Jörg-Michael Vogl

 

Regieren durch Freisetzen

 

Bleibt das Wirtschaften nicht an gesellschaftliche Ziele gebunden, bleibt nur noch die Erzeugung von Menschenabfall

 

Der Begriff der »Liberalisierung« wird oft pauschalisierend verwendet und ohne ihn zu hinterfragen. Auch Helmut Wiesenthal neige, so unser Autor, in seinem Aufsatz »Wahrheit und Demokratie« (»Kommune« 4/04) zu einseitiger Engführung dieses Topos. Selbstverantwortung sei zu wenig, wenn vom Ziel des Wirtschaftens nicht gesprochen werde; und zu wenig sei auch der blanke Reduktionismus auf das Wachstum des Geldes und der Arbeit für Geld und die Etablierung eines »genetifizierenden« Diskurses.

 

Wenn heute von Liberalisierung gesprochen wird, dann wird dies zunächst mit der Befreiung von Einengungen assoziiert, als eine Befreiung von etwas. Auch in den derzeitigen Diskussionen über die Aufgaben des Staates und die Rechte des Individuums dominieren entsprechend negative Bestimmungen: Der Staat habe sich aus wirtschaftlichen Belangen und aus dem Portemonnaie der Bürger herauszuhalten, genauso wie er in den Schlafzimmern und Computern und Klassenräumen nichts zu suchen habe. Die Gestaltung dieser Freiräume ist dem Bürger überlassen.

Ein Fallbeispiel kann die Tragweite dieser Liberalisierung verdeutlichen: In einer kleinen Stadt am Nordrand des Ruhrgebietes hat sich ein Paar auseinander gelebt, die Frau ist pflegebedürftig, ihr gehört das Haus, in dem die beiden wohnen. Der Mann lässt sich über eine Agentur eine Russin vermitteln, mit der er nachts das Bett teilt, während sie tags die Frau und den Haushalt betreut. Die Russin kann nur dauerhaft bleiben, weil sie mit einem weiteren Mann formal verheiratet ist, der als Entschädigung für diese Scheinheirat eine Wohnung des Hauses mietfrei bewohnt. Offensichtlich ist: Hier setzen alle Beteiligten konsequent und zufrieden stellend auf die Verfolgung eigener Interessen, sie haben ein auf Zeit stabiles Arrangement ausgehandelt, ohne traditionelle staatliche Reglementierungen und dabei erfinderisch die Rahmenbedingungen für sich genutzt.

Was in der aktuellen politischen Diskussion unter Liberalisierung verstanden wird, bringt Helmut Wiesenthal in »Wahrheit und Demokratie« beispielhaft auf den Punkt: Was die Politik zu tun hat, ist klar, nämlich die Agenda 2010 zumindest konsequent durchzuziehen, eher noch zu radikalisieren. Die Entscheidung der politischen Kräfte geht um Mut und Kampf oder Kraftlosigkeit und Angst vor den Wählerstimmungen. Dass bestimmte politische Maßnahmen kommen müssen, ist unabweisbar. Kommen sie schnell, so ist dies günstiger. Die Parteien sollen versuchen, auf dem Wählermarkt dafür Stimmen zu bekommen, schlimmstenfalls müssen sie sich jedoch opfern, denn die Maßnahmen sind unabweisbar. Politik hat also – kurz gesagt – eine Notwendigkeit durchzusetzen (siehe dazu meinen Beitrag in Kommune 2/04). Wovon in Wiesenthals Text nichts steht, muss ebenfalls festgehalten werden: Von Zielen des Wirtschaftens wird nicht gesprochen, so als ob mit dem Hinweis auf Wachstum und Arbeit schon alles gesagt sei, es also nicht um die Befriedigung von Bedürfnissen oder Wohlstand, Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, Lebensqualität, Humanisierung der Arbeit oder Nachhaltigkeit gehe.

 

Untersuchen wir vor diesem Hintergrund systematischer, was unter Liberalisierung verstanden wird. Wiesenthal schreibt: »Liberalisierung verstanden als Delegation von Entscheidungsrechten an eigeninteressierte und für den Einsatz der eigenen Ressourcen haftende Akteure ist allen Alternativen überlegen, in denen es an effektiver Verantwortungsträgerschaft mangelt.« Einige Leser haben sich vielleicht an der imperialistischen Ausweitung des Unternehmertums auf alle gesellschaftlichen Bereiche gestört, andere dagegen vielleicht erinnert an eigene Befreiungen von Zwängen, in Westdeutschland aus starren Familienstrukturen, verknöcherten Schulen oder dumpfen Universitäten. In der Rückblende wird der Unterschied zum eingangs dargestellten Fall überdeutlich: Noch zu Beginn der Siebzigerjahre konnten Eltern besorgt sein, wenn die Freundin ihres Sohnes im Haus übernachtete, denn es gab den Kuppeleiparagrafen, der solches Tun mit Strafe bedrohte.

Diese Wende zu mehr Selbstverantwortung ist jedoch zweischneidig. Das ist eine Erkenntnis der Studien zur »Gouvernementalität«. Dieses Kunstwort wurde von Michel Foucault aus gouverner und mentalité gebildet, weil er den Zusammenhang von zentraler Staatsregierung, Regierung der Familie sowie der wirtschaftlichen Reproduktion und der Regierung des Selbst untersuchen wollte. Diese Leitidee wird inzwischen verstärkt aufgegriffen und führt zu anregenden Untersuchungen der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen. So wird zum Beispiel die These aufgestellt, dass die Regierung des Staates heute das Prinzip der kollektiven Verantwortung für gesellschaftliche Probleme zurückdränge zu Gunsten einer Selbstregulierung von Individuen und sozialen Gemeinschaften, man also vom Tod des Sozialen sprechen könne (Nikolas Rose). In der Wirtschaft und ebenso im sozialen Bereich verbreiteten sich Managementkonzepte, die das Prinzip permanenter Verbesserung unter Einbeziehung aller Mitarbeiter in standardisierten Verfahren einführen. Dem entsprächen auf der individuellen Ebene die Fülle der Ratgeber zu Selbstmanagement und Persönlichkeitsentwicklung. Damit werde Benchmarking und Empowerment zur zeitgenössischen Mikrophysik der Macht (Ulrich Bröckling). Der Rückzug der Idee der sozialen Gerechtigkeit zu Gunsten eines statistischen Kalküls, das auf Grund individuell ermittelter Risikoprofile den Einzelnen einem statistischen Kollektiv zuordne, führe dazu, dass der Einzelne auch in die Pflicht zum sorgsamen Umgang mit seinen Ressourcen genommen werde (Henning Schmidt-Semisch). Auch Programme des Anti-Aggressivitäts-Trainings werden in diesen Zusammenhang eingeordnet: Sie machten insbesondere mit ihren Konfrontationstechniken (»Heißer Stuhl«) die Verhaltensänderung zur Aufgabe des Individuums. Dabei gehe es nicht mehr um Hintergründe des Verhaltens, sondern um Effekte an der Oberfläche, paradoxerweise gestützt auf traditionelle Männerbilder (Susanne Krasmann).

Die Etablierung eines »genetifizierenden« Diskurses lasse sich erkennen: Zunächst werde angenommen, dass sich gesellschaftliche Phänomene genetisch erklären ließen. Diese Untersuchungen erforderten darüber hinaus aber auch einen Maßstab der Normalität, weshalb so etwas wie ein »Konsensgenom« gebildet werde. Daraus ergebe sich eine Verschiebung der Machtstrategien, die Risiken individualisierten und privatisierten sowie neue Formen der Ungleichheit und Ausbeutung etablierten. Auf der Ebene der Regierung des Selbst werde Selbstbestimmung und Wahlfreiheit zentral, das heißt die Optimierung der Lebensqualität beziehungsweise des Humankapitals sei Aufgabe des Individuums (Thomas Lemke). In der Psychosomatik zeichne sich ein neues Paradigma ab, das Erkrankungen nicht mehr in je eigenen Entstehungszusammenhängen zu erklären versuche, sondern auf eine neu definierte Krankheit zurückführe, die Alexithymie, die durch das Fehlen eines ausgeprägten Inneren des Subjekts, also seine unmittelbare, unreflektierte Anpassung an die äußere Umwelt gekennzeichnet sei (Monica Greco). Die Disney-Parks seien Modelle des Regierens durch Spaß ebenso wie der Regierung/Regulierung des Spaßes (Aldo Legnaro).

Aus diesen Untersuchungen ergibt sich jedenfalls eines: Die gesellschaftliche Umwälzung der Freisetzung der Individuen lässt sich eben nicht negativ definieren, als Freiheit von Macht, sondern ist eine Form der Machtausübung. Dass darüber hinaus die Machtgeflechte nicht nur ein Unten an ein Oben knüpfen, sondern komplexe Machtgefälle und ungleiche Machtverteilungen auf jeder Ebene verbinden, hat zum Beispiel Pierre Bourdieu herausgearbeitet. Das »Kapital«, mit dem die Einzelnen nach dem Konzept der Liberalisierung in den Wettbewerb treten sollen, ist von Grund auf und sozialstatistisch nachweisbar unterschiedlich. Das Eingangsbeispiel zeigt deutlich mehrere sich überkreuzende Machtgefälle, hier hat die Liberalisierung nicht einfach ein Loch in der Macht hinterlassen. Entsprechend kann man davon ausgehen, dass nicht alle Beteiligten das tun können, was sie wollen und für richtig halten.

Diese Liberalisierung ist in ihren Konsequenzen vielen nicht geheuer. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn die Zukunft der Demokratie im Zeitalter der Liberalisierung als prekär angesehen wird und auf die unabdingbare Notwendigkeit einer Unterstützung durch die Zivilgesellschaft verwiesen wird (z. B. Francis Fukuyama). Eine solche Redeweise verpackt jedoch solche komplexen Machtstrukturen in eine Worthülse. Nehmen wir versuchsweise den Vorschlag eines freiwilligen Verhaltenskodex, der Maßstäbe für das Verhalten von Managern und die Höhe ihrer Gehälter festlegen soll (z. B. Peer Steinbrück): Er greift einerseits ein klassisches dichotomes Muster (die da oben/Kapital – wir da unten/Arbeit) auf, erzeugt aber bei denen, die in solchen Mustern denken, eher Verachtung, weil er die Machtstruktur leugnet. Bestenfalls können eben im dichotomen Denken Gegenmächte, unter anderem der Staat, solche Kodizes durchsetzen. Gehen wir aber noch einen Schritt weiter und drehen die Denkrichtung um: Wer kann sich den Vorschlag eines freiwilligen Verhaltenskodex für Langzeitarbeitslose auch nur denken?

Die Redeweise von der Erhöhung der Verantwortung jedes Einzelnen für sich selbst hat also den Knüppel im Sack. Die Langzeitarbeitslosen erarbeiten eben nicht Verhaltenskodizes, sondern beziehen schon lange Prügel in der Form, dass insbesondere in den Medien, die von unteren sozialen Schichten gesehen werden, in vielen Talkshows und Reportagen immer wieder die Sozialschmarotzer, die ihre Arbeitslosigkeit bewusst herbeiführen, vorgestellt wurden. Diese diskursive Trennung von Arbeitslosen und Sozialschmarotzern ist mit Hartz IV jedoch anscheinend aufgehoben: Jeden Arbeitslosen bedroht der Zwang, der bei den Sozialhilfeempfängern schon lange eingeübt wurde. Und jeder kann arbeitslos werden. Neu ist, dass die Abstiegsszenarien jetzt sogar die Feuilletons der bürgerlichen Zeitungen erreichen. Dabei wägen junge, gebildete Menschen Chancen und Risiken der elementaren Unsicherheit der Liberalisierung ab. Genau diese Chancen werden in anderen Milieus aber nicht gesehen. Kein Wunder deshalb, dass in ihnen, wenn nicht auf die eigene Stärke, dann auf den schützenden Staat gesetzt wird, wie Wiesenthal konstatiert. Auch hier bieten die entsprechenden Medien, allen voran die Beinahe-Regierungs-Zeitung BILD, populistische Diskurse stets tagesaktuell an.

 

Dass die Debatten über den Gedanken der Freiheit seit ihrer Entstehung doppelgesichtig gewesen seien, ist die Kernthese von Wolfgang Fach in seinem Buch Die Regierung der Freiheit (siehe Kasten). Er will kein Lehrbuch schreiben, sondern die theoretischen Beiträge seit den Klassikern der politischen, pädagogischen und philosophischen Erörterung der Freiheit unter dem Blickwinkel seiner These systematisieren. Dabei verknüpft er die Redeweisen unterschiedlichster Theoretiker zu einem »Erzählstrang«, der zeigen soll, dass die Regierung im Geist der liberalen Ideen stets mit der Regierung im Sinne der Einhegung der freigesetzten Individuen verbunden war. Entstanden sei das Freiheitsproblem mit dem Ende der Sicherheiten der vormodernen Welt und der Freisetzung der Menschen. Seine politische Perspektive: Freiheitsgewinne seien noch nie notwendigerweise Herrschaftsverluste gewesen – und dies könne in der Zeit der Freisetzungen, die mit dem Ende des Wohlfahrtsstaates verbunden sind, also in der Ära der Ich-AG, auch gesehen werden, in der die ganze Person restlos unternehmerisches Kapital werden solle.

Es verblüfft angesichts dieser langen Tradition der doppelten »Regierung der Freiheit« nicht, wenn auch Wiesenthal anspricht, dass die Autonomie der liberalisierten Menschen gestaltet werden muss: »Da unternehmerische Kompetenzen auch in den diversen Rollen abhängiger Erwerbsarbeit mehr und mehr gefragt sind, ist es gesellschafts- und wirtschaftspolitisch ausgesprochen lohnend, für ihre gesellschaftliche ›Normalisierung‹ im Sinne von Vorhandensein, Anwendung und Anerkennung zu sorgen.«

Hier bewertet Wiesenthal etwas positiv, was in kritischen Stellungnahmen zur neoliberalen Globalisierung ebenfalls als Tatsache gesehen wird, nämlich die Ausbreitung unternehmerischen Verhaltens auf andere Bereiche. Beide Sichtweisen greifen jedoch zu kurz, weil auch innerhalb der Unternehmen eine Revolution von oben stattgefunden hat. Es ist nicht lange her, dass man als Auszubildender in einem Großunternehmen anfangen konnte, vielleicht sogar bevorzugt, weil schon der Vater im gleichen Unternehmen arbeitete, und als Meister in Rente gehen konnte. Heute müssen sich Mitarbeiter unternehmensintern um das nächste Projekt, das sie bearbeiten dürfen, bewerben, mitsamt einer kompletten Kostenkalkulation. So wird unter erheblichem Mehraufwand die Simulation eines unternehmerischen Verhaltens des Lohnarbeiters erzwungen. Die eigene Brauchbarkeit muss gewissermaßen alltäglich nachgewiesen werden, was auch bedeutet, dass die eigene Unbrauchbarkeit eine alltägliche Möglichkeit ist. Die Unsicherheit ist in den Betrieben institutionalisiert worden und Hartz IV komplettiert diesen Druck.

In den Schulen ist man allerdings bei der Vorbereitung auf diese Situation weiter, als vielleicht bekannt ist: Man hat festgestellt, dass Schülerinnen und Schüler nicht souverän genug mit den verschiedenen Methoden des Lernens umgehen, dass sie nicht reflektiert selbstständig arbeiten können und nicht teamfähig genug sind. Trotz Lehrermangel und finanziellen Kürzungen wird eine Welle von Fortbildungen zu diesem Thema organisiert. Mit Unterstützung der Bertelsmann-Stiftung trainieren ganze Kollegien neue Methoden des Unterrichtens mit dem Ziel, die Schlüsselqualifikationen der Schülerinnen und Schüler zu verbessern. Darüber jedoch, was diese Schülerinnen und Schüler lernen sollen, wird ebenso wenig diskutiert wie über ihre Lebensperspektiven nach der Schule. Diese Neuorientierung ist nicht einfach Stärkung des Individuums, sondern auch ein Stück Forderung der Selbstkonstruktion, bei der über ihre Ziele und Realisierungschancen systematisch geschwiegen wird. Die breite Stimmung gegen Hartz IV entwickelt sich aus der diskursiven Leerstelle, die Wiesenthal wie viele andere lässt: Was soll mit denen sein, die trotz ihrer Kompetenzen erfolglos bleiben oder diese gar nicht erreichen können oder wollen?

 

Fach skizziert am Ende seines Buches eine Perspektive hierfür, die in den Gouvernementalitätsstudien ebenfalls diskutiert wird: Wenn mangelnde Intelligenz oder Gesellschaftsunfähigkeit genetisch erforschbare Defekte sind, dann kann man vom Einzelnen auch erwarten, für diese Bereiche Verantwortung, zumindest hinsichtlich seiner Nachkommen zu übernehmen. In der Sciencefiction ist diese biologische Produktion des freien Individuums schon längst zu Ende gedacht (z. B. bei William Gibson), entsprechende Diskurse stehen also schon lange im Raum. Um Ulrich Beck zu paraphrasieren: Die individuellen Bastel-Tragödien, wie sie im Eingangsbeispiel exemplarisch wurden, würden sich zur strukturellen Tragödie weiten. Die Annahme, dass es einen Entwicklungsprozess gebe, dem sich die Politik nur anpassen könne und der allem anderen vorgängig sei, wendet jedenfalls die Alternativlosigkeit der staatlichen Ebene in die alternativlose Anpassung an Freiheit auf der Ebene der Individuen.

Die Tragweite der aktuellen Liberalisierungsdiskussion wird jedoch erst ganz deutlich, wenn man sich klar macht, dass mit ihr ein politisch institutionalisiertes gesellschaftliches Ziel aktiv zerstört wird, also Sinnlosigkeit der Gesellschaft erzeugt wird: Bis vor kurzem war Konsens, dass Wirtschaften auch das Ziel habe, die materiellen Ressourcen für ein sicheres, menschenwürdiges Leben aller bereitzustellen und dass dies in irgendeinem Sinne »solidarisch«, der Logik der Liberalisierung entgegengesetzt, zu geschehen habe. Inzwischen wird Sicherheit in den herrschenden Diskursen, wie Fach schreibt, als das Gegenteil von Freiheit aufgefasst. Große Mehrheiten der Bevölkerung stehen trotzdem noch hinter dieser Idee, wie sich bei Meinungsumfragen herausstellt. Man kann natürlich kritisieren, dass dies ein defensiv begründeter, im Dualismus Kapital/Arbeit verbleibender Gedanke ist, man kann kritisieren, dass die Sicherheit in unserem Land (durch die Subventionierung des Bergbaus z. B.), aber erst recht weltweit ungleich verteilt ist. Die Liberalisierungsdiskussion macht jedoch die Setzung von Zielen per se zum Nichtdenkbaren. So überrascht es nicht, dass Wiesenthal eben nicht nur für Liberalisierung plädiert, sondern Sicherheit, den letzten Sinn des Wirtschaftens, als »Recht auf Dauerarbeitslosigkeit« denunziert. Von einer ökologischen Zielsetzung ist in seinem Text schon gar nicht mehr die Rede. Gleichzeitig wachsen im Übrigen die städtischen Bereiche, in denen Sicherheit privatisiert wird: Im Einkaufscenter und anderen »gated communities« werden beunruhigende Menschen vom Wachpersonal fern gehalten.

Historisch neu ist also, dass die gesellschaftliche Freisetzung/Liberalisierung im Sinne der Ich-AG nichts an gesellschaftlichem Sinn übrig lässt – außer dem abstraktesten, allgemeinsten des Wachstums des Geldes und Arbeit für Geld, beides Ziele ohne ein Ende, für die immer neu Opfer gebracht werden müssen: die Überarbeitung derjenigen, die bezahlte Arbeit haben, das Elend derjenigen ohne bezahlte Arbeit, der Verbrauch der natürlichen und sozialen Lebensbedingungen, Parteien, die sich für die Wahrheit aufopfern und so weiter.

Aber der Horizont, vor dem über Liberalisierung diskutiert wird, hat sich grundlegend geändert: Der Aufbruch der liberalen Denker war getragen vom allgemeinen Fortschrittsoptimismus der Epoche, der mit den inzwischen vielfältig vermehrten Selbstvernichtungsmöglichkeiten und -fähigkeiten der Menschheit unwiderruflich beendet ist. Genau dies macht die Bestimmung von gesellschaftlichen Zielen des Wirtschaftens so wichtig wie noch nie. Das erste Zitat von Wiesenthal enthält auch einen Hinweis auf eben diese Aufgabe: Er schreibt, dass Entscheidungen delegiert (!!) werden sollten. Genau dies ist der Knotenpunkt: Über die Ziele dieser Beauftragung und über die Auswahl der Beauftragten muss politisch entschieden werden, Agenda 21 statt Agenda 2010 eben. Wenn politisch nichts als die nackte Notwendigkeit der Anpassung an einen unlenkbaren, nicht diskutierbaren Prozess bleibt, dann wird aus dem traditionellen liberalen Fortschrittsoptimismus die totalitäre Liberalisierung als Anpassung des Menschen an diesen Prozess und die Erzeugung von Menschenabfall.

Das Eingangsbeispiel zeigt sicher die – vielleicht etwas rohe – Kreativität der Individuen im Umgang mit ihren Ressourcen, sie gewinnen in dem Machtgeflecht, in dem sie stehen, virtuos ein Stück Sicherheit. Dies erübrigt aber nicht eine Bewertung: Ihr Verhalten ist würdelos und ihre Beziehung Stoff für eine Tragödie. Ich-AGs sind Tragödien.

 

LITERATUR:

»Boheme mit Lebensversicherung. Wovon wir reden, wenn wir von der Angst vor Abstieg reden: Ein Feuilletongespräch über den Fall durch das soziale Netz und den forcierten Kampf um Anerkennung«, in: FR, 7.8.04

Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag

Wolfgang Fach (2003): Die Regierung der Freiheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag

Michel Foucault (2000): »Die Gouvernementalität«, in: Ulrich Bröckling u. a.: Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 41ff.

Francis Fukuyama (2000): »Ich oder die Gemeinschaft«, in: Thomas Assheuer, Werner A. Perger (Hrsg.): Was wird aus der Demokratie?, Opladen: Leske u. Budrich, S. 19ff.

William Gibson (2000): Die Neuromancer-Trilogie, München: Heyne

 

 

Kasten:

Das Janusgesicht des liberalen Denkens

Wolfgang Fachs Streifzug durch die Philosophiegeschichte

Wenn es um die Regierung /Regulierung der Freiheit geht, ist zunächst von elementarer Bedeutung zu klären, was den Einzelnen konstituiert. Entgegen der Tradition stellt sich nämlich nach und nach heraus, dass das Ich komplex ist. In der klassischen politisch-philosophischen Diskussion wird erkannt, dass die Liberalisierung das Individuum zerstreut. Daraus folgt, dass ein »roher« Mensch zu gesellschaftlich konstruierten Zielen geführt werden muss. Später wird die Spannung zwischen Subjekt und sozialer Umwelt nicht mehr normativ, sondern radikal empirisch aufgelöst (Durkheim): Zur Erhaltung des Einzelnen und der gesellschaftlichen Organisation ist eine Unterordnung am Arbeitsplatz notwendig, die genügsame Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben. Dabei wird schon die Selbsterziehung durch das aktive Individuum erörtert (Franklin). Kontrollierende Effekte erwarten die Theoretiker zunächst von der Natur (Smith), später von einer internalisierten göttlichen Kontrolle (Gewissen) oder von der Architektur des Panoptikums, bei der sich jeder ständig beobachtet fühlen muss.

Neben dieser Grundidee einer Kontrolle des Individuums von einem Zentrum her wird aber von vornherein auch die entgegengesetzte Idee verfolgt: Ein nicht vergesellschaftetes Außerhalb in den Individuen wird geradezu als Voraussetzung des Funktionierens der Gesellschaft gesehen. Die Debatte geht entsprechend um die Frage, wie das hieraus entstehende notwendige Risiko organisiert werden könne. Dazu wird anfänglich über die angemessene Repräsentation des Volkes diskutiert, bei Hobbes noch der absolute Herrscher, ab Locke die repräsentative Versammlung. Aber auch bei diesem Ansatz muss über Sicherungsstrategien nachgedacht werden, den Ausschluss aller Besitzlosen zum Beispiel (Hume) oder aller Ungebildeten (Mill). Andere sehen dagegen gerade im allgemeinen Wahlrecht die Chance des Ausgleichs der Gefährdungen (Madison). Die Gewaltenteilung ist das zweite zentrale Instrument der Organisation des Risikos. In ihr erhält wiederum die Judikative, insbesondere ein Oberstes Gericht besondere Bedeutung bei der Verhinderung von Machtmissbrauch durch Mehrheiten. Neben diesen gewissermaßen nachgelagerten Maßnahmen werden jedoch auch Möglichkeiten der konstruktiven Gestaltung der politischen Öffentlichkeit diskutiert, nämlich die Befriedung der religiösen Konflikte (Hobbes, Rousseau) sowie die Rolle der Publizistik (Kant, Hegel).

Die Gefährdungen, die bei der Regulierung der Freiheit gesehen werden, ändern sich grundlegend, sobald der Kampf aller gegen alle zum Kampf zweier Kollektive zu werden droht, ebenso wie die Vorstellung, was ein Individuum sei: Wenn bisher der Mensch durch ein Spannungsverhältnis charakterisiert wurde (Natur-Gesellschaft, Trieb-Vernunft usw.), so wird jetzt entweder von einer spannungslosen Harmonie ausgegangen oder sie wird normativ gefordert. Konflikte sind in der Industriesoziologie (Elton Mayo, W. H. Whyte) nur Missverständnisse. Ebenso einflussreich ist die Vorstellung, dass das Individuum nicht mehr innengeleitet, sondern außengeleitet sei durch disziplinierende Konsumstandards (D. Riesman, D. Carnegie).

Auf diesem Feld wohlfahrtsstaatlichen Denkens begründet auch Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit. Er geht davon aus, dass die sozialen Ungleichheiten so zu gestalten (!) seien, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen. Dann sei Sozialneid nicht berechtigt. Die Theorie der sozialen Kosten (R. H. Coase) entdeckt, dass ein Entweder-oder des Rechthabens Konflikte nicht angemessen erfasst. Die Individuen stünden in einer Schadensgemeinschaft, in der ein Kosten-Nutzen-Kalkül beiden Konfliktbeteiligten ermögliche, am Ende besser dazustehen als vorher.

Mit dem Niedergang des bürokratischen Knappheits- und Anspruchsmanagements des Keynesianismus, so Fach, verallgemeinert sich eine unterschwellige Kritik an diesem »unmännlichen« Herdenverhalten. Ein neues psycho-ökonomisches Regime der »gezähmten« Vitalität, das Sicherheit als das Gegenteil von Freiheit auffasst, gewinnt Raum: Das Individuum ist Grundeinheit der Gesellschaft im Sinne einer Ich-AG und muss Risiken eingehen sowie deren Folgen verantworten, wobei auch das private Leben der Ertragssteigerung im Netzwerk der Beziehungen dient. Dabei ist von vornherein klar, dass nicht jeder gewinnen kann. Wenn jedoch die äußeren Möglichkeiten und das eigene Potenzial vom Individuum ins Gleichgewicht gebracht werden, kann es trotz fehlenden Erfolges Zufriedenheit erreichen. Damit erhält die Selbstkonstruktion – bis hin zur Selbstkonstruktion des Geschlechts (J. Butler) – zentrale Bedeutung. Die für N. Luhmann noch funktional notwendige Trennung zwischen privatem und sozialem Leben, das Nichtwissen über diese Einordnung durch Emanzipation verschwindet. Die Konzepte des Selbstmanagements und der Ich-AG organisieren, so Fachs Pointe, die Freiheit wie in der Fabrik.

Fachs dichte Interpretation der Doppelgesichtigkeit der Geschichte des liberalen Denkens konnte hier nur skizziert werden. Seine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus ist spannend, seine Kernthese überzeugend. Er macht außerdem Appetit auf eine eigene Lektüre der Klassiker. Die kommentierte Auswahlbibliographie, die er angefügt hat, kann dabei helfen.

Jörg-Michael Vogl

Wolfgang Fach: Die Regierung der Freiheit, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 2003 (234 S., 10,00 €)