Hartmut Fähndrich
Auf dem Weg zur Weltliteratur
Schreiben in der arabischen Welt
Arabische Literatur, ah, Tausendundeine Nacht.
Wunderbar, der Orient.« Der Ausruf wird seltener, aber es gibt ihn, laut oder
leise, noch immer – auch aus kultiviertem Mund. Dann lächelt man und sagt: »Ja,
auch Tausendundeine Nacht, aber eben nur auch.«
Der Ausgangspunkt dieser Jubelrufs, dieser Verzückung beim
Gedanken an »Orientalisches«, dieser Identifikation des Orients mit Tausendundeine
Nacht ist genau dreihundert Jahre alt. Ein bedenkenswertes Jubiläum, weil
das Phänomen bis heute andauert und bis heute vielerorts den »normalen« Zugang
zu arabischer Literatur versperrt.
Die Grundlage der
Orientverzückung
Im Jahre 1704 veröffentlichte ein französischer Professor
für orientalische Sprachen namens Antoine Galland das erste seiner schließlich
zwölf Bändchen mit Übersetzungen der Erzählungen aus den Tausendundein
Nächten. Es war eine wahrhaft bahnbrechende Tat. Nicht so sehr wegen der
reinen Übersetzungsleistung, sondern wegen der Wirkung dieser Arbeit auf das
europäische Denken und Urteilen während der folgenden Jahrhunderte.
Zunächst erlebten die Contes arabes, so Gallands
Untertitel, während des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen
atemberaubenden Willkomm in Europa, etwas, das der französische Professor nicht
vorhersehen konnte. Für ihn war es eine literarische und akademische Arbeit, um
die Kenntnis vom Orient sowie dessen Literatur weiterzugeben. Für die Europäer
wurde die Sammlung zum Traumbuch, das sie dann nicht selten für ein
historisch-soziales Dokument über das Leben in Westasien ansahen. Tausendundeine
Nacht wurde zum Inbegriff des Orients, der, historisch gesehen, Ende des
17. Jahrhunderts für die Europäer aufgehört hatte, bedrohlich zu sein.
Diese spezielle Sichtweise auf den Orient und seine
Literatur hat bis heute Folgen für die Betrachtung der arabischen und der
islamischen Welt insgesamt. Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts, so Maxime Rodinson,
der jüngst in hohem Alter verstorbene französische Fachmann für die
arabisch-islamische Welt, »sah man den Islam nicht mehr als das Land des
Antichristen, sondern im Wesentlichen als das einer exotischen, malerischen
Kultur, die in einer Märchenwelt voller guter oder böser launischer Geister existierte
– all das zum Entzücken eines Publikums, das schon so viel Gefallen an europäischen
Märchen gefunden hatte«.
Die moderne arabische Literatur jedoch begann ihre
Entwicklung erst lange, nachdem sich die Sicht auf »den Orient« in Europa in
dieser Weise festgelegt hatte. Tausendundeine Nacht ist für sie eine von
verschiedenen Quellen literarischer Inspiration geworden, wie viele Hinweise
zeigen.
In seinem autobiografischen Roman Safranerde
berichtet der ägyptische Schriftsteller Edwar al-Charrat, wie der Junge, der er
einst war, zum ersten Mal eine vierbändige Ausgabe von Tausendundeine Nacht
in die Hand bekommt. Unter dem Titel stand »Mit seltsamen Berichten/ und
ergötzlichen Geschichten// Über Nächte voller Leidenschaft/ und der Liebe und
der Sehnsucht Kraft// Mit Bildern von ganz hervorragender Art/ wie selten sie
gesehen ward// Mit Dingen voller Merkwürdigkeiten/ und Wunderbarem aus allen Zeiten.«
Und über seine Lektüre dieses Buches samt ihren Folgen schreibt der Autor:
»Dann glitt ich ins Land von Tausendundeine Nacht, betrat es und habe es
bis heute nicht verlassen.«
Edwar al-Charrat ist eine der ganz großen Gestalten in der zeitgenössischen
arabischen Literatur, einer der Autoren, die diese Literatur in ihrer
Entwicklung über die letzten fünfzig Jahre entscheidend mitgeprägt haben, eine
Literatur, die gleichzeitig alt und jung ist.
Eine alte Literatur
In welchem Ausmaß die moderne, die zeitgenössische arabische
Literatur Erbin der europäischen, in welchem Ausmaß sie Erbin der eigenen
»klassischen« Literatur sei, ist noch immer ein Diskussionsthema unter
arabischen Literaturschaffenden und -kritikern, wenngleich nicht mehr so
intensiv wie schon früher. Doch die Frage bleibt und hat für manche sehr viel
mit Identität zu tun. Sollte alles europäischer Import sein beziehungsweise
gewesen sein, oder sind nur die Anregungen aus Europa gekommen, aus dem Westen,
die das Vorhandene in neue Bahnen lenkten, eine neue Entwicklung einleiteten?
Und welche Rolle spielte und spielt dann die vorhandene arabische Literatur,
das Schrifttum aus vergangenen Jahrhunderten?
Etwas nämlich ist wesentlich für diese Literatur, die
moderne arabische, etwas, das sie gemein hat mit einigen anderen, etwas aber
auch, wodurch sie sich von vielen anderen Literaturen unterscheidet: Hinter ihr
steht eine eineinhalbtausendjährige Schriftkultur, eine immense Literatur, die
auf die Zeit kurz vor dem Erscheinen des Islam Anfang des 7. Jahrhundert nach
Christus zurückgeht, dann aber besonders mit diesem, beziehungsweise in dessen
Zeit eine bemerkenswerte Entwicklung angetreten hat. Im Rahmen von Poesie und
Prosa, als Geschichtsschreibung und wissenschaftliche Abhandlung, als
theologische und staatsrechtliche Werke, als Fürstenspiegel oder Erzählungen
aus den schon erwähnten, den berühmt-berüchtigten Tausendundein Nächten,
hat sich in den Jahrhunderten nach dem Auftreten des Islam ein großer literarischer
Reichtum entwickelt, ein Kanon von Formen und Stilen, besonders deutlich festzumachen
an der Poesie. Diese hat dann auch bis in die neueste Zeit das meiste
Beharrungsvermögen bewiesen, sich neuen Entwicklungen gegenüber am verschlossensten
gezeigt und ist letztendlich nun am gründlichsten umgestaltet worden – von
metrisch festgelegten Mustern zum Prosagedicht im Stile des in der arabischen
Welt schon lange hoch geschätzten T. S. Eliot.
Auch inhaltlich war vieles festgelegt und wurde in immer
neuen Varianten beschrieben. Oder andersherum: Vieles wurde nicht beschrieben,
war nicht Thema der Literatur, zumindest nicht der »hohen«, der angesehenen.
Denn hier liegt eine wesentliche Kluft in der Geschichte der arabischen
Literatur, eine Kluft, die bis heute nachwirkt: Die theologisch orientierte
Gelehrtenwelt hat sich streng fern gehalten von der Unterhaltungsliteratur, von
fiktivem literarischem Schaffen. Bei ihrem Schreiben lag immer der Anspruch der
Ernsthaftigkeit und/oder der Belehrung mit Tatsachen, auch skurrilen, zu
Grunde. Die »orientalischen« Märchen vom Schlage derer aus Tausendundeine
Nacht galten diesen Schichten im Allgemeinen als dümmliche Histörchen,
selbst wenn sie die Ängste und Sehnsüchte, das Leben und das Denken breiter
Bevölkerungskreise ausdrückten. Schließlich waren sie ja auch häufig in einer
Sprache festgehalten, die der Gelehrtenwelt als fehlerhaft galt, da sie der
Umgangssprache angepasst war – eine Debatte, die sich bis heute gehalten hat!
Die Gelehrtensprache dagegen folgte ihren eigenen festen Regeln und Ausdrucksweisen,
deren Kenntnis Eintritt in den Zirkel einer Bildungselite gewährte.
Ein Chronist aus dem Bagdad des 10. Jahrhunderts erzählt,
einmal habe er den Kronprinzen im Palast unterrichtet – Poesie war dran –, als
die Tür aufging, einige Diener der Großmutter des Prinzen hereinplatzten und
alle Bücher, die auf dem Tisch lagen, mitnahmen. Als sie sie nach einiger Zeit
wieder zurückbrachten, habe der über das Misstrauen bezüglich seiner Lektüre
erboste Kronprinz ihnen aufgetragen, ihren Auftraggebern auszurichten, all
diese Bücher seien seriös und anständig, es handle sich lediglich um Werke über
den Propheten Muhammad, das islamische Recht, die Dichtung, die Geschichte,
Dinge also, die den Menschen vollkommen machten. »Es ist keines jener Bücher
dabei, die ihr so eifrig lest, wie ›Die Wunder des Meeres‹ oder ›Sindbads
Abenteuer‹.«
Das saß! Sindbads Reisen, die weltberühmten Abenteuer des
ebenso berühmten Seefahrers als wertlose Lektüre für Domestiken, sozusagen als
Lore- oder Jerry-Cotton-Romane des 10. Jahrhunderts. Eine Bewertung, die weit
von der heutigen, natürlich auch in der arabischen Welt, entfernt ist. Denn
gerade auch dort, in der arabischen Welt, befruchten die Erzählungen aus Tausendundeine
Nacht Autoren und Autorinnen. Schehresâd, die Erzählerin, Sindbad, der
Seefahrer oder Harûn al-Raschîd, der Kalif im geheimnisvollen Palast in Bagdad,
und viele weitere Figuren sind ebenso Teil des literarischen Erbes wie das andere
genannte Schrifttum, das »seriöse und anständige«.
Bei dieser Kluft zwischen »Volk« und Gelehrten, zwischen
Leben und Literatur, setzte dann auch viel moderne Kritik an, lag häufig auch
der Ausgangspunkt bei der Entstehung der modernen arabischen Literatur.
Beispielsweise bei einem ihrer Gründerväter, dem vor fünfzehn Jahren fast
hundertjährig verstorbenen Libanesen Michaîl Nuaima, der schon recht früh im
20. Jahrhundert ausrief, Literatur und Leben seien nicht voneinander zu trennende
Zwillinge. Literatur, die nichts mit dem gelebten Leben zu tun habe, sei tot,
nutzlos. Er selbst folgte seinem Aufruf und schrieb zur Zeit des Ersten
Weltkriegs einige bemerkenswerte Erzählungen über das libanesische Dorfleben
jener Zeit, literarisch orientiert – wie nicht wenige arabische Autoren und
Autorinnen – an den russischen »Klassikern«, in deren Land er einige Jahre lang
studiert hatte.
Veränderungen werden jetzt wahrgenommen. Nicht mehr im
herkömmlich abstrakten oder theologisch eschatologischen Sinn von der immer
schlechter werdenden Welt, die dann am Ende der Tage gerichtet wird. Vielmehr
wird das beschleunigt sich verändernde Leben wahrgenommen und beschrieben,
Individuen im Kampf gegen das Kollektiv oder vielleicht noch die menschliche
Natur im Rahmen sich wandelnder Verhältnisse. Der Versuch also einer literarischen
Selbstfindung, einer Wiedergabe der Welt, einer Schaffung von Gegenwelten – und
all das vor dem Hintergrund sich intensivierender Beziehungen, positiver und
negativer, mit dem Rest der Welt, besonders dem Westen. So ist auch das
Verhältnis zum Westen in unzähligen Varianten und Schattierungen lange Zeit
bestimmendes Thema der arabischen Literatur gewesen und bis heute eines der
großen Themen dieser Literatur geblieben.
Das Verhältnis zum Westen
Wenn die Ägypterin Salwa Bakr (geb. 1949) in der
Kurzgeschichte »Die Seele, die nach und nach gestohlen ward« implizit einen
Unterschied zwischen zwei Kategorien von westlichem Import in Ägypten macht,
einem kulturell wertvollen, bildenden (Zeitungen, Kino, Theater) und einem
verdummenden und deshalb kulturell wertlosen (TV-Werbung und Schnickschnack für
die moderne Lebensgestaltung), so führt sie ein Thema weiter, das schon Rifâa
al-Tahtâwi ansprach. Dieser, der in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts
eine ägyptische Studentengruppe nach Paris begleitete, erklärt im Vorwort
seines Berichts über diesen Aufenthalt, gewisse Dinge könne man mit Gewinn in
Ägypten übernehmen, anderes bleibe besser in Frankreich, da es nicht ins Land
am Nil passe. Zwischen diesen beiden Werken, den Reflexionen al-Tahtâwis von
der Mitte des 19. Jahrhunderts und der Kurzgeschichte Salwa Bakrs vom Ende des
20. Jahrhunderts, stehen zahllose Varianten dieses Themas, die auch unterschiedliche
Bewertungen des Verhältnisses zum Westen kennen. Bevorzugtes Muster ist dabei
der Student (inzwischen auch die Studentin), der/die in ein europäisches Land
(inzwischen auch die Vereinigten Staaten) kommt. Dort jedoch ist er/sie,
wissenschaftlich an der Universität und menschlich im täglichen Kontakt,
Einflüssen ausgesetzt, die ihn/sie seelisch und weltanschaulich erschüttern und
die ihn/sie zