Wer sich ausgehend von den Hartz-IV- Protesten einen
Aufschwung linker Politik und den Keim sozialreformerischer oder gar
-revolutionärer Umbrüche verspricht, sollte mit Komplikationen rechnen. Denn
obwohl die Entstehung einer neuen Linkspartei neben der schwindsüchtigen SPD
nur eine europäische Normalie wäre, wird sie sich in der seit 1989 ziemlich
neuen Bundesrepublik nicht leicht vollziehen. Schon die Spaltung zwischen Ost-
und Westdeutschland dürfte den Spielraum für eine linkssozialdemokratische
Neupartei neben einer gestärkten PDS schmal halten. Die je verwendeten
Gerechtigkeitsbegriffe beinhalten nicht das Gleiche, und eine Parole wie »Arm
gegen Reich« spaltet gewiss schon ab 2000 Euro netto aufwärts. Noch dazu ist
auch ein rechtsextremistischer Populismus in der Lage, sich der »soziale
Fragen« zu bedienen, wie die jüngsten Wahlen im Osten zeigen.
Es war einmal Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidat der SPD,
der auf Kohls Versprechen von blühenden Landschaften mit der Kostenfrage
reagierte. Brutaler und dümmer konnte er gar nicht reagieren. Der Untergang der
DDR war unabwendbar, und ohne die beschleunigt vollzogene Einheit wären
Abwanderung und Zerrüttung noch extremer ausgefallen. Lafontaine und übrigens
auch die Grünen konnten das damals durchaus wissen, setzten aber auf
Zweistaatlichkeit. Damit wurde in großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung
ein bis heute anhaltendes Ressentiment gegen »die Westler« gefördert. Zu Grunde
liegt dem auch, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung die
lebensgeschichtlich tief gehende Kränkung erfuhr, dass das vergangene System
zwar ihre Arbeitskraft ausgebeutet, aber für niemanden Revenuen hinterlassen
hatte. So gab es dort auch kaum eine Vorstellung davon, auf welcher Basis ein
Sozialstaat funktioniert und was er kostet. Um es verkürzt auszudrücken: Kein
Cent der Rentenzahlung Ost ist individuell und gesellschaftlich
»erwirtschaftet« worden. Trotzdem wird der geschichtlich erzwungene wie
beispiellose Akt gesellschaftlicher Solidarität seit 1990 oft nur als
Selbstverständlichkeit betrachtet. Dieser Gedankenlosigkeit wird dann mit
»Anspruchsdenken« geantwortet.
Da muss ein Bundespräsident, der die Angleichung der
Lebensverhältnisse in diesem Lande in Frage stellt, Empörung ernten? Tatsache
ist, dass es ein solches grundgesetzlich verordnetes Streben nach Angleichung
auch in der alten Bundesrepublik nur als mühevollen, teuren und in Teilen bis
heute nicht gelungenen Prozess gegeben hat. Kaum ein Ostdeutscher kann
nachvollziehen, wie sich das Nord-Süd-Gefälle in Westdeutschland über ein paar
Jahrzehnte hinweg umkehrte, wie stark die Kontraste zwischen einzelnen Regionen
noch sind, welche Wanderungsbewegungen und Mobilitätszumutungen es gegeben hat
oder wie die sozialpolitischen Konflikte beim Niedergang der Textil-, Stahl-
und Werftindustrie mit staatlichen Mitteln und teils missbräuchlicher
Verwendung von Geldern der BfA und der Rentenkasse abgefedert wurden. Und schon
damals ist es der westdeutschen Linken nicht gelungen, einen
antikapitalistischen Grundtenor zu etablieren. Stattdessen setzte sich auch in
diesen Krisenphasen noch einmal eine von Gewerkschafts- und
Parteienkompromissen begleitete Anpassung an die kapitalistische
Restrukturierung durch.
Aus der Gemengelage von damals lässt sich also schlecht ein
Vorbild für die Abwehr eines »Sozialkahlschlags« heute ableiten. Überhaupt
stellt sich die Frage, wie ein »radikalreformerischer Kurs« unter verschärf-
ten kapitalistischen Rahmenbedingungen
bewegungspolitisch Erfolg haben könnte, wenn seine Vorstellungen von
Systemtrans- zendenz eher unschärfer geworden sind.
Die Diskussionen in dieser Zeitschrift drehen sich schon
länger um die Notwendigkeit und Möglichkeit der Steuerung der politischen
Prozesse einer sozialverantwortlichen Demokratie. Zuletzt hat der Beitrag von
Helmut Wiesenthal (4/04) eine Diskussion über den Charakter von
»Liberalisierung« und Freiheitsbegriff, über die Behauptung der
»Alternativlosigkeit« von Politik angesichts ökonomischer »Notwendigkeiten«
oder ihre Neukonstituierung als »Megaphilosophie« ausgelöst. Zusammen mit
Gedanken über alternative Formen des Wirtschaftens prägt sie das »Forum« dieses
Heftes.
Damit verknüpft ist auch Herbert Hönigsbergers Artikel über eine atemlose politische Klasse, in dem der Autor die Frage aufwirft, ob und wie denn die Demokratie mit dem Kapitalismus leben könne. Dass die Antwort nicht vorgegeben ist, sondern einem ergebnisoffenen Prozess geschuldet sein wird, hat Dick Howard aus US-amerikanischer Perspektive verschiedentlich dargelegt. Im letzten Heft nun stellte Martin Altmeyer Howards Bücher über die »Grundlegung der amerikanischen Demokratie« und »Das Gespenst der Demokratie« vor (was im Inhaltsverzeichnis leider verloren ging) und nahm damit noch einmal Howards zentralen Topos auf. Unter welchen Voraussetzungen der US-Kapitalismus in den Zeiten von Bush-Regierung und Irak-Krieg politisch gestaltbar bleibt, das war auch eine der Fragen, die Martin Altmeyer in seinen sechs »Korrespondenzen aus der Neuen Welt« anschaulich bearbeitete. Die Redaktion bedankt sich für die Serie, die er mit der letzten Ausgabe und seiner Rückkehr nach Frankfurt abgeschlossen hat.