste und prominenteste Fall ist der ehemalige APO-Anwalt
und RAF-Aktivist Horst Mahler, der sich vor wenigen Jahren erst, scheinbar über
Nacht, zu einem intellektuellen Neonazi sans phrase gewandelt hat. Die
ersten Bekehrungs- und Bekenntnistexte aus dem Jahr 1998, mit denen er seine
Konversion einleitete, drehten sich in obsessiver Weise um die Zeit, als »die
Deutschen die Juden als Volk« und damit (man höre) »den besseren Teil von sich
in den Konzentrationslagern und in den Gaskammern der Vernichtungslager
umbrachten«.
Doch da – Hegel zufolge – noch im
grauenhaftesten geschichtlichen Geschehen eine Vernunft waltet, die nur die
Gottes sein kann, so ist es uns nachgeborenen Deutschen aufgegeben, den
tieferen Sinn dieser Prüfung zu verstehen. Dieser kann nur darin liegen, dass
wir nun selbst »unsere Geschichte auf höherem Niveau, im Höllenschein des Holocaust,
neu deuten« und wieder »den aufrechten Gang erlernen« – was voraussetzt, dass
wir uns der »Instrumentalisierung des Holocaust« durch die Sieger, die auf
unsere endgültige Vernichtung durch eine »ewige moralische Schuldknechtschaft«
abzielen, endlich entziehen und den Kampf um die Errichtung eines vierten und
letzten Geist-Reichs der Deutschen aufnehmen ... Und so weiter, und so fort.
Der Mann ist übergeschnappt, keine
Frage, als wollte er Nietzsches Satz bestätigen: »Wenn du lange in einen
Abgrund hineinschaust, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« Nur dass viele
von Mahlers (mittlerweile weit gewalttätigeren) Tiraden sich wie ein
scheußliches Vexierbild der salbungsvollen Sinnsprüche ausnehmen, die die
heutige hegemoniale Kulturlinke aus genau denselben biografischen Quellen und Erfahrungen
geschöpft hat. Denn »Unser Auschwitz« ist längst eine zutiefst deutsche
Angelegenheit geworden, die sich mit der jüdischen Erinnerung und Verarbeitung
aufs Eigentümlichste und Problematischste kreuzt und kombiniert.
Von einem feigen »Verdrängen« kann
seit Jahrzehnten keine Rede mehr sein – eher von einem vitalen
Sich-Bemächtigen. Kein anderer als Martin Walser hat das nach seiner »zitternd
vor Kühnheit« vorgetragenen Friedenspreis-Rede von 1998 in einem Streitgespräch
mit Ignaz Bubis auf frappante Art bestätigt, als es ihm entfuhr: Er (Walser)
sei »in diesem Feld« (Auschwitz) schon »beschäftigt« gewesen, als er (Bubis)
sich »noch mit ganz anderen Dingen« befasst habe – mit profanem Business
nämlich. Damit war schlagend ausgedrückt, dass Auschwitz dem, der sich »damit
beschäftigt« hat, in einem tieferen Sinne gehörte als dem, der es nur überlebt
hat.
Aber dabei bleibt die
eigentümliche narzisstische Bindung der Deutschen an Auschwitz, ihr obsessiver
Wunsch, die eigene Geschichte, die eine stete Quelle der Kränkung des eigenen
Selbstbildes ist, »zu bewältigen«, längst nicht mehr stehen. Joschka Fischer,
der antizionistische Algerienfahrer von 1969, hat in seiner Rolle als Vizekanzler,
Außenminister und populärer Repräsentant aller deutschen Selbstläuterungen die
Position von Jürgen Habermas ex officio mehrfach bekräftigt, wonach die
Bundesrepublik Deutschland eine »in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische
Verfassungsprinzipien … erst nach – und durch – Auschwitz« habe herstellen
können. Bundespräsident Rau erklärte 1999 auf einer Tagung, die Frage, »was
deutsch ist«, könne gar nicht mehr beantwortet werden »ohne die Biografie von
Menschen wie Marcel Reich-Ranicki zu kennen«.
Das war, zumal in Anwesenheit des
polnischen Staatspräsidenten, eine weit ausgreifende Einvernahme, gegen die der
Betroffene selbst sich immer wieder verwahrt hat – vergeblich. Denn indem wir
Deutschen von heute bereitwillig anerkennen, dass die jüdischen Opfer von
damals ihrem »portativen Vaterland«, der deutschen Literatur und Kultur, tiefer
die Treue bewahrt haben als unsere Tätereltern, die es schändlich verraten
haben, indem wir uns also mit den Opfern von einst ganz identifizieren und auf
ihre Seite stellen, gehören auch wir zu ihnen, sind wir ebenfalls »Überlebende«
– und zugleich Wiedergeborene, reborn Germans, »nicht-jüdische
Deutsche«, was ja nur ein ergänzender Begriff ist zu den »jüdischen Deutschen«,
in denen wir die eigentlichen Deutschen anerkennen.
