Wolfgang
Geiger
»Privilegien, Verfolgung, Vertreibung ...«
Der Anti-Antisemitismus und die
Macht der Vorurteile – Erfahrungen eines Lehrers
Antisemitische
Vorurteile bei Schülern: Sind die Lehrer zu mangelhaft für ihre Aufgabe
gerüstet? Übertragen sie nur ihre eigenen Antipathien gegen Juden? Unser Autor
zieht sein Fazit aus jahrzehntelanger Erfahrung: Es existiert ein
entscheidendes Defizit bei den Fakten; deutsch-jüdische Geschichte wird
einseitig und verzerrend behandelnd, zu sehr konzentrieren sich die Lehrbücher
auf Verfolgungsgeschichte und Holocaust, zu sehr erscheinen Juden als Objekte
und Opfer deutscher Geschichte, zu wenig als Träger einer eigenen Kultur und
als Mitgestalter der modernen Welt.
»Es hat in der neueren deutschen Geschichte eine Zeit
gegeben, in der viele gern gesehen hätten, wenn Jesus ein Sachse gewesen wäre.«
Einleitung des Kapitels »Juden im christlichen Abendland« , Rückspiegel Bd. 2,
1995 (Geschichtslehrwerk für die 8. Klasse)
Schulunterricht als antirassistische »Schutzimpfung«
Als sich 1960 eine vom Verband
Deutscher Studentenschaften organisierte Tagung erstmalig mit der »Darstellung
des Judentums in der Lehrerbildung und im Schulunterricht« befasste, berief
sich Ekkehard Krippendorff einleitend auf Theodor Adornos jüngste und für ihn
ungewöhnlich optimistische Beurteilung der Möglichkeit von »Aufarbeitung der
Vergangenheit« hinsichtlich des Antisemitismus:
»Soweit man ihn [= den Antisemitismus] in den Subjekten
bekämpfen will, sollte man nicht zu viel vom Verweis auf Fakten erwarten, die
sie vielleicht nicht an sich heranlassen, oder als Ausnahmen neutralisieren.
Vielmehr sollte man die Argumentation auf die Subjekte wenden, zu denen man
redete. Ihnen wären die Mechanismen bewusst zu machen, die in ihnen selbst das
Rassevorurteil verursachen. Aufarbeitung der Vergangenheit als Aufklärung ist
wesentlich solche Wendung aufs Subjekt, Verstärkung von dessen
Selbstbewusstsein und damit auch von dessen Selbst. Sie sollte sich verbinden
mit der Kenntnis jener unverwüstlichen Propagandatricks, die genau auf jene
psychologischen Dispositionen abgestimmt sind, deren Vorhandensein in den
Menschen wir unterstellen müssen. Da diese Tricks starr sind und von begrenzter
Zahl, so bereitet es keine gar zu großen Schwierigkeiten, sie auszukristallisieren,
bekannt zu machen und für eine Art von Schutzimpfung zu verwenden.«(1)
Als vierzig Jahre später das Düsseldorfer Attentat – meines
Wissens bis heute unaufgeklärt – im Milleniumsjahr 2000 die Öffentlichkeit
erschütterte, hatten seit fast drei Jahrzehnten in Schule und in Öffentlichkeit
regelmäßige »Schutzimpfungen« im Sinne Adornos stattgefunden. Gleichwohl machte
man sofort ein Aufklärungsdefizit in der Schule verantwortlich, die Auseinandersetzung um den Geschichtsunterricht
kulminierte in der unglaublichen Forderung des Bremer Kultusministers und damaligen
Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, die Lehrer sollten in ihrem
Unterricht durch Hospitationen kontrolliert werden. Niemand kam damals auf die
Idee, einen Blick in die von den Kultusbehörden autorisierten Lehrbücher zu
werfen.
Wie ist der derzeitige Stand der »Schutzimpfung« gegen
Antisemitismus im Schulunterricht? Im Vorfeld der Ausstellung »Europas Juden im
Mittelalter«, die ab November in Speyer zu sehen ist, wollen wir nachsehen, wie
denn diese Epoche, Angelpunkt der Vorurteilsbildung, im Unterricht thematisiert
wird.
Impfung wogegen? Virus »Geldjuden«
Die Problematik des Umgangs mit der
jüdischen Geschichte ist noch nicht damit gelöst, dass die Lehrbücher einzelne
Pflichtthemen, die sich am Leitmotiv der Verfolgung orientieren, stärker
berücksichtigen als früher. Dahinter wird kaum greifbar, wie Juden in der
christlichen Umwelt über Jahrhunderte wirklich lebten, warum sie »bei uns«
lebten und wie sich ihre Situation im Laufe der Zeit veränderte. Und selbst der
(im Rahmen der Möglichkeiten) aufrichtigste Versuch aufklärerischen Unterrichts
sieht sich oft mit ungewollten Resultaten konfrontiert, denn der Anti-Antisemitismus
scheint kontraproduktiv auch seine eigene Antithese zu bestätigen, nämlich
antisemitische Klischees und Vorurteile, wie im Nachfolgenden gezeigt werden
soll.
So hieß es in einer Schülerarbeit (Lernkontrolle) in
Geschichte Klasse 8 (Gymnasium): »Die Kreuzritter wollten die Juden umbringen,
denn die Juden hatten größere Reichtümer (Geld, Land ...) und mehr Rechte als
die Christen. Die Kreuzritter wollten dem aber ein Ende bereiten, so kam es zur
Judenverfolgung. ... Sie ermordeten kaltblütig jeden, der nicht den Christen
angehörte, sie wollten sich rächen ...« Dies ist eines von vielen Beispielen,
repräsentativ nicht für alle, aber für viele Schülerinnen und Schüler, aus
meiner eigenen Erfahrung als Geschichtslehrer. Thema war der 1. Kreuzzug, auf
dessen Weg gleich zu Beginn in den rheinischen Städten auch das erste
systematische Pogrom an der dort ansässigen jüdischen Bevölkerung begangen
wurde. In Ergänzung des Lehrbuchs behandelte ich mit meinen Schülern die
Vorgeschichte der Verfolgungen, und zwar beispielhaft die planmäßig
durchgeführte Ansiedlung von jüdischen Kaufleuten in Speyer »zur Mehrung der
Ehre der Stadt« durch den Stadtherrn, Bischof Rüdiger Hutzmann, im Jahre 1085.
Die entsprechende Urkunde, eines der wichtigsten mittelalterlichen Dokumente,
sollte den Status der jüdischen Gemeinde auch bei seinen Nachfolgern
garantieren. Doch wer meint, das sperrige Thema im Unterricht auf diese Weise
so einfach in den Griff zu bekommen, muss sich eines Besseren belehren lassen.
Neben Resultaten wie dem oben genannten kam es dabei auch zu folgender
Eintragung eines Schülers in sein Geschichte-Hausheft: »Der Bischof meint, dass
er den Juden zu gute Lebensbedingungen gegeben hat.« Das kleine Wörtchen »zu«
reicht, um das Ganze in sein Gegenteil zu verkehren ...
Was steht aber im Lehrbuch? Es erwähnt die antijüdischen
Pogrome 1096 in den rheinischen Städten, erklärt aber an dieser Stelle nicht,
wie die jüdischen Gemeinden entstanden waren: »Dort gab es reiche
Judengemeinden, die bisher im Frieden mit den christlichen Bürgern gelebt
hatten und den Schutz der Kaiser und Bischöfe genossen. Die Kreuzfahrer dagegen
sahen in den Juden die Mörder des Heilandes Jesus. Sie überfielen sie auf
offener Straße und schlugen sie tot ...« (Anno 2, S. 35). Was hier mit der
Insistenz auf den Schutz durch Kaiser und Bischöfe wohl dem Leser vermittelt
werden soll, wird durch dessen im selben Atemzug erzählte Wirkungslosigkeit ad
absurdum geführt, die Motive der »Beschützer« bleiben ungenannt, nicht aber die
Motive der Judenfeinde, und zwar die direkten: Juden als »Mörder des Heilandes
Jesus«, wie die indirekten: »reiche Judengemeinden«. Die Schülerreaktionen
zeigen, dass es nicht so einfach möglich ist kontextlos von »reichen Juden« zu
sprechen ohne sofort das antisemitische Klischee zu reproduzieren.
Die winzigen jüdischen Gemeinden des frühen Mittelalters wie
im Beispiel Speyers gingen vorwiegend auf seit der Karolingerzeit gezielt
angeworbene Händler zurück, die dafür die »green card« des Mittelalters
bekamen: das Privileg einen Fernhandel aufzubauen und dafür weitgehend nach
eigenen religiösen und kulturellen Gesetzen leben zu dürfen. Doch »Privileg«
steht in unserem modernen Verständnis synonym für moralisch unberechtigtes
Vorrecht; wenn Privilegien und Juden ohne historische
Begriffsklärung zusammentreffen, ist der Teufelskreis des Vorurteils bereits
wieder geschlossen, obwohl er aufgebrochen werden sollte. So heißt fatalerweise
im Oberstufenwerk Geschichte und Geschehen eine Randüberschrift zum
Thema Juden: »Privilegien, Verfolgung, Vertreibung« (S. 169). Doch Privilegien
waren nur mittelalterliche Lizenzen für alle möglichen wirtschaftlichen
Betätigungen.
Das universelle Rudiment aller Kenntnisse über die jüdische
Vergangenheit, das viele Schüler schon internalisiert haben, noch bevor das
Thema im Geschichtsunterricht angesprochen wird, ist, dass die Juden
Geldverleiher wurden, weil den Katholiken das Zinsnehmen verboten war. Das
didaktische Rudiment fachwissenschaftlicher Erklärung lautet in unserem Buch
so: »Im frühen Mittelalter waren sie als Fernhändler unentbehrlich. Zunehmend
wurden sie jedoch von christlichen Kaufleuten aus dem Warenhandel in das Geld-
und Pfandleihgeschäft abgedrängt. Oft nahmen sie sehr hohe Zinsen um ihr Risiko
abzusichern und die Steuern entrichten zu können, die Könige und Fürsten zu
ihrem Schutz forderten. Für viele Christen waren ihre Schulden bei den Juden
erdrückend. Der Reichtum weckte Neid und Hass. ...« (S. 100) Man beachte auch
hier die »logische« Entwicklung: Erst wurden die Christen von den Juden
abhängig, dann bei ihnen verschuldet ... – schon bei der Quantifizierung »viele
Christen« schlägt jedoch der Versuch der Erklärung in eine klischeehafte
Konfrontation zum »Geldjuden« um.
Die notwendige didaktische Reduktion des Stoffes in Lehrbuch
und Unterricht birgt immer die Gefahr der Verfälschung durch Verkürzung. Dies
droht durchgängig beim Thema Wucher und Schulden; kaum ein Lehrwerk ordnet den
Geldverleih durch die Juden in eine allgemeine Darstellung des Kreditwesens
ein. Lediglich in dem Themenheft Jüdisches Leben in christlicher Umwelt
wird zum Beispiel der Historiker Ben-Sasson über die Situation nach der
Vertreibung der Juden im 14. Jahrhundert zitiert: »Tatsache war, dass die
wenigen in der Stadt verbliebenen christlichen Geldverleiher, der jüdischen
Konkurrenz ledig, weit schonungsloser mit ihren Schuldnern verfuhren.« (S. 46).
Entsprechend geißelte 1494 Sebastian Brant in seinem Narrenschiff auch
die christlichen Wucherer: »Der Juden Zins war leidlich genug,/ Aber sie können
nicht mehr bleiben,/ Die Christenjuden sie vertreiben,/ Die mit dem Judenspieß
selbst rennen.«(2)
Die neuere und neueste Schulbuchgeneration bemüht sich
gewiss um eine hermeneutische Identifizierung mit den Juden, das heißt um ein
Sich-hinein-Versetzen in deren Lage, doch finden sich kaum die dafür
notwendigen kontextuellen Erklärungen. Die vorgebrachten rationalen Argumente
zur Erklärung des »Wuchers«: Das Risiko, die Rarität des Geldes oder die
stereotype Erklärung mit den Schutzgeldern und Steuern, die die Juden zahlen
mussten ..., reichen nicht aus, um die Verknüpfung zwischen Zinshöhe,
Verschuldung und Schuld im moralischen Urteil aufzubrechen, jeder Leser wird
sofort ein Verständnis auch für die Lage der dadurch in Not geratenen Schuldner
empfinden: Verschuldung der einen – Schuld der anderen, wenn auch ungewollt.
Auf diese Weise entstehen dann selbst beim besten Willen zum Verständnis der
jüdischen Seite bei den Schülern Formulierungen wie die oben zitierte: »... man
wollte sich rächen.«
Eine sinnvolle Erklärung kann daher nur durch eine
differenzierte Einbettung in die sozioökonomische Gesamtsituation erfolgen.
Wofür wurden Kredite aufgenommen? Wir müssen uns dabei von unseren heutigen
Vorstellungen lösen. Als sich die Geldwirtschaft erst wieder richtig
entwickelte, handelte es sich zunächst nur um kurzfristige Anleihen: Wer durch
eine Handelstransaktion Gewinnspannen von 100 Prozent und mehr erzielen konnte,
konnte wohl zur Finanzierung einen Zinssatz von 33 Prozent und mehr entrichten.
Der Kreditgeber war hier fast so etwas wie ein Beteiligter am Geschäft, und
genau diese Idee setzten die christlichen Bankiers zur Umgehung des kirchlichen
Zinsverbots um. Die Beteiligungsidee entsprach der damals jüngsten Innovation
im Handelwesen, die zunächst im mediterranen Fernhandel von der damals
führenden Stadt Genua entwickelt wurde: Kommanditäre (von ital. commenda)
waren als Kapitalgeber zu 25 bis 50 Prozent am Unternehmen beteiligt, wie ein
überlieferter Kontrakt von 1163 für eine Handelstour von Genua ins arabische
Tunis belegt, deren Gewinn zur Hälfte geteilt wurde. Dieses Prinzip breitete
sich zumindest auch im süddeutschen Raum aus: »Aus gelegentlichen
Personalgesellschaften mehrerer Kaufleute für bestimmte Unternehmen wurden
Kapitalgesellschaften auf der Grundlage des Commenda-Vertrags (Kapitaleinlage
ohne persönliche Mitarbeit), die ein reines Kapitalrenteneinkommen gewährten.
... Das Geldgeschäft wurde von großen (Familien-)Gesellschaften wie den Fuggern
monopolistisch organisiert und ermöglichte die Zusammenballung großer Vermögen,
die wieder zum Erwerb genutzt wurden. Kapital und Firma wurden selbständig.«(4)
Auch von jüdischer Seite wurde diese Idee aufgegriffen, so beschloss eine
jüdische »Synode« in Mainz 1220: »Man darf nur dann Geld verleihen, falls man
am Geschäft des Leihenden auf Gewinn und Verlust zur Hälfte beteiligt wird.«(5)
Wenn die Forderung nach 50 Prozent Beteiligung zunächst sehr hoch erscheint, so
ist doch der entscheidende Punkt die entsprechende Beteiligung am Risiko.
Freilich blieb es beim Wunsch nach solch einer »jüdischen Commenda«, denn diese
Form der Integration durch Gleichberechtigung war in der christlichen
Gesellschaft nicht erwünscht. Übrigens wurde und wird in strenggläubigen
islamischen Ländern heute noch das Zinsgeschäft als Unternehmensbeteiligung
kaschiert.(6)
Juden wurden wie Christen zu Geldverleihern dadurch, dass
sie im frühen Mittelalter selbst als Kaufleute sowie als Geldwechsler auf
Märkten und Messen Kapital erworben hatten. Als durch die Lockerung des
Zinsverbots beziehungsweise durch dessen Umgehung die Italiener im Finanzwesen
führend wurden, und dieses sich schließlich überall durchsetzte, entstand als
fatale Folge auf längere Sicht das Phänomen, dass nicht kreditwürdige Kunden in
den Augen christlicher Bankiers, also eher die kleinen Leute, die nicht über
die Runden kamen, »zum Juden« gehen mussten und daraus ein Verschuldungs- und
Verelendungsprozess mit sozialer Brisanz entstehen konnte. Im Übrigen war die
Handelstätigkeit von Juden noch im 12. Jahrhundert uneingeschränkt und die
Pfandleihe nur eine ihrer beruflichen Betätigungen. Auch nach der zunehmenden
Ausgrenzung aus der Gesellschaft blieben noch andere Tätigkeiten wie die des
Trödlers und Kleinhändlers auf Märkten und so weiter, außerdem sicherten die
mit Tätigkeiten außerhalb der jüdischen Gemeinde erzielten Einkommen wiederum
das Einkommen für alle handwerklichen Berufe innerhalb der Gemeinde, deren
Mitglieder nach Einrichtung der Gettos übrigens zumeist in bescheidenen, wenn
nicht ärmlichen Verhältnissen lebten.
»Geldverleih« oder »Kreditwesen«?
Juden waren also nicht nur
Geldverleiher und nicht alle Geldverleiher waren Juden. Diese einfache
historische Wahrheit hat es auch heute noch schwer, zur Geltung zu kommen. Eine
differenzierte Betrachtung der jüdischen Lebenswelt findet sich in den
Lehrwerken, wenn überhaupt, dann nur für das frühe Mittelalter; mit der
Einschränkung der beruflichen Freiheiten durch Zünfte und Gilden und der
schrittweisen gesellschaftlichen Ausgrenzung seit dem 12./13. Jahrhundert
drängt sich schon fast von selbst die Vorstellung auf, die Juden hätten nur
noch im Geldgeschäft ihre existenzielle Nische gefunden. So verfestigt sich
nolens volens das Vorurteil vom »Geldjuden« als solches, trotz der
obligatorischen Verurteilung der antijüdischen Gewalttaten, trotz deren
materialistischer Erklärung (durch das Sündenbock-Schema usw.). Als ich in
einer 9. Klasse die Entstehung der Französischen Revolution behandelte, zeigte
ich unter anderem eine bekannte Karikatur aus der Zeit, die die leeren Kassen
des französischen Königs dadurch erklärte, dass ein Mönch (oder jedenfalls ein
Kleriker) und ein Adliger Säcke voll Geld wegschleppten. Die Schüler sollten
dies aus der Darstellung selbst erkennen. Während der Geistliche schnell an
seiner Kutte erkannt wurde, war die erste Reaktion einer Schülerin auf die
andere Figur: »Das ist ein Jude.« Das war gar nicht böse gemeint, im Gegenteil,
sie wollte hier einen Aspekt von Antisemitismus in der Karikatur aufzeigen, den
es dort gar nicht gab. Das aufklärerische Schuldbewusstsein des
Anti-Antisemitismus reproduzierte hier ungewollt nicht nur das »normale«
Klischee, sondern das Vorurteil quasi auf der Meta-Ebene als Vorstellung der
Vorstellung, die die Leute vermeintlich haben mussten: Wer reich ist, weil er
stiehlt, muss Jude sein.
Vom Klischee des »Geldjuden« ist es nur ein Schritt zur
Nazi-Parole vom »internationalen Finanzjudentum«. In Wirklichkeit hatte das
katholische Zinsverbot ja nur anfänglich eine Bedeutung, wenn überhaupt; die
Insistenz auf das Zinsverbot und die reduktive Erklärung des sozialen
Antijudaismus mit der Zins- und Verschuldungsproblematik im Geschichts-,
Sozialkunde oder Religions-/Ethikunterricht suggeriert zwangsläufig, das
Geldwesen sei überhaupt »in jüdischer Hand« gewesen (das »Rothschild-Syndrom«).
So heißt es zum Beispiel in Wir machen Geschichte, wo über Seiten der
Leidensweg der mittelalterlichen Juden aufgezeigt wird, über den von Friedrich
II. verliehenen Status der »Kammerknechtschaft« für die Juden: »Da mit der
Kammer das kaiserliche Schatzamt gemeint war, bedeutete dies, dass Juden als
unfreie Finanzobjekte des Reiches betrachtet wurden, die vor allen Dingen hohe
Steuern zahlen mussten. Um diese aufbringen zu können wurden die Juden noch
mehr als früher und schließlich gänzlich zu Geldverleihern.« (S. 134) Hier
kehrt sich die »politische Korrektheit« in ihr Gegenteil um, denn im Versuch,
die vorurteilsbehaftete Tätigkeit durch eine historische Erklärung aufzulösen –
die Juden waren nicht freiwillig Geldverleiher, sie wurden zwangsweise dazu –
wird das Vorurteil in seinem historisch falschen Kern bestätigt: Alle Juden
wurden »gänzlich zu Geldverleihern«. In Weltgeschichte im Aufriss wird
der Historiker Battenberg zitiert: »Dies alles musste schließlich zu einer
weiteren Vorurteilsbildung gegenüber den Juden führen: Da diese den Christen in
aller Regel nur noch als Geldgeber gegenübertraten, verfestigte sich das
negativ besetzte Bild der Christen von den Juden.«(7) Formulierungen wie »dies
musste zu Vorurteilen führen« sind – wenn auch ungewollt – semantisch und
dadurch pädagogisch katastrophal. Vor allem aber vollzieht sich auch der Umkehrschluss
fast ganz von selbst: Wenn alle Juden Geldverleiher waren, waren dann nicht
alle Geldverleiher Juden ...?
Doch das Bild des Geldjuden ist nicht deswegen ein
Vorurteil, weil es zu beklagenswerten Gewalttaten führte, sondern weil es
historisch falsch ist. Wie sah es zum Beispiel dort aus, woher die Rothschilds
kamen, in der Frankfurter Judengasse? Zu Lebzeiten des Stammvaters Meyer
Amschel Rothschild, Ende des 18. Jahrhunderts, »war die Erwerbstätigkeit der
Juden auf das Wechsel- und Pfandleihgeschäft und den Kleinhandel beschränkt.
Die Mehrheit war arm und lebte vom Trödelhandel, von der Pfandleihe und vom
Wechselgeschäft, das insbesondere während der Messen blühte. Einzelne Familien
hatten es im Geldgeschäft zu erheblichem Wohlstand gebracht«(8) – aber eben nur
einzelne, wie die Rothschilds. Dass die Juden ihrer Abdrängung in Pfandleihe
und Geldgeschäft nach der Privilegierung der christlichen Korporationen (Zünfte
und Gilden) erfolgreich entgegenwirken und ökonomische Nischen bewahren
beziehungsweise sogar wieder erobern konnten, zeigt die vom Museum Judengasse
in Frankfurt zusammengestellte Internet-Datenbank, wo sich eine Liste von 43
Berufen mit detaillierten Angaben findet (www.judengasse.de). Etliche der dort
aufgelisteten Berufe belegen die fortgesetzten wirtschaftlichen Beziehungen des
Gettos zur christlichen Umwelt unabhängig von Finanzgeschäften. Für die Spätzeit
des »Mittelalters« aus jüdischer Sicht (d. h. vor der Emanzipation), nämlich
das 18. Jahrhundert, erwähnt dann auch Weltgeschichte im Aufriss »die
breite pauperisierte Masse des so genannten Betteljudentums (vor allem kleine
Hausierer) ..., die aufgrund fehlenden Vermögens den landesherrlichen Schutz
nicht bezahlen konnte und daher ständig von Ausweisung bedroht war. Sie machten
um 1780 etwa 90 Prozent des deutschen Judentums aus ...« (S. 331)
Mit der Internationalisierung und Intensivierung des Handels
im Mittelalter entstand die Notwendigkeit einer modernen Geldwirtschaft, an der
auch die Christen nicht vorbeikonnten. So erhielten zunächst die Mailänder
Kaufleute ein entsprechendes Privileg und gründeten in ganz Europa Filialen
ihrer lombardischen Banken, wenig später folgten die toskanischen Städte und
bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde der Florentiner Gulden
zur ersten Leitwährung des Abendlandes, Venedig wurde im 14. Jahrhundert zum
Tor in die Levante. Dennoch bleibt eine singuläre Verknüpfung »Juden – Geld –
Abneigung« bestehen, denn sowohl inhaltlich wie sprachlich besteht in der
Darstellung ein Unterschied zwischen dem negativ besetzten »Geldverleih«
hinsichtlich der Juden und dem positiv besetzten »Kreditwesen« hinsichtlich der
italienischen Bankiers. So heißt es in Geschichte und Geschehen: »Um bei
den weiten Handelswegen lange Zahlungsfristen und Lieferungsverzögerungen zu
vermeiden, gingen die Kaufleute zur Vorfinanzierung, d. h. zur Verpfändung
künftiger Einnahmen über. Sie räumten Kredite ein, stellten Schecks aus ...
Neben den wagemutigen italienischen Handelsherren traten ebenso risikofreudige
Bankiers. ... Mit ihren Handelsverbindungen fanden gewinnbringende Geschäftspraktiken
und neue Bezeichnungen im Geldwesen den Weg nach Norden über die Alpen.« (S.
197) Dabei hatte es jedoch im 15. Jahrhundert innerhalb der Hanse einen
regelrechten Kampf gegen die lombardischen Banken und den von ihnen eingeführten
»Borgkauf« gegeben, was zur Schließung etlicher Bankfilialen in Norddeutschland
führte, und das, obwohl oder vielleicht gerade weil »der Gebrauch des Kredits
... in der hansischen Welt seit dem 13. Jahrhundert weit verbreitet« war.(9)
Virus »Absonderung«
Zu den klassischen antisemitischen
Vorurteilen gehört auch das der gewollten Absonderung der Juden. So heißt es im
Rückspiegel: »Den Menschen des Mittelalters war der Jude Jesus kein
Problem, wohl aber ihre jüdischen Zeitgenossen. Das – fast – geschlossen
christliche Abendland, das fremde Völker, wenn sie Christen wurden, durchaus
aufnehmen konnte, hatte große Probleme mit den Juden, die ihre Andersartigkeit
beibehalten wollten. ... Besonders die Frommen unter ihnen hielten die Taufe
sogar für einen Verstoß gegen das göttliche Gesetz (hebräisch Thora). Durch
ihre Ablehnung der Taufe wurden sie zu einer gesellschaftlichen Minderheit.«
(S. 91f.) Natürlich werden auch in diesem Lehrbuch, das sein Kapitel »Juden im
christlichen Abendland« mit dem eingangs zitierten denkwürdigen Satz beginnt,
antisemitische Vorurteile und Judenverfolgungen verurteilt. Gleichzeitig wird
jedoch massiv der Eindruck vermittelt, die Juden seien an ihrer Lage selbst
schuld oder zumindest mitschuldig gewesen – nicht an ihrer Verfolgung, aber an
ihrem Ausgestoßensein, das dann die Verfolgungen nach sich zog. Die
Relativierung der Schuld durch deren Aufteilung auf Verfolgte und Verfolger
zeigt sich noch einmal am Schluss: »Die Behandlung der Juden im christlichen
Abendland während des Mittelalters gehört zu den Schattenseiten Europas«, heißt
es dort, aber »für das christlich geprägte Mittelalter gilt, dass das Judentum
ein Fremdkörper blieb, obwohl ohne Judentum das Christentum nicht existieren
würde« (S. 93). Schon die Vokabel »Fremdkörper« ist semantisch ganz eindeutig
nicht eine Anklage gegen die Christen, sondern ein Vorwurf an die Juden.
Unter der Zwischenüberschrift »Die Religionen grenzen sich
ab« wird in Wir machen Geschichte eine Gleichwertigkeit zwischen der
Ausgrenzung durch die Kirche (4. Lateranisches Konzil 1215:
Kennzeichnungspflicht für Juden durch einen gelben Fleck o. Ä.) und einer
Selbstabgrenzung durch die Juden hergestellt: »Auf drei Synoden zwischen 1208
und 1223 verboten Rabbiner persönliche Kontakte mit Christen, ja selbst
Anpassungen an die nicht-jüdische Haar- und Barttracht« (S. 133). Tatsächlich
gab es innerhalb der jüdischen Gemeinden und zwischen den als Autoritäten geltenden
Rabbinern stets Kontroversen über den Grad der Anpassung an die Umwelt, wobei
sich Traditionalisten und Pragmatiker von Anfang an gegenüberstanden. Nach den
ersten Verfolgungserfahrungen sowie Tendenzen zur Auflösung des inneren Zusammenhalts,
die so weit gingen, dass christliche Autoritäten (Kaiser, Bischof) zur Lösung
innerjüdischer Streitfälle und für persönliche Karrieren angerufen wurden (ganz
abgesehen von Übertritten zum Christentum, die sowohl Christen wie Juden
Kopfzerbrechen bereiteten), erhielten Rückbesinnung auf die Tradition und Abgrenzung
sicherlich enormen Auftrieb. Gleichwohl ist es falsch, dies zu einem »Kontaktverbot«
mit Christen hoch zu stilisieren, das zwar für die Christen letztlich möglich,
für die Juden jedoch unmöglich gewesen wäre und als Begriff schon Assoziationen
zum Getto hervorruft. Resultate solcher Parallelisierungen sind dann nicht von
ungefähr Schlussfolgerungen wie jene in einer freien Schülerrecherche zum Thema
Getto (8. Kl.): »Die Entstehung der frühen Gettos ist sowohl auf die Intoleranz
der Christen als auch auf den Wunsch der Juden zurückzuführen, gemeinsam und
abgeschlossen zu leben.« Dass dies als wörtliches Zitat von der entsprechenden
Seite von www.shoa.de übernommen wurde, macht es leider auch nicht
besser ...
Worum ging es aber den in Mainz 1220 versammelten Rabbinern?
»Einmütig haben wir verordnet und unterzeichnet, es gehe kein Jude in
nichtjüdischen Gewändern, er trage keine durchlöcherten Schnürärmel, er habe
auch keine fremde Haartracht und schere nicht den Bart.« Eine äußerliche
Abgrenzung, die gewiss an die Bestimmungen des 4. Lateranischen Konzils
erinnert, doch dort endet auch schon die Parallele. Weitere Bestimmungen
betreffen vielmehr den Umgang mit den Christen, nicht dessen Verbot; so legte
die zweite jüdische Mainzer Synode von 1223 größten Wert auf Redlichkeit, indem
sie zum Beispiel »verordnete, dass sich Juden keinerlei Unehrlichkeit gegen
Christen und keine Münzfälschung zu Schulden kommen lassen sollten.«(10)
Außerdem wurde bei Finanzgeschäften die oben genannte Risikobeteiligung nach
dem Commenda-Prinzip zur Richtlinie gemacht (ohne realisiert werden zu können).
Zum Thema Abgrenzung von den Christen lässt sich zusammenfassend feststellen:
Alles in allem »ging man so weit, dass man die Kontaktmöglichkeiten Einzelner
mit Christen auf das Notwendige beschränkte«(11), dies stellte aber kein Kontaktverbot
dar, wie es zur gleichen Zeit der katholischen Kirche vorschwebte, freilich
ebenfalls ohne Chancen auf Realisierung.
Schuld und Kompensation: »... Juden und Christen: Miteinander leben«
Das Grundproblem der Behandlung
jüdischer Geschichte im Unterricht ist das Verfolgungsparadigma. Trotz der
Pogrome des ersten Kreuzzugs muss man jedoch zwischen einer Periode
sporadischer Verfolgungen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts und einer
anschließenden Periode massiver systematischer Verfolgungen unterscheiden, auf
die erst als dritte Phase die Bildung der Gettos im eigentlichen Sinne
erfolgte(12): Die 1460–62 errichtete Frankfurter Judengasse(13) kann als das
erste Getto in Deutschland gelten, das heißt als ummauerter und nachts sowie an
christlichen Feiertagen durch Tore verschlossener Bezirk außerhalb oder am
Rande der Stadt, und vielleicht als erstes Getto überhaupt, denn es entstand
noch etliche Zeit vor dem später namensgebenden Viertel Ghetto nuovo in
Venedig (1516).
Da jedoch im schuldbewussten Rückblick das Mittelalter seit
dem 1. Kreuzzug 1096 in seiner Ganzheit vom Verfolgungsaspekt verdunkelt wird,
gibt es Versuche, diesen christlich-europäischen »Sündenfall« durch die
Konstruktion eines »goldenen Zeitalters der Juden« in der vorangehenden Ära des
frühen Mittelalters zu kompensieren, im Sinne von: Es muss ja irgendwann auch
einmal »normale« Verhältnisse gegeben haben! In Wir machen Geschichte
und Forum Geschichte wird dazu als Quelle ein persischer Bericht von 850
über die »Radaniten« genannten jüdischen Fernhändler gebracht, die einen
Handelsverkehr zwischen Europa, Byzanz und Orient unterhielten; darin heißt es
bezüglich der Waren, die sie von Westen nach Osten lieferten: »Sie bringen aus
dem Abendland Eunuchen, Sklavinnen, Knaben, Seide, Pelzwerk und Schwerter« (S.
126 bzw. S. 93). In einem ebenfalls abgedruckten Text des Bischofs Agobard von
Lyon (826) heißt es ergänzend dazu: »Wir haben den Christen gepredigt, sie
sollten den Juden keine christlichen Sklaven verkaufen« (Wir machen
Geschichte, S. 126). Im Oberstufenwerk Grundriss der Geschichte 1,
das freilich bereits einer jetzt auszumusternden Generation von Lehrbüchern
angehört (verfasst 1989), heißt es ähnlich über das frühe Mittelalter: »Die
Fernhändler im nördlichen Teil Europas waren freilich in der Regel keine Einheimischen,
sondern die in diesem Gewerbe schon seit der Spätantike tätigen Juden. Im
Austausch gegen Luxusgüter der Muslime trieben sie mit Zentraleuropa einen
blühenden Handel mit Sklaven meist slawischer Herkunft« (S. 139).
Man kann sich vorstellen, welche Wirkung die Auflistung
dieser Waren (Eunuchen, Sklav(inn)en, Knaben!) beim Leser, zumal bei Schülern,
hervorrufen muss, und es ist daher kein Zufall, dass die antisemitische
Propaganda zum Beispiel im Internet auch diese Quelle in ihrem Sinne instrumentalisiert.
Dabei geht es in erster Linie nicht einmal um die Frage nach dem
Wahrheitsgehalt – äußerst zweifelhaft ist, ob die Radaniten Seide vom Abendland
ins Morgenland brachten –, sondern um den Kontext: Was hieß im Mittelalter
Sklaverei? Was für Sklaven gab es und was für einen Sklavenhandel überhaupt?
Wird dies nur im Zusammenhang mit dem »goldenen Zeitalter der Juden im
Abendland« (so die Überschrift im Buch) zur Sprache gebracht, schließt sich
schnell der Zirkel zurück vom Urteil zum Vorurteil. Verbunden mit dem Thema der
späteren Verfolgungen entsteht der Eindruck, dass die Juden durch einen aus
heutiger Sicht unmoralischen Fernhandel reich wurden, um sich dann, wenn auch
gezwungenermaßen, auf den Beruf des »Schacherers« und »Wucherers« zu spezialisieren.
Statt das Verfolgungsthema zu entlasten, wie es wohl die Absicht der Autoren
war, um zu zeigen, dass es auch eine Zeit der »Normalität« gegeben habe, wird
das Verfolgungsparadigma erst richtig abgerundet, denn auch in der antisemitischen
Lesart war die Verfolgung nur die Reaktion darauf, dass es den Juden gut – »zu
gut« – ging auf Grund moralisch verwerflicher Tätigkeit.
In allen Büchern werden Quellentexte antijüdischer Maßnahmen
der Kirche vorgelegt, wenn es sich auch oft auf das berühmte Konzil von 1215
reduziert. Die Rolle der Kirche in den antijüdischen Verfolgungen wird
ansonsten jedoch minimiert, da der Antijudaismus, wie gezeigt, allgemein aus
den sozialen Konflikten heraus und die Pogrome als spontane Aktionen des Pöbels
erklärt werden, wenn auch das religiöse Motiv wie zum Beispiel in den
Kreuzzügen Erwähnung findet. Jedoch stehen sich »Christen und Juden« gegenüber,
die Kirche als Institution bleibt im Hintergrund. Das »materialistische«
Erklärungsmuster linker Provenienz schafft es sogar noch, das durch und durch
religiöse Motiv auf den Aspekt der Ausraubung der Juden zurückzuführen:
»Furchtbar wirkte sich der christliche Kreuzzugseifer für die jüdischen Gemeinden
aus. Kreuzfahrer überfielen die Juden in Speyer, Worms, Mainz und Köln. Diese
Fanatiker unterstellten den Juden die Schuld am Tod Jesu. So glaubten sie sich
im Recht, sich an Ort und Stelle an den angeblichen Feinden des Christentums
rächen zu können. Vor allem aber konnten sie mit dem geraubten Besitz ihre
Fahrt zum Heiligen Grab finanzieren.« (Geschichte und Geschehen A 2,
S. 140) Die Vokabel »vor allem« setzt den Akzent ...
Unabhängig von einzelnen Verfolgungen ging jedoch spätestens
seit dem 13. Jahrhundert eine antijüdische Dauerpropaganda von der Kirche aus –
wenn auch einzelne Päpste und Bischöfe dem entgegenarbeiteten –, weswegen diese
mehr ins Zentrum gerückt werden müsste, die katholische für das ganze
Mittelalter, die lutheranische jedoch auch für die Folgezeit. An
ikonographischen Quellen mangelt es dabei nicht, es gibt zahlreiche
allegorische Darstellungen von Ecclesia und Synagoga, zum
Beispiel am Straßburger Münster oder am Bamberger Dom. Die beiden Frauengestalten
repräsentieren als Ecclesia die Kirche als gekrönte Herrscherin, die Synagoge
mit verbundenen Augen jedoch als die Leugnerin des Evangeliums. Doch gibt es
noch weitaus drastischere Verbildlichungen der Verurteilung des Judentums in
und an Kirchen, etwa die Darstellung von »Judensauen« im 15. Jahrhundert, die
den Bogen von der religiösen Verurteilung zum volkstümlichen Hass schlugen.
Doch der krampfhafte Versuch in vielen Lehrbüchern,
irgendein Miteinander in das Gegeneinander hineinzulesen – »Muslime, Juden und
Christen: Miteinander leben« heißt auch das »politisch korrekt« formulierte
Kapitel im Wir machen Geschichte –, geht an dieser Stelle, die
Religionen betreffend, an der Wahrheit vorbei und wäre an anderer Stelle,
nämlich in der sozialen Realität des mittelalterlichen Stadtlebens, angebrachter.
So versucht zum Beispiel die pädagogische Schriftenreihe des Jüdischen Museums
Frankfurt anhand von Quellen nahe zu bringen, wie trotz der periodischen
Konflikte, Ausweisungen und sogar Massaker Juden und Christen tatsächlich »miteinander«
lebten, und zwar oft genug gegen die Mahnungen der Autoritäten, vor allem der
Kirche.
Kurze Bilanz des Anti-Antisemitismus
Bei aller Berücksichtigung der
Schwierigkeiten, dieses Thema im Unterricht und in den Lehrbüchern adäquat zu
behandeln, wie ich es ja auch selbst erlebe, und des dabei herrschenden Zwangs
zur didaktischen Reduktion besteht wohl das entscheidende Defizit in einer
mangelhaften Kenntnis der Fakten, auf die es gerade und im Gegensatz zu Adornos
eingangs zitierter Analyse sehr wohl ankommt: Im Wunsch nach Verurteilung der
Vorurteile meinen wir irrtümlicherweise die Geschichte durch diesen Vektor
hindurch ausreichend zu kennen. Hierin liegt das Grundproblem dessen, was das
Leo-Baeck-Institut in seiner letztes Jahr veröffentlichten Orientierungshilfe
für Lehrplan und Schulbucharbeit ebenfalls kritisiert: »Die deutsch-jüdische Geschichte
wird im Schulbereich nach wie vor zumeist defizitär, einseitig und dadurch auch
verzerrend behandelt. ... Noch immer stehen bei der Berücksichtigung in Lehrplänen
und Schulbüchern sowie im Unterricht – von Ausnahmen abgesehen – der
Antisemitismus, die Verfolgungsgeschichte und der Holocaust einseitig im Vordergrund.
Zwar ist fortdauerndes Erinnern an die Judenverfolgung und den Zivilisationsbruch
des Holocaust im Unterricht unverzichtbar, doch eine weit gehende Reduzierung
der deutsch-jüdischen Geschichte auf diese Dimension ist didaktisch verfehlt.
Sie lässt Juden vorzugsweise als Objekte und Opfer deutscher Geschichte erscheinen,
nicht jedoch als Träger einer eigenen Kultur und als Mitgestalter der modernen
Welt.«(14)
Die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte ist bei uns durch
die Abarbeitung an der deutschen Schuld geprägt und daher perspektivisch auf
den Verfolgungsaspekt verengt. Das Problem des Anti-Antisemitismus ist er
selbst, sein »search and destroy« des Antisemitismus. Bei allen Unterschieden
dominiert die ethisch-moralische Verurteilung der Gewalttaten als Darstellungs-
sowie Lernziel, was natürlich richtig, aber nicht nur unzureichend ist, sondern
auch, wie gezeigt, oft mit kontraproduktiven Effekten der Perpetuierung von
Vorurteilen einhergeht. Das heißt, es werden Vorurteile zwar verurteilt,
aber kaum durch Urteile im Sinne einer adäquaten historischen Beurteilung
ersetzt. Schon die durch das Schuldbewusstsein produzierte Idee einer ungebrochenen
Kontinuität der Geschichte vom Mittelalter zum 20. Jahrhundert ist
problematisch, weil sie letztlich die Kehrseite dessen ist, was die Nazis auch
behauptet haben (»der ewige Jude«). So stehen zum Beispiel in den
Arbeitsblättern für einen fächerübergreifenden Unterricht Juden in
Deutschland Quellen aus allen Epochen chronologisch ungeordnet
beziehungsweise gewollt anachronistisch nebeneinander, als solche durchaus
aussagekräftig, aber dadurch den Eindruck erweckend, es habe eine
Dauerverfolgung vom Mittelalter bis zur NS-Zeit gegeben, dem der Appell zum
Miteinander und Zusammenleben als moralischer Imperativ gegenübergestellt wird.
Dabei verliert sich zwangsläufig auch die Besonderheit des »modernen«
rassenideologisch begründeten »Exterminismus« (um hier den Begriff von Goldhagen
aufzugreifen), wenn er dem religiös begründeten Antijudaismus des Mittelalters
an die Seite gestellt wird, zumal zwischen beiden ja eine längere Phase der
staatsbürgerlichen Integration lag.
1
Theodor W.
Adorno: »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?«, in: Gesellschaft –
Staat – Erziehung. Blätter für politische Bildung und Erziehung, Heft
1/1960, zit. n.: Ekkehart Krippendorf: »Einleitung«, in: Erziehungswesen und
Judentum. Die Darstellung des Judentums in der Lehrerbildung und im Schulunterricht,
hrsg. vom Verband Deutscher Studentenschaften (VDS), zusammengestellt von
Ekkehart Krippendorff in Zusammenarbeit mit Dieter Bielenstein, München:
Ner-Tamid-Verlag 1960.
2
Kapitel
»Wucher und Aufkauf«, vgl. Sebastian Brant: Das Narrenschiff, übertragen
von H. A. Junghans, überarb. Ausg. Stuttgart: Reclam 1998. – Der »Spieß« war im
Vokabular Brants eine der Metaphern der Narrheit, vielleicht ein Zusammenhang
mit »Spießbürger«.
3
Jacques Le
Goff: Das Hochmittelalter, Fischer Weltgeschichte Bd. 11, Frankfurt am
Main 1965, S. 50.
4
Karl Bosl:
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im deutschen Mittelalter, Gebhardt
Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 7, Stuttgart: dtv 1973, S. 213f.
5
Friedrich
Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden, Bd. I, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgeswellschaft 1990, ²2000, S. 114f.
6
Das
Zinsverbot geht auf die biblische Tradition zurück (5. Moses 23) und galt auch innerhalb des Judentums und des Islams.
Es wurde von den jeweiligen Religionsgemeinschaften zunächst im Geschäftsverkehr
mit Partnern anderer Religion zugelassen und im Rahmen des Säkularisierungsprozesses
dann auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft, oft in versteckter Form. Dies
gilt auch für die katholische Kirche.
7
Weltgeschichte
im Aufriss, S. 360,
vgl. Battenberg Bd. 1, S. 20.
8
Rachel
Heuberger, Helga Krohn: Hinaus aus dem Ghetto ... Juden in Frankfurt am Main
1800–1950. Begleitbuch zur ständigen Ausstellung des Jüdischen Museums der
Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1988, S. 13.
9
Philippe
Dollinger: Die Hanse, Stuttgart: Kröner 1976, S. 267.
10
Heinrich
Graetz: Geschichte der Juden (1875), Digitale Bibliothek, Bd. 44, Bd. 7,
S. 22/DB S. 3183.
11
Battenberg,
a.a.O., S. 115.
12
Für diese
Klarstellung zur Periodisierung danke ich Martin Liepach vom Jüdischen Museum
Frankfurt am Main; siehe auch: Michael Toch: Die Juden im mittelalterlichen
Reich, München: Oldenbourg 1998.
13
Zur
Entstehungs- und Ausgrabungsgeschichte der Frankfurter Judengasse vgl. Egon
Wamers und Markus Grossbach: Die Judengasse in Frankfurt am Main, hrsg.
im Auftrag des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main vom Museum für Vor- und
Frühgeschichte der Stadt Frankfurt am Main, Stuttgart: Thorbecke 2000.
14
Deutsch-jüdische
Geschichte im Unterricht. Orientierungshilfe für Lehrplan- und Schulbucharbeit
sowie Lehrerbildung Lehrerfortbildung, hrsg. vom Leo-Baeck-Institut/Kommission für die
Verbreitung deutsch-jüdischer Geschichte, präsidiert von Georg Heuberger,
Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Selbstverlag – Die Broschüre
ist im Jüdischen Museum oder übers Internet erhältlich
(www.juedischesmuseum.de).
Verzeichnis der besprochenen Lehrbücher
(Auf die Nennung der einzelnen Autoren wurde hier
verzichtet)
Anno 2, Westermann 1995
Forum Geschichte 2, Cornelsen 2002
Geschichte und Geschehen (Mittelstufe) A 2, Klett 2002
Geschichte und Geschehen Oberstufe A 1, Klett
Geschichtliche Weltkunde 2, Diesterweg, 1981
Juden in Deutschland, 34 Arbeitsblätter für den
fächerübergreifenden Unterricht Sek. I, Klett 1995
Jüdisches Leben in christlicher Umwelt, Cornelsen 1997
Rückspiegel 2, Schöningh 1995
Weltgeschichte im Aufriss 1 (Oberstufe), Diesterweg 1999
Wir machen Geschichte 2, Diesterweg 1997
Literatur zum Thema (zusätzlich zu den in den
Fußnoten genannten Titeln):
Barbara Beuys: Heimat und Hölle. Jüdisches Leben
in Europa durch zwei Jahrtausende, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996
Rudolf Hirsch, Rosemarie Schuder: Der gelbe Fleck.
Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte, Köln:
PapyRossa 1999
Marion Kaplan (Hrsg.): Geschichte des jüdischen
Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München: Beck 2003
Pädagogische Schriftenreihe des Jüdischen Museums
Frankfurt am Main, siehe auch: »www.juedischesmuseum.de«
und »judengasse.de«