Ernst Köhler

Verständigungsschwierigkeiten

Kleine Zwischenbilanz der Kosovofrage

 

Zwiespältig werden von den verschiedenen Seiten die Märzunruhen verarbeitet. Die Lage im Protektorat wirkt weiterhin angespannt, gekennzeichnet von politischer Ungewissheit, ökonomischer Pauperisierung und vielfältigen Ängsten auf beiden Seiten, in das Motto gefasst: »Eine Freiheit ohne Zukunft ist keine Freiheit.« Doch zeichnen sich im Verhältnis der Volksgruppen, so unser Autor, der im Kosovo etliche Gespräche führte, auch Chancen ab. Mehr und mehr wirft sich jedoch die Frage auf, ob nicht der Status des Kosovo und die Zivilverwaltung der UN zum Problem werden.

 

Nicht einmal über den Charakter der Unruhen im März dieses Jahres scheint man sich so recht einigen zu können. Es war der geplante, wohl organisierte Schlag eines bedenkenlosen albanischen Extremismus, der auf einen »ethnisch gesäuberten«, rein albanischen Nationalstaat im Kosovo hinarbeitet – wenn nicht gar auf ein Großalbanien. So im Prinzip die Sicht der »Internationalen«, mit denen wir sprechen. Es war eine soziale Explosion, die niemand geplant hat oder auch nur hätte vorbereiten können – die elementare Entladung der lang aufgestauten Unzufriedenheit der albanischen Gesellschaft mit der gesamten Situation im Protektorat: Massenverarmung, politischer Schwebezustand, Angst vor der Rückkehr des serbischen Staates. So die Version der meisten unserer albanischen Gesprächspartner.

Beide Seiten sind im Gespräch sehr wohl bereit zu differenzieren – aber die beiden auseinander driftenden Tendenzen der Deutung halten sich oder reproduzieren sich bei jeder Gelegenheit: Die Tendenz zur »politischen Inszenierung« steht unverwüstlich gegen die Tendenz zum »spontanen Protest«. Es ist keine Frage der Fakten – es ist kaum ernsthaft zu leugnen, dass der Gewaltsausbruch nicht nur ein Gesicht hatte. Jeder Interessierte kennt etwa den sorgfältigen, ausgewogenen Bericht der International Crisis Group (Collapse in Kosovo, April 22, 2004, Pristina/Belgrade/Brussels), der für den ersten Tag der Ausschreitungen (17. März) den Akzent auf den eruptiven, ungesteuerten Massenzorn legt, für den zweiten dann aber auf die Instrumentalisierung der bereits beträchtlich geschrumpften Masse durch Gewaltunternehmer, Rassisten oder auch Kriminelle. Mit diesem Untersuchungsergebnis konfrontiert, neigen unsere internationalen Gewährsleute dazu, die infamen Angriffe gegen die Schwachen und Wehrlosen für das eigentlich Wesentliche zu erklären und möglichst bereits auf den ersten Tag vorzuziehen – albanische Interpreten der Ereignisse zeigen hingegen nicht selten eine wenig überzeugende Bereitschaft, die offenkundige Verantwortung des Mobs irgendwelchen »dunklen« oder »von außen« stammenden Kräften zuzuschieben.

Was hier in Wahrheit aufeinander stößt, scheinen zwei Legitimierungsansätze zu sein: hier das nach dem Schock vom März stark verunsicherte Verantwortungsbewusstsein der UN-Mission – wobei freilich unklar bleibt, ob es in erster Linie wirklich der Lage, den Rechten der Minderheiten im Kosovo gilt oder doch eher der Stabilität der weiteren Region, vor allem Makedoniens; dort die unabweisbare, schlagende Erfahrung mit der anhaltenden Unfähigkeit der Mission, dem Land eine Perspektive zu geben.

 

Einschätzungen der März-Ereignisse

Die wechselseitige Entfremdung geht bereits tief. Rexhep Ismajli, ein führender Albanologe, Präsident der Akademie der Wissenschaften und Künste in Prishtina, bezeichnet im Gespräch die März-Ereignisse als »unvermeidlich«. Sie wären in jedem anderen Land unter vergleichbaren Belastungen oder Zumutungen ebenfalls zu erwarten gewesen. Ein Land im freien Fall der Pauperisierung, das künstlich in einem Zustand der ökonomischen Isolierung und Stagnation gehalten wird; eine Gesellschaft, die zur Hälfte aus Menschen unter 25 Jahren besteht – mit einer Arbeitslosigkeit von 70 Prozent oder mehr; eine alte Region mit historischer Identität, die gewaltsam in einem Status quo der Statuslosigkeit festgehalten wird – das Kosovo musste einfach explodieren. So will es das Gesetz der Conditio humana.

Bei den Diplomaten des Deutschen Verbindungsbüros ruft diese Optik nur Befremden und Bestürzung hervor. Man beeilt sich, gegen diesen wohl als bizarr oder frivol empfundenen Universalismus das Spezifische, will heißen: das Unreife, das Defizitäre, der hiesigen politischen Kultur ins Feld zu führen. Oder umgekehrt: In einem aktuellen Papier der Unmik (EU-Pillar) findet sich der Gedanke, der Aufruhr könne nur geplant gewesen sein – die albanische Gesellschaft sei so rigide strukturiert und organisiert, dass niemals 50000 Menschen einfach nur von sich aus auf die Straße gegangen wären.

Diese etwas handgestrickt wirkende Sorte von Ethnologie in politischen Diensten dürfte kein Mensch hier ernst nehmen können. Ausnahmslos alle unsere albanischen Gesprächspartner zeichnen in der einen oder anderen Weise eine Gesellschaft im Umbruch, besser: eine Gesellschaft, die schon eine ganze Reihe oder Kette von Umbrüchen hinter sich hat. Man denke nur an die Erfahrungen des Sozialismus, der massenhaften Arbeitsemigration, der totalitären Unterdrückung und des Widerstandes in den Neunzigerjahren, der Flucht in den Westen, der oft genug unfreiwilligen Rückkehr durch und durch verwestlichter junger Männer und Frauen in die alte Heimat. Welche Macht die Patriarchen dieser Gesellschaft heutzutage noch haben, steht dahin.

Selbst zu ausgewachsenen Verschwörungstheorien greift man in seiner Irritation. Ein leitender deutscher Polizeibeamter sagt uns, dass die Unruhen im Frühjahr zeitlich sehr exakt angesetzt worden seien – nämlich weit genug von den Wahlen im Oktober weg, um diese nicht mehr stören zu können. Denn die Wahlen sollten nach dem Willen der politischen Chefs im Hintergrund ungestört verlaufen. Auf diese Einschätzung habe man sich bei der deutschen Polizeitruppe intern verständigt.

Aber ein offizielles Dokument gibt es glücklicherweise doch, das eine politische Mitverantwortung von Unmik und KFOR, von Kontaktgruppe und UN-Sicherheitsrat für die Gewalt im März einräumt. Es handelt sich um den Bericht des norwegischen Sondergesandten Kai Eide an den Generalsekretär der Vereinten Nationen vom 15. Juli 2004. Das Papier scheint im Kosovo als vertraulich zu gelten. Es wird sogar ein wenig geheimniskrämerisch behandelt, aber natürlich hat es jeder, der es haben will. Dort heißt es etwa: »Lack of intelligence may well have prevented us from detecting and reacting to the activities of extremists. However, the real problem goes much further; the international community failed to read the mood of the majority population, its frustrations and impatience.« Oder an anderer Stelle: »However, anti-Serb sentiments do not appear to represent a broadly shared attitude. For example, in meetings with Kosovo Albanian students, inter-ethnic relations were barely mentioned. At the center of their worries were the miserable employment prospects. One of them formulated the main concern with the following words: ›you gave us freedom, but not a future‹.«

Es ist die letztere Formulierung, die Mahmut Bakalli, in den frühen Siebzigerjahren der führende kommunistische Politiker im Kosovo – heute Berater von Politikern wie etwa Ramush Haradinaj, im Gespräch zitiert und abwandelt: »Eine Freiheit ohne Zukunft ist keine Freiheit.« Er sei aber doch »optimistischer« als bei unserem letzten Zusammentreffen vor zwei Jahren. Man spüre, dass erstmals seit Jahren Bewegung in die Kosovofrage gekommen sei. Auch in den albanischen Medien werden die ersten Stellungnahmen des neuen Unmik-Chefs Sören Jessen-Petersen hoffnungsvoll aufgenommen. Dabei sagt er nicht allzu viel – aber er sagt immerhin, dass auch die Statusfrage angegangen werden müsse. Die allgemeine Erleichterung über diese zarte Spur von politischer Öffnung lässt tief blicken.

 

Fragen zum Charakter und zur Zukunft des Protektorats

Die Blockade kommt von ganz oben. Die Haltung der Veto-Mächte China und Russland im Sicherheitsrat dürfte sich kaum so schnell ändern. Die intellektuelle und politische Elite der Kosovo-Albaner gibt sich darüber keinerlei Illusion hin. Um das ominöse Wort zu benutzen – die Hoffnung für das Kosovo liegt für sie in einem »Alleingang« der EU und der USA, wie schon im Kosovokrieg von 1999. Aber dazu müsste bei uns ein ernstliches Umdenken einsetzen – es lässt sich vielleicht in drei Punkten umreißen: Man müsste sich in unseren Staaten zunächst einmal Rechenschaft geben über die Raison d’Être oder die Legitimation des UN-Protektorats im Kosovo – diese versteht sich nämlich keineswegs von selbst. Man müsste sich zweitens darüber klar werden, wann und wie man Serbien den irreversiblen Verlust des Kosovo beibringen will – eine Frage der Außenpolitik – mit Verlaub, nicht der Diplomatie, die besondere Rücksichtsnahme des Westens auf das Serbien nach Milosevic hat sich nämlich als eine Sackgasse erwiesen. Schließlich müsste man versuchen, das verspielte Vertrauen der albanischen Nation im Kosovo zurückzugewinnen – der Versuch der Besatzungsmacht, die Erfahrung des bewaffneten Widerstands gegen das Milosevic-Regime im Nachhinein zu diskreditieren, gewissermaßen erinnerungspolitisch zu marginalisieren, kommt einer Geschichtsklitterung gleich und hat das politische Klima im Land nachhaltig vergiftet.

Welchen Sinn oder welche Berechtigung hätte ein Protektorat, das aus einer militärischen Intervention zum Schutze der albanischen Zivilbevölkerung gegen den Terrorismus des eigenen Staates hervorgegangen ist, sich dann aber merkwürdigerweise auf die Kontrolle, Beaufsichtigung, Entwicklung der albanischen Gesellschaft selbst geworfen hat? Man wird auf die Rechtlosigkeit nach dem Verschwinden der serbischen Truppen und Repressionsorgane hinweisen – auf die unabdingbare Notwendigkeit, den in überstürztem Tempo zurückflutenden Massen der albanischen Vertriebenen Schranken zu setzen, zum Schutz der jetzt schwer bedrohten Serben und anderen Minderheiten. Aber was ist mit der Zeit nach 2001, als es schließlich gelungen war, die Situation zu stabilisieren und die Rate der Übergriffe und Gewaltverbrechen zu senken auf das Niveau einer Stadt wie Stockholm? Warum ist die Unmik nicht bereits damals aufgelöst oder doch ihrer Kommandogewalt entkleidet worden? Warum ist sie nicht aufgelöst worden, als mit der erneuten Zunahme der Gewaltakte gegen Angehörige von Minderheiten seit 2003 deutlich wurde, dass die Zivilverwaltung der UN inzwischen selbst zu einem destabilisierenden Faktor degeneriert war? Irgendwann war da auf einmal, wie aus dem Nichts, ein überehrgeiziges, um nicht zu sagen: uferloses Projekt von »nation-building« – abstrakt, unvermittelt, ohne echten Bezug zu der ursprünglichen Aufgabe, die blutige Auflösung Jugoslawiens möglichst friedlich zu Ende zu bringen. Wo läge denn, jedenfalls was die jeweilige staatliche oder institutionelle Tradition angeht, der Unterschied zwischen der »Autonomen Provinz« Kosovo und den alten Teilrepubliken wie Kroatien, Slowenien und so weiter?

So argumentiert denn auch Premierminister Bajram Rexhepi, als wir ihn nach der Reife seines Landes für die staatliche Unabhängigkeit fragen. Man trifft im Kosovo immer wieder auf westliche Experten, vor allem auf Juristen, die sich allen Ernstes in einem »Entwicklungsland« dünken – in einer Art postkolonialer Situation, in einer vormodernen Gesellschaft mit teilweise archaischen Strukturen, in einer sozialen Welt mit überstarken verwandtschaftlichen Netzwerken, ohne eigentlichen Staat oder auch nur Gemeinsinn. Es scheint fast so, als habe sich da im Kosovo die imaginäre Welt der Entwicklungssoziologie von gestern oder vorgestern eingenistet. Wer darin webt und lebt, kann leicht auf den Gedanken verfallen, die Aufgabe sei riesig, unabsehbar und nur in Generationen zu bewältigen.

Diese Kunstwelt in Frage zu stellen, muss nicht bedeuten, die realen Funktionsmechanismen der albanischen Gesellschaft und Politik zu beschönigen. Es heißt aber, dieser Gesellschaft ihre Reform, ihre Modernisierung und Demokratisierung selbst zu überlassen. Und sich auf Unterstützung und Beratung zurückzunehmen – auch und gerade in den Kernbereichen der polizeilichen Verbrechensbekämpfung und der Rechtsprechung. Die Staatengemeinschaft muss das Kosovo auch in diesen für eine menschenwürdige Ordnung entscheidenden Funktionen loslassen. Das Risiko muss sie eingehen. Wie sollte anders das unverzichtbare Verantwortungsbewusstsein ausgebildet und eingeübt werden? Verantwortung verkümmert oder erstickt unter einem Regime der Bevormundung und Fremdbestimmung – unvermeidlich. In langen, eingehenden Gesprächen entwickelt uns der junge Verwaltungschef des Gemeindegerichts von Malisevo (nordwestlich von Prizren) diese Logik. »Wenn ein Serbe zurückkehren will, müssen ihn unsere Institutionen verteidigen. Es kann nicht dem Nachbarn überlassen werden, darüber zu entscheiden.«

Es ist ja das unlösbare Dilemma dieses Typs von Protektorat, dass es die Demokratisierung einer Gesellschaft mit diktatorischen Mitteln erzwingen will. Am Fall Bosnien-Herzegovina ist diese heillose Antinomie bereits wiederholt aufgewiesen worden. Am Fall Kosovo bezeichnenderweise nicht – wenn auch Marek Novicki, der Ombudsman im Kosovo, in seinem letzten Bericht vom Juli 2004 mit Schärfe auf den Widerspruch hinweist: »This reporting period has seen the further transfer of certain UNMIK competences and functions to the local central and municipal authorities in Kosovo. However, UNMIK still continues to control, inter alia, the judiciary, the police and the legislature. While there have been improvements in some sectors, parts of UNMIK still do not appear to take the obligation they are under to guarantee basic human rights and freedoms to the population of Kosovo seriously enough ... As already criticised in the Ombudsperson’s Second Annual Report, when established as a surrogate state in 1999, UNMIK entirely ignored one of the basic principles of democracy, namely the division of powers.«

 

Unschlüssiger Westen

»Das Kosovo ist für Serbien eine Frage der Folklore, keine Brotfrage. Die Brotfrage ist Europa«, so im Gespräch Ramush Haradinaj, Chef der »Allianz für die Zukunft Kosovas« (AK), der drittstärksten Partei des Landes. Der Politik des Westens fehlt es an dieser respektlosen Nüchternheit. Man scheint Serbien unbedingt ein »Versailles« ersparen zu wollen, um es nicht in die demütigende Rolle des Verlierers zu drängen. Aber das Serbien von heute ist nicht das Deutschland von 1918 – welche Gefahr ginge von diesem ausgebrannten, pauperisierten Land aus? Serbien hat überhaupt keine Wahl, es muss und wird die Lösung der Kosovofrage akzeptieren, die ihm der Westen vorgibt oder besser oktroyiert – der Verlust seines überragenden Politikers Zoran Djindjic macht ihm die unvermeidliche Anpassung an die Realität gewiss nicht leichter, es wird aber auch ohne ihn gehen. Und nachher dürfte alles leichter sein. Wenn es das leidige Kosovoproblem los ist, wird das Land nicht im Ressentiment versinken, sondern zur Tagesordnung seiner realen Probleme übergehen.

@Body Text = Das Problem ist nicht ein unberechenbares, aggressives Serbien, sondern ein schweigender, unschlüssiger Westen. Auch das realitätsferne oder exotische Bild des Kosovo, das man sich hier in den letzten fünf Jahren geschaffen hat – im Vollzug einer Erziehungsdiktatur, die in dem kleinen Land ein Exempel der zivilisatorischen Transformation statuieren möchte, ist ein Problem. Was in diesem Konstrukt vor allem fehlt, ist der irreparable Bruch der albanischen Mehrheitsbevölkerung mit dem serbischen Staat. Das könnte noch gefährlich werden. Schon jetzt belastet das banausenhafte Unverständnis für dieses spezifische Drama alle politischen Beziehungen im Kosovo. Die massenhafte Gewalt vom März hatte mehr damit zu tun – mit der selbstverordneten Amnesie, mit der praktischen Nichtanerkennung der serbisch-albanischen Zeitgeschichte im internationalen Kosovo-Diskurs – als mit dem viel beschworenen »ethnischen Hass«.

Den Blick entschlossen nach vorn richten, nur ja nicht zurückschauen – das war schon die Maxime der Internationalen in Bosnien-Herzegowina. Aber es geht nicht, man kommt damit nicht durch, diese Sorte eines eindimensionalen Pragmatismus verletzt und erbittert die Menschen auf dem Balkan. Und das albanische Kosovo mit seinem kompakten, vitalen Nationalbewusstsein ist nicht das zergliederte, zerspaltene, zentrifugale Bosnien.

Das bringt uns auf unseren letzten Punkt – den wunden Punkt UCK. Die kosovo-albanische Gesellschaft scheint unter dem Eindruck zu stehen, dass man ihr eine Art Gehirnwäsche in Vergangenheitsbewältigung aufnötigen möchte. Hashim Thaci, Führer der zweitgrößten Partei im Kosovo (PDK) und möglicherweise der kommende Regierungschef, ändert den Ton, als wir ihn im Gespräch fragen, ob der Westen überhaupt ein angemessenes und faires Bild von der UCK besitze: »Die UCK war einzigartig erfolgreich. Sie ist die erste und bisher einzige Befreiungsbewegung auf der Welt, die den Westen und die NATO zu einem gemeinsamen Handeln gebracht hat.« Was wäre dagegen einzuwenden? Aber es ist wohl eher die nachträgliche Verfälschung eines bewaffneten Widerstands mit breitem Rückhalt im Volk in eine machiavellistisch agierende, eigensüchtige und moralisch skrupellose Guerilla, die im Kosovo auf Verständnislosigkeit trifft. Man braucht nur durch das Land zu reisen um zu merken, wie präsent der bewaffnete Kampf noch überall ist – in den Köpfen und wohl auch Herzen der Leute, nicht nur in den zahlreichen Mahnmalen für die Gefallenen. Nicht zu vergessen, hat etwas mit Selbstachtung zu tun. Kein Zweifel, es gibt hier – wie etwa auch in Kroatien – eine fragwürdige Heldenverehrung, die nicht davor zurückscheut, sich öffentlich gegen den Rechtsstaat zu stellen. Aber schon bei den Veteranenverbänden sollte man sich vor vorschnellen Urteilen hüten – einige von ihnen scheinen sich bei den Unruhen im März mäßigend eingeschaltet zu haben (wie auch Teile der Zivilkorps TMK, der Nachfolgeorganisation der UCK).

In diesem Zusammenhang hier abschließend zwei bemerkenswerte Stellungnahmen von albanischer Seite. Mahmut Bakalli über die beiden nationalen Parteien und ihre Führer: »Sie haben gelernt. Sie haben sich weiterentwickelt. Sie sind inzwischen beide zu pragmatischen Politikern gereift. Sie sind heute nicht mehr das, was sie einmal waren – was immer sie einst gewesen sein mögen. Ich sage Ihnen, vergessen Sie, dass diese Leute ursprünglich aus der UCK kommen!« Und ganz ähnlich der andere überragende Gewährsmann unserer Reise, Rexhep Ismajli: »Diese Gesellschaft ist unterwegs. Sie ist erst noch dabei, eine politische Pluralität hervorzubringen und auszuformen. Es ist unter den konkreten historischen und politischen Bedingungen hier nur natürlich, dass die beiden großen Erfahrungen – die des zivilen Widerstandes und die des bewaffneten Widerstandes – beide im Spektrum der politischen Parteien gegenwärtig sind: erstere mit der immer noch größten Partei, der LDK Ibrahim Rugovas, letztere mit den beiden ebenfalls bereits etablierten nationalen Parteien.«

 

 

Die besondere Minderheit

Eindrücke von den Serben im Kosovo

Im stillen Park der mittelalterlichen Klosterkirche von Gracanica bei Prishtina kommt ein alter Mann auf den Besucher zu. Freundlich stellt er sich vor und fragt nach dem Anlass des Besuchs. Es kommt irgendwie zu einem heiteren wechselseitigen Imponiergehabe mit den vorhandenen Söhnen und Enkeln – der 75-Jährige hat mehr davon und streicht seinen Sieg mit Grandezza ein. Wie nebenbei erläutert er, dass er ein Flüchtling, ein Vertriebener sei – aus Lipjan, etwas südlich von Prishtina. Dabei zeigt er auf eine Hütte am Rande des kleinen Parks, in der das Kloster ihn provisorisch untergebracht hat. Im März dieses Jahres hat man ihm sein Haus zerstört. Wann es wieder aufgebaut wird, weiß er nicht, die Zukunft ist ungewiss. Später werden wir die Schande der Albaner im Kosovo mit eigenen Augen sehen – in Prizren, der schönsten Stadt des Landes im äußersten Süden, nicht weit von der Grenze zu Makedonien. Die Häuser des winzigen serbischen Stadtquartiers am Hang zu der alten Festungsruine hinauf sind alle verwüstet. Nur an einem Dach wird bereits wieder erkennbar gearbeitet. Die Bewohner, sagt uns ein deutscher Soldat, alles alte Leute, befinden sich bis auf weiteres im Camp der deutschen KFOR-Truppen in der Umgebung der Stadt. Wenn man durch die engen Gassen hinauf zu der ebenfalls ausgebrannten kleinen orthodoxen Kirche steigt, vergeht einem die Lust darauf, die deutschen Soldaten zu kritisieren – um die Wohnhäuser und kirchlichen Gebäude zu schützen, hätten sie wohl schon schießen müssen auf die anbrandenden Massen wütender junger Leute.

Pater Nektarje, etwa 40, ist bereit, mit uns über die aktuelle Lage in Gracanica, einer serbischen Enklave mit insgesamt etwa 15000 Menschen, zu sprechen. Im Kosovo ist er seit 1993, hier seit 1999. Er betont mehrfach, dass er ein Mann der Kirche sei, kein Politiker. Aber wir treffen ihn im Kloster bei der Redaktionsarbeit für ein »säkulares« lokales Radio an, das er leitet. Und was der Geistliche uns dann vorträgt – in vorzüglichem Englisch, ist alles politisch, leidenschaftlich politisch. Sie selbst, Kirche und Kloster, hätten wohl im Moment nichts zu befürchten (die zwei schwedischen KFOR-Soldaten vor der Kirche wirken in der Tat nicht sehr angespannt) – was aber den Ort angehe, so sei er sich da nicht so sicher. Auch der multiethnischen Kosovo-Polizei unter der Kontrolle der Unmik (KPS) vertrauten die Leute nicht. Sie fürchteten eben, dass sich hinter der neuen Uniform der alte »Terrorist« verberge. Der Pater zeichnet das Bild einer prekären, bedrohten Isolierung in unversöhnlich feindlicher Umgebung. Einmal spricht er von einer »menschenunwürdigen Situation, in der wir hier leben«. Natürlich funktioniere der lebensnotwendige Handel und Wandel zwischen der Enklave und ihrem albanischen Umland weiter – unter der Hand, klammheimlich, nachts. Aber die Albaner wollten ein ethnisch reines Kosovo. Der Pater überlässt sich einem vollmundigen Lamento: Es sei immer dasselbe, die Serben seien in diesem Land immer schon »Opfer der Unterdrückung« gewesen. Überraschend entschieden und persönlich lehnt er dann aber den Teilungsplan Belgrads ab – vorgetragen in der Form eines an die israelischen Siedlungen in der Westbank gemahnenden Enklavensystems: »Eine Autonomie in der Autonomie? Meine Kirche ist dafür, ich nicht. Es ist mir zuwider. Es ist mein Land. Ich brauche keine Autonomie in meinem eigenen Land.«

 

Jenseits der Klischees: Die Mehrzahl ist geblieben

Alle politischen Parteien akzeptierten hier die Realität. Der Krieg sei vorbei – »was passiert ist, ist passiert«. Im Krieg habe es hier weniger Mord und weniger Zerstörung gegeben als anderswo im Land – auch das sei ein Element der heutigen Situation, so im Gespräch Xhemajl Hyseni, der (albanische) Vizepräsident der Gemeinde Gjilan. In der Region von Gjilan im Südosten des Landes, nicht weit von der serbischen Grenze, herrscht ein anderes politisches Klima. So klein das Kosovo ist, es gibt hier nicht nur den einen Typus von serbischer Minderheit: gestern (und vorgestern) die Herrenschicht einer vom serbischen Staat erzwungenen Apartheid – oft nur hierher gekommen, um zu unterdrücken und zu profitieren; heute entmachtete, gefährdete Ethnie, politisch desorientiert, mental verbunkert, Spielball, Geisel Belgrader Territorialansprüche. Es gibt daneben auch eine sehr alte Existenz am Rande des Existenzminimums – die mühselige, zähe Selbstbehauptung bäuerlicher Subsistenzwirtschaft durch die Jahrhunderte, von der Welt kaum beachtet und immer im toten Winkel des serbischen Staates und seiner Strategien der Ausbeutung und Herrschaftssicherung. Und diese Serben sind in ihrer überwältigenden Mehrheit noch im Land – das ist das Ergebnis einer bahnbrechenden neuen Studie der viel beachteten »European Stability Initiative« in Berlin (The Lausanne Principle. Multiethnicity, Territory and the Future of Kosovo’s Serbs, Berlin/Pristina, June 7, 2004). Es sind danach die städtischen und vielfältig mit dem serbischen Staat verbundenen Serben, die seit 1999 das Land zum guten Teil verlassen haben – die große Masse der serbischen Bauern hat sich trotz aller Risiken entschlossen, zu bleiben und an ihrem Stück Land festzuhalten. Das ganze international (auch etwa vom UNHCR) immer wieder bekräftigte Zahlenwerk der Flucht und Vertreibung aus dem Kosovo ist daraufhin zu hinterfragen: Zwei Drittel der Serben haben offenbar entgegen der gängigen Sicht nach dem Krieg im Kosovo ausgeharrt, die Mehrheit von ihnen nicht nördlich, sondern südlich des Flusses Ibar, der Mitrovica in eine albanische und eine serbische Hälfte teilt – mit allen praktischen Konsequenzen, die das für ein unbeirrbares Insistieren der Internationalen Gemeinschaft auf einem ungeteilten, multiethnischen Kosovo bedeutet. Die internationale Verpflichtung oder Selbstverpflichtung dazu – nach dem Versagen im Bosnienkrieg – erscheint im Licht dieser bemerkenswerten Analyse wieder realistischer oder chancenreicher. Existiert doch gegenwärtig bereits ein Zusammenleben von Albanern und Serben im Kosovo – entgegen allen Klischees des Pessimismus, die ungeheuerliche Destruktivität des Milosevic-Regimes hat hier eine Grenze gefunden. Es wäre eine Fehlentscheidung von unabsehbarer Tragweite, wollten UN-Sicherheitsrat und Kontaktgruppe sich in den heranrückenden Verhandlungen über den Status des Kosovo zuletzt noch einem mutlosen »Pragmatismus« überlassen und vor der Doktrin von der Unmöglichkeit friedlicher Koexistenz erneut zurückweichen.

Dass wir in unserer Voreingenommenheit möglicherweise gar nicht richtig begreifen könnten, was er uns da über die gelungene Integration der hiesigen Serben in die Gemeindeverwaltung darlegt, scheint auch die Befürchtung von Xhemajl Hyseni zu sein. Es hat etwas Trauriges, der zurückhaltende, nüchterne Beamte bittet uns am Schluss ausdrücklich um eine genaue Wiedergabe des Gesagten. Auch in Gjilan sei es im März leider zu ernstlichen Ausschreitungen gekommen, ein Serbe sei dabei ermordet worden. Dennoch funktioniere die interethnische Gemeindeverwaltung hier und in der ganzen Region nach wie vor ungestört – neben Hyseni gibt es einen serbischen Vizepräsidenten der Gemeinde; im Gemeinderat mit 41 Delegierten sitzen drei serbische Vertreter. Enklaven gebe es hier nicht – die umliegenden serbischen Dörfer partizipierten an der allgemeinen Verwaltung. Hier liege der Ansatzpunkt einer vernünftigen Dezentralisierung, die den Leuten auf dem Land zumindest überflüssige Wege ersparen könnte. Zusammengenommen stellten die Minderheiten 20 Prozent der Gemeindeangestellten. Man rechne auch mit der Teilnahme der Serben vor Ort an den Parlamentswahlen im Oktober – ungeachtet allen Drucks aus Belgrad, der natürlich auch hier zu spüren sei.

 

Mitrovica – missbrauchte Stadt

Mitrovica sollte vielleicht nicht gerade die erste Station einer Reise in das Kosovo sein – hier kann den Neuankömmling tatsächlich Hoffnungslosigkeit überfallen. Schon wie die berühmte Brücke über den Fluss Ibar aussieht – oder nach dem Gewaltausbruch im März heute wieder aussieht – ist niederschmetternd: ein Stück schwer bewachter und befestigter Front, über das man nur in Schlangenlinie fahren kann – 5 Jahre nach dem Krieg das Sinnbild dafür, dass die Zeit im Protektorat still zu stehen scheint. Man versteht die Haltung der Serben im Norden der Stadt aber kaum, wenn man sie nur als politische Unbelehrbarkeit oder Rückwärtsgewandtheit interpretiert. Die Menschen hier könnten ohne die Transferleistungen aus Belgrad (und auch aus Prishtina, das mehr Geld in den serbischen Norden der Stadt pumpt als in den albanischen Süden!) überhaupt nicht überleben. Mitrovica ist ein Brückenkopf Belgrads und seiner Politik der »Parallelstrukturen« (Universität, Krankenhaus, Ordnungsamt, Finanzamt, Gerichte, sogar eine illegale Polizei an der Unmik vorbei – ohne Uniformen), weil es eine Zone des Zerfalls, ein Notstandsgebiet ist – der katastrophalste Fall von Deindustrialisierung im ehemaligen Jugoslawien überhaupt. Der einstige industrielle Komplex um Trepca – seine Minen, seine Verarbeitungs- und Zuliefererbetriebe sind so gut wie tot. Würde Belgrad Mitrovica aufgeben, stürbe die Stadt. Ihre Bewohner müssten sie verlassen.

Kapllan Baruti, der (albanische) Präsident des Unmik-Bezirksgerichts in Nordmitrovica, fühlt sich dennoch nicht auf verlorenem Posten. Unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen: konfrontiert mit einer schwer auflösbaren Verklumpung von Nationalismus und Not, ohne machtvolle Rückendeckung durch die Mission der Vereinten Nationen, die hier bis heute nur ein Halbdasein führt, arbeitet dieser erfahrene, etwa 60-jährige Richter beharrlich an der Durchsetzung des Rechts und des Rechtstaats. Und das durchaus nicht ohne Erfolg. Das Gericht besteht schon seit 1999, im Moment arbeitet es mit 8 Richtern – sechs Albanern und zwei Serben, auch dieses Zahlenverhältnis Ausdruck der fortdauernden Kontrolle Belgrads über Serben vor Ort (im Falle von Richtern oder auch Ärzten über spezielle Gehaltszulagen). Zunächst hätten sich nur relativ wenige Menschen an das Gericht gewandt, zweihundert im Jahr vielleicht – inzwischen kämen immer mehr, etwa zweitausend im Jahr. Sie kämen – ungeachtet des Odiums von nationalem Verrat, das sie damit auf sich laden würden. Es sei der Gegensatz zwischen der politischen Loyalität, die man ihnen abverlange, und ihrem ureigenen Interesse als Rechtssuchende, der sie hierher führe – oft erst nach dem Entscheid eines serbischen Gerichts, der von den legalen Behörden (Unmik) aber nicht akzeptiert werde. So müssten die verarmten Leute absurderweise zweimal zahlen – erst für den Prozess vor dem serbischen Gericht, dann für den vor dem Bezirksgericht. Es sei hier in seinem Amtszimmer schon öfter zu richtiggehenden Beratungen mit Leuten gekommen – das habe ihm mit der Zeit einen Einblick in die komplexe innere Befindlichkeit der serbischen Gemeinschaft verschafft. Sie sei dabei, sich zu verändern. Die Menschen hier spürten sehr wohl, dass sie politisch missbraucht würden.

 

 

 

 

Am Anschlag der WutAlltagsleben im Kosovo

 

Viele Menschen in Deutschland haben ein ernstes Problem mit Nation und Nationalstaat, jedenfalls wenn es sich um ein so kleines Land handelt wie das Kosovo. Sind das nicht letzten Endes doch Ersatzthemen, so fragt man hier gern, Fluchtreaktionen gegenüber der Erfahrung von Ohmacht und wirtschaftlicher Misere – nicht unverständlich vielleicht, aber rückwärtsgewandt und illusionär. Wenn die deutsche Öffentlichkeit einen Zugang zum Kosovo hat, dann zur unerträglichen ökonomischen Situation dort. Dafür sorgen schon die Hunderttausende Kosovo-Albaner, die seit Jahrzehnten bei uns leben und arbeiten und sich mit ihren anhaltenden, enormen finanziellen Transferleistungen in ihre Heimat den Respekt der deutschen Gesellschaft erworben haben. Hinzu kommt die aktuelle Problematik der Abschiebung, die nicht nur die Flüchtlingshelfer und Runden Tische bei uns beunruhigt und auch beschämt. Dennoch, so versteht sich, ist ein Augenschein vor Ort etwas anderes. Und sei es nur, weil sich in ihm die im Prinzip bereits bekannte Situation konkretisiert oder veranschaulicht. Vor allem aber wird man wieder einmal darauf gestoßen, dass es peinlicherweise individuelle Menschen sind, Einzelpersonen, die sich da für ein Minimum abstrampeln. Und die Armut ist auch kein Schrei aus der Tiefe – sie ist ein Leid, ein Problembewusstsein, eine Gedankenwelt.

Der schlanke Mann von der Rezeption des Hotels »Theranda« in Prizren, vielleicht 40, beruhigt die Gäste: »Der Strom kommt bald ...« – im hier seit fünf Jahren gewohnten Rhythmus: 4 Stunden Strom, 2 Stunden kein Strom, in Kürze sei wieder der Strom dran. Aber warm duschen könne man jetzt schon, das Wasser bleibe ja auch nach dem Abschalten eine Zeit lang warm. Das Licht geht dann tatsächlich an – aber nur für zehn Minuten, dann geht es wieder aus. Der Mann im Hotel zündet eine kleine Kerze an. Uns genügt das nicht, und wir kaufen uns im Kiosk gegenüber Taschenlampen. In der hier eigenartig früh hereinbrechenden Dunkelheit steht der Angestellte schweigend vor dem Portal, er scheint noch etwas schmaler geworden zu sein. Plötzlich sagt er – in fließendem Deutsch: »Das ist so gewollt. Es ist ein abgekartetes, schmutziges Spiel, das sie mit uns treiben. So sehen es jedenfalls 90 Prozent der Leute hier. Im alten Jugoslawien hat der Strom, der im Kosovo produziert worden ist, für das ganze Land gereicht – und jetzt nicht einmal mehr für das kleine Kosovo selbst?« Die Stimme bleibt ganz ruhig, verhalten. Aber man spürt die Wut. Es ist ein Moment rückhaltloser politischer Offenheit – vielleicht hilft uns, dass der Mann einige Jahre als Flüchtling in Deutschland gelebt hat. Beim Abschied gibt er uns ein kleines Geschenk für seinen ehemaligen Arbeitgeber im Schwarzwald mit. Das »Spiel«, das er in seiner Verbitterung unterstellt, ist ein Deal zwischen der Zivilverwaltung der UN und Belgrad. Besser gesagt: eine Verschwörung. Das Kosovo soll kirre gemacht werden – mürbe für die letztendliche Rückkehr unter die serbische Staatsgewalt. Nackte Unfähigkeit: das Missmanagement der internationalen Bürokratie im Kosovo hat in dieser Sicht keinen Platz.

Vor dem Bürgermeisteramt in Gracanica, einem rein serbischen Ort von etwa 6000 Einwohnern, drängen sich zwanzig, dreißig Leute. Alles Albaner, wie uns jemand informiert. Sie sind hier, um einen »jugoslawischen« Pass zu beantragen oder abzuholen – Kostenpunkt 1300 Euro. Sie tun es »nicht aus Liebe zu Serbien«, sondern um leichter an ein Visum heranzukommen – an ein Visum etwa für Deutschland. Das Identitätsdokument, das die Unmik ausstellt, bringt nicht viel. Bayern zum Beispiel erkennt es gar nicht an, die bayrische Staatsverwaltung erkennt nur den jugoslawischen Pass an. Es ist ein Trick – aber ein teurer und ein demütigender. Der Druck ist groß. Im deutschen Verbindungsbüro in Prishtina sagt man uns, dass hier täglich 200 Anträge auf ein Visum eingehen. Auch vor dem Schweizer Verbindungsbüro sieht man die Leute an bestimmten Tagen Schlange stehen. Wir sprechen mit einer jungen Germanistin von der Universität, ihr hat man die Möglichkeit verweigert, an einer wichtigen Fachtagung im Ausland teilzunehmen. Ausreisemöglichkeit und Bewegungsfreiheit haben hier naturgemäß eine überragende Bedeutung – wer daran dreht, macht sich unmöglich, macht sich verhasst. Die erschwerte Zugänglichkeit der Visa wird im Kosovo als sinnlose Verschleppung oder Obstruktion der überfälligen Normalisierung wahrgenommen. Die Gesellschaft ist jung, und die Jungen sind arbeitslos. Sie sind zum guten Teil darüber hinaus weltläufig. Provinziell ist hier – wie übrigens auch in Bosnien – höchstens noch das alte akademische Establishment. Die breite Bevölkerung kennt die Welt – Not, Krieg und Vertreibung haben sie dazu gezwungen.

Der Fremde weiß theoretisch, dass hier in aller Regel jeweils mehrere Familienmitglieder zum Überleben beisteuern müssen. Auch die Jugendlichen und Kinder. Die Kinder bleiben mit ihrem Angebot an Kaugummis so lange am Tisch im Café oder Restaurant stehen, bis sie jemand verscheucht. Einige von ihnen wirken äußerlich abgehärtet oder routiniert, andere nicht; nicht selten arbeiten sie zu zweit. Die Jugendlichen oder jungen Männer mit ihren (ganz legalen) Zigaretten und Telefonkarten eilen hingegen von einem Etablissement zum anderen. Oder hetzen vielmehr. Wie viel braucht man hier mindestens? Ein Taxifahrer, der fünf Kinder hat – vier davon im schulpflichtigen Alter, der älteste Sohn arbeitslos, sagt uns, er bräuchte 600 Euro im Monat, für ein »normales Leben«. Er verdient durchschnittlich 250 Euro mit seinem Taxi. Er klagt nicht, er spricht auch bei einem Kaffee kaum. Als wir versuchen, ihm eine politische Stellungnahme zu entlocken, kommt er wieder auf sein Einkommen zu sprechen. Als er das Missverständnis realisiert, sagt er schroff, für Politik habe er nicht den Kopf. Wo das Regierungsgebäude steht, weiß er nicht – wohl aber, wo die führenden Politiker ihre Häuser haben. Er muss selber ein bisschen lachen.