Auschwitz und die ausgelöschte
jüdische Geschichte stünde damit nicht nur im Zentrum des von Habermas
vorgeschlagenen »Verfassungspatriotismus«; sondern »Auschwitz« soll der
Bundesrepublik Deutschland auch noch als nachträglich einverleibter
Gründungsmythos dienen – nicht anders als Israel. Mehr noch: Auschwitz wäre in
den Rang eines Heilsgeschehens gerückt. Es fände eine neue Sinnstiftung der
deutschen Geschichte statt. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt das Berliner Holocaust-Denkmal
allerdings eine ganz eigene Pointe.
Nach jüngsten Umfragen sind die
heute lebenden Bundesbürger überzeugt, dass 26 Prozent ihrer Eltern und
Angehörigen Verfolgten geholfen haben und 13 Prozent sogar im Widerstand aktiv
waren. Nur 2 Prozent sollen aktive Anhänger des Nationalsozialismus gewesen
sein und weitere 4 Prozent sollen ihm »eher positiv« gegenübergestanden haben.
Antisemiten seien aber nur 3 Prozent gewesen. Man kann diese Resultate, wie es
die Initiatoren dieser Studie(1) getan haben, als Ausdruck einer tiefen
Diskrepanz »zwischen offiziellem und inoffiziellem Gedenken« oder zwischen der
»gefühlten Geschichte« und der »autoritativen Erzählung über die Vernichtung
der Juden« sehen (so Harald Welzer). Aber könnte man nicht genauso gut darin
eine gespenstische Anpassungsleistung sehen, einen neurotisch rekonstruierten
»Familienroman«, mittels dessen die Deutschen sich selbst neu erfinden?
Tatsächlich ist »Vergangenheit bewältigen«
zur deutschen Lebensform geworden. Die Debatten oder Skandale, die sich fast
alljährlich an Revisionen oder Verschärfungen des gültigen Geschichtsbildes
entzünden oder an intellektuellen Fehlleistungen und Provokationen, die (»vor
Kühnheit zitternd«) selbst Teil des Spiels sind – als da waren:
Fassbinder-Affäre, Bitburg-Feiern, Historiker-Streit, Jenninger-Rede, Syberbergs
Weihespiele, Strauß’sche Bocksgesänge, Goldhagen-Debatte, Wehrmachts-Ausstellung,
Holocaust-Mahnmal, Walser-Friedenspreisrede, »Tod eines Kritikers«,
Hohmann-Lamento (um nur einige der abrufbaren Kürzel zu nennen) –, sie alle
lassen sich, mit Peter Sloterdijk, auch als »Rituale der Labilität«
beschreiben, in denen die bundesdeutsche Gesellschaft »das stärkste Wir-Gefühl
erreicht«.
Ernst und Schrecken der einen Welt
Worauf
geht diese fragmentarische Skizze hinaus? Zunächst darauf, dass es sich beim
deutschvölkischen Antisemitismus und beim Hitlerschen Nationalsozialismus, beim
stalinistischen und beim post-stalinistischen Antizionismus wie beim Antizionismus
der westlichen Neuen Linken, trotz aller Parallelen und gegenseitigen Anleihen,
jeweils um etwas Anderes und Neues handelte. Nicht die ideologischen Formeln
als solche, die man natürlich immer wieder zu einer erschreckenden und
suggestiven »Kontinuität« zusammenstellen kann, sind entscheidend, sondern die
lebendigen Motivationen derer, die sie sich in bestimmten historischen
Situationen in unterschiedlichen Ländern und kulturellen Kontexten zu Eigen
machen – oder sie auch beiseite werfen.
Dass notorische Antisemiten für
alle Erfahrungen und Belehrungen unerreichbar sind, mag stimmen. Dennoch können
Bewegungen, die sich derartiger ideologischer Topoi bedienen, mal tiefer
greifen und mal oberflächlicher bleiben. Jedenfalls vertritt das Gros der
früheren »antizionistischen« Neuen Linken der westlichen Länder heute völlig
andere, oft diametral entgegengesetzte Positionen – so wie ein Gutteil der
sowjetischen Parteiideologen es nach dem Kollaps ihres Imperiums auch getan hat
oder wie viele iranische Gotteskrieger der ersten Stunde es als Reformpolitiker
inzwischen tun.
Unbestreitbar und unübersehbar
gibt es so etwas wie ein »ewiges« Ressentiment gegen die Daseinsweise der Juden
als Weltvolk, jedenfalls im historischen Umfeld der europäischen und
mediterranen Kulturen, und dieses Ressentiment kann sich von allen realen
Konflikten lösen, zu paranoiden Verschwörungsszenarien verdichten und zu
mörderischen Hassausbrüchen steigern. Diese Wahnideen (nennen wir sie pauschal
Antisemitismus) waren und sind in vielen totalitären Ideologien und Bewegungen
des vergangenen Jahrhunderts und der Gegenwart offen oder latent präsent – aber
sie bilden nicht notwendigerweise stets auch den Kern und das Zentrum.
Auch die historischen Wandlungen
der ohnehin völlig gegensätzlichen Rollen, die Juden in den verschiedenen
Ländern und Kulturen gespielt haben und spielen, können kaum folgenlos bleiben.
Jüdische Revolutionäre als charakteristischer Phänotypus der europäischen
Weltkriegsepoche wird man zum Beispiel kaum noch finden (außer in ein paar
randständigen trotzkistischen Sekten). Aber auch die transitorisch bedeutende
Rolle jüdischer Finanziers, Industrieller oder Medien-Tycoons ist in den
Schlüsselländern der modernen industriellen Welt heute in eine globalisierte
kapitalistische Weltökonomie eingeschmolzen, so wie die Rolle der USA und des
Dollars als Motor und Medium der Integration des Weltmarkts es früher oder
später ebenfalls sein werden. Die aufsteigenden Länder Asiens und anderer,
kürzlich noch als »Dritte Welt« abgeschriebener Weltregionen befinden sich in
ganz eigenen, stürmisch-krisenhaften Entwicklungsprozessen. Soweit sie sich an
der Politik und Stellung der USA als der letzten verbliebenen Weltmacht reiben,
bewegen sie sich in ideologischen Traditionen, die denen des europäischen
Antisemitismus durchaus gleichen können – aber seiner weder früher bedurften
noch gegenwärtig bedürfen.
So haben Avishai Margalit und Ian
Buruma in ihrem mit Blick auf die Attentäter des 11. September 2001 verfassten
Essay Occidentalism (Atlantic Books, 2004) die Bemühungen und Texte noch
einmal in Erinnerung gebracht, mit denen die Vordenker einer japanischen
Weltpolitik nach Pearl Harbour 1941 eine umfassende Antithese zur liberalen und
westlichen Zivilisation Amerikas im Namen Asiens zu formulieren versuchten; und
sie haben die totalitären Ideologeme dieses japanisch-asiatischen
Fundamentalismus in eine Reihe mit den parallelen, freilich politisch völlig
anders gepolten Welt- und Gesellschaftsvorstellungen gestellt, wie sie ein Mao
Tse-tung zur selben Zeit im antijapanischen Feldlager in Jenan entwickelte;
Ideen, die eine noch extremere Anverwandlung durch eine Gruppe von Studenten
aus Kambodscha Anfang der Fünfzigerjahre in Paris erfuhren, aus denen später
die »Roten Khmer« hervorgingen.
Aber auch die stalinistische und
die nachstalinistische Sowjetunion mit ihren antizionistischen und
antikosmopolitischen Ideologemen passen in dieses erweiterte Bild, so wie der
deutsche Nationalsozialismus oder der italienische Faschismus in ihrer Epoche.
Der gemeinsame ideologische Nenner war in allen diesen Fällen, aber auf jeweils
verschiedene Weise, eine fundamentale Rivalität und Feindschaft gegen die
liberale, demokratische, plurale, urbane, kommerzielle, technische,
rationalistische, »feministische« (usw.) Kultur der in zwei Weltkriegen
siegreichen Länder des Westens – eine Feindschaft, die Margalit und Buruma in
Replik auf Edward Saids »Orientalismus«-These als »Okzidentalismus« bezeichnen,
der natürlich ein Anti-Okzidentalismus ist.
Diese Feindschaft hatte und hat
ihre emotionalen Wurzeln in den aggressiven Ängsten und Widerständen, die der
unaufhaltsam sich Bahn brechende Prozess einer integrierten und globalisierten
Weltzivilisation zwangsläufig weckt – und keineswegs nur wegen seiner sozialen
und kulturellen Schattenseiten. Hannah Arendt hatte eine Ahnung dessen, als sie
im zweiten Band ihrer Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft,
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, den bestürzenden Satz schrieb: Dass die
liberal-humanistischen Menschheitsvorstellungen »niemals den Ernst und den
Schrecken erfasst (haben), die der Idee der Menschheit und dem
jüdisch-christlichen Glauben an einen einheitlichen Ursprung des
Menschengeschlechts zukommen, sobald nun wirklich alle Völker auf engstem Raum
mit allen anderen konfrontiert sind«.
Eben diese Konfrontation aller mit
allen, die sich als immer engere Interdependenz der Weltwirtschaft, der
Weltpolitik, der Weltmedien und der Weltkulturen beschreiben lässt, ist heute,
nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Teilungen des kurzen 20. Jahrhunderts und
nach der Auflösung der »Dritten Welt«, zur Tatsache geworden. Und der »engste
Raum« ist dieser Blaue Planet, auf dem es keine weißen Flecken, keine Rückzugs-
oder Expansionsgebiete mehr gibt. Von dem »Ernst und Schrecken«, der sich mit
dieser Vorstellung und Realität der »einen Welt« verbindet, lässt sich meines
Erachtens eine weit plausiblere Verbindung zu den apokalyptischen Weltbildern
eines Osama bin Laden und seiner Zeloten herstellen als von den historischen
Einflüssen und Zitaten des überkommenen europäischen Antisemitismus.
Die herostratische Tat des 11.
September 2001 und die mörderischen Anschläge und Massaker seither (von Bali
bis Djerba, von Istanbul bis Nadschaf, von Casablanca bis Madrid) lassen sich
in ihrer globalen Stoßrichtung und zugrunde liegenden Motivation nicht als
wesentlich oder primär antisemitisch verbuchen, so deutlich ein Judenhass in
all seinen historischen Ausprägungen mit im Spiel ist. Das bedeutet keine
Beschwichtigung oder Bagatellisierung, ganz im Gegenteil: Mit den Türmen des
World Trade Center sollte das kosmopolitische Völker-Babylon New York getroffen
werden, die »große Hure« aus der Sicht der Attentäter, und damit die gesamte,
längst nicht mehr nur »christlich-jüdische« oder »westliche« Kultur, sondern
die gesamte, sich unaufhaltsam pluralisierende, säkularisierende und
demokratisierende, medial vernetzende und ökonomisch getriebene globale
Zivilisation, die mit ihrem schamlosen Materialismus und Hedonismus alles durchdringt
und befleckt – und gerade auch das Intimste: die menschliche Sexualität mit
ihrem Urbild, dem weiblichen Körper.
Das ist das Element, das der
moderne Islamismus allen früheren totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts
hinzufügt und das vielleicht am ernstesten zu nehmen ist, weil es am tiefsten
sitzt: ein von aggressiver Angst getriebener sexueller Hass, der sich nicht nur
aus der unterminierten Herrschaft des Mannes über die Frau und die Familie
speist, sondern auch aus der kommerziellen und habituellen Profanierung des
Geschlechts und des Körpers in der Werbung, der Kunst oder dem Sport, die
vielleicht die letzte »Entzauberung« der Welt darstellt – mehr noch als die
Entzifferung des menschlichen Genoms, die Hirnforschung oder die
Reproduktionstechnologien.
Damit überschreitet der moderne
Islamismus, zumal in der globalstrategischen Variante des »Emirs« Bin Laden,
noch einmal alle hergebrachten Kategorien einer totalitären Ideologie und
Bewegung. Eine triumphale Proklamation wie »Ihr liebt das Leben, wir lieben den
Tod« hat keine noch so extreme politische Gruppierung bisher formuliert. Es
handelt sich um den völlig desperaten und aussichtslosen, aber gerade darum so
mörderisch-todessüchtigen Versuch, aus der Welt, in der wir leben, eine gesonderte
»islamische Welt«, die es nur als Fiktion gibt, in einem Meer von Blut und
Tränen wieder herauszubomben.
Dieses irrwitzige Unternehmen in
die (gewissermaßen vertraute) Figur eines primär antisemitischen
»Islamo-Faschismus« zu bannen, nährt dagegen die illusionäre Vorstellung, man
könne solche transnationalen Terrornetze und fanatisierten Jugendszenen in
einem regulären Krieg so »wie Hitler« besiegen und eliminieren – eine
Vorstellung, die die in vorderster Linie Angegriffenen, die USA und Israel,
jeden Tag tiefer in den nahöstlichen Sumpf hineinzieht und die dem
strategischen Kalkül, das mit den Angriffen des 11. September 2001
offensichtlich verbunden war, auf verhängnisvolle Weise entgegenkommt.
1
Harald Welzer, Sabine Moller,
Karoline Tschuggnal: Opa war kein Nazi, Frankfurt am Main: Fischer
Verlag 2002.
* Bei diesem Beitrag handelt
es sich um einen gekürzten, in der Einleitung vom Autor zusammengefassten und
im weiteren Text überarbeiteten Essay, der Ende Oktober in folgendem Band der
edition suhrkamp (2386) erscheint: »Neuer Antisemitismus? Eine globale
Debatte«, herausgegeben von Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider.
Er enthält Beiträge von Ulrich Beck, Ian Buruma, Judith Butler, Dan Diner,
Alain Finkielkraut, Daniel Jonah Goldhagen, Thomas Haury, Tony Judt, Andrei
Markovits, Michael Walzer, Moshe Zimmermann und andere.