Michael Ackermann

Editorial

Wer sich ausgehend von den Hartz-IV- Protesten einen Aufschwung linker Politik und den Keim sozialreformerischer oder gar -revolutionärer Umbrüche verspricht, sollte mit Komplikationen rechnen. Denn obwohl die Entstehung einer neuen Linkspartei neben der schwindsüchtigen SPD nur eine europäische Normalie wäre, wird sie sich in der seit 1989 ziemlich neuen Bundesrepublik nicht leicht vollziehen. Schon die Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland dürfte den Spielraum für eine linkssozialdemokratische Neupartei neben einer gestärkten PDS schmal halten. Die je verwendeten Gerechtigkeitsbegriffe beinhalten nicht das Gleiche, und eine Parole wie »Arm gegen Reich« spaltet gewiss schon ab 2000 Euro netto aufwärts. Noch dazu ist auch ein rechtsextremistischer Populismus in der Lage, sich der »soziale Fragen« zu bedienen, wie die jüngsten Wahlen im Osten zeigen.

Es war einmal Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidat der SPD, der auf Kohls Versprechen von blühenden Landschaften mit der Kostenfrage reagierte. Brutaler und dümmer konnte er gar nicht reagieren. Der Untergang der DDR war unabwendbar, und ohne die beschleunigt vollzogene Einheit wären Abwanderung und Zerrüttung noch extremer ausgefallen. Lafontaine und übrigens auch die Grünen konnten das damals durchaus wissen, setzten aber auf Zweistaatlichkeit. Damit wurde in großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung ein bis heute anhaltendes Ressentiment gegen »die Westler« gefördert. Zu Grunde liegt dem auch, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung die lebensgeschichtlich tief gehende Kränkung erfuhr, dass das vergangene System zwar ihre Arbeitskraft ausgebeutet, aber für niemanden Revenuen hinterlassen hatte. So gab es dort auch kaum eine Vorstellung davon, auf welcher Basis ein Sozialstaat funktioniert und was er kostet. Um es verkürzt auszudrücken: Kein Cent der Rentenzahlung Ost ist individuell und gesellschaftlich »erwirtschaftet« worden. Trotzdem wird der geschichtlich erzwungene wie beispiellose Akt gesellschaftlicher Solidarität seit 1990 oft nur als Selbstverständlichkeit betrachtet. Dieser Gedankenlosigkeit wird dann mit »Anspruchsdenken« geantwortet.

Da muss ein Bundespräsident, der die Angleichung der Lebensverhältnisse in diesem Lande in Frage stellt, Empörung ernten? Tatsache ist, dass es ein solches grundgesetzlich verordnetes Streben nach Angleichung auch in der alten Bundesrepublik nur als mühevollen, teuren und in Teilen bis heute nicht gelungenen Prozess gegeben hat. Kaum ein Ostdeutscher kann nachvollziehen, wie sich das Nord-Süd-Gefälle in Westdeutschland über ein paar Jahrzehnte hinweg umkehrte, wie stark die Kontraste zwischen einzelnen Regionen noch sind, welche Wanderungsbewegungen und Mobilitätszumutungen es gegeben hat oder wie die sozialpolitischen Konflikte beim Niedergang der Textil-, Stahl- und Werftindustrie mit staatlichen Mitteln und teils missbräuchlicher Verwendung von Geldern der BfA und der Rentenkasse abgefedert wurden. Und schon damals ist es der westdeutschen Linken nicht gelungen, einen antikapitalistischen Grundtenor zu etablieren. Stattdessen setzte sich auch in diesen Krisenphasen noch einmal eine von Gewerkschafts- und Parteienkompromissen begleitete Anpassung an die kapitalistische Restrukturierung durch.

Aus der Gemengelage von damals lässt sich also schlecht ein Vorbild für die Abwehr eines »Sozialkahlschlags« heute ableiten. Überhaupt stellt sich die Frage, wie ein »radikalreformerischer Kurs« unter verschärf- ten kapitalistischen Rahmenbedingungen  bewegungspolitisch Erfolg haben könnte, wenn seine Vorstellungen von Systemtrans- zendenz eher unschärfer geworden sind.

Die Diskussionen in dieser Zeitschrift drehen sich schon länger um die Notwendigkeit und Möglichkeit der Steuerung der politischen Prozesse einer sozialverantwortlichen Demokratie. Zuletzt hat der Beitrag von Helmut Wiesenthal (4/04) eine Diskussion über den Charakter von »Liberalisierung« und Freiheitsbegriff, über die Behauptung der »Alternativlosigkeit« von Politik angesichts ökonomischer »Notwendigkeiten« oder ihre Neukonstituierung als »Megaphilosophie« ausgelöst. Zusammen mit Gedanken über alternative Formen des Wirtschaftens prägt sie das »Forum« dieses Heftes.

Damit verknüpft ist auch Herbert Hönigsbergers Artikel über eine atemlose politische Klasse, in dem der Autor die Frage aufwirft, ob und wie denn die Demokratie mit dem Kapitalismus leben könne. Dass die Antwort nicht vorgegeben ist, sondern einem ergebnisoffenen Prozess geschuldet sein wird, hat Dick Howard aus US-amerikanischer Perspektive verschiedentlich dargelegt. Im letzten Heft nun stellte Martin Altmeyer Howards Bücher über die »Grundlegung der amerikanischen Demokratie« und »Das Gespenst der Demokratie« vor (was im Inhaltsverzeichnis leider verloren ging) und nahm damit noch einmal Howards zentralen Topos auf. Unter welchen Voraussetzungen der US-Kapitalismus in den Zeiten von Bush-Regierung und Irak-Krieg politisch gestaltbar bleibt, das war auch eine der Fragen, die Martin Altmeyer in seinen sechs »Korrespondenzen aus der Neuen Welt« anschaulich bearbeitete. Die Redaktion bedankt sich für die Serie, die er mit der letzten Ausgabe und seiner Rückkehr nach Frankfurt abgeschlossen hat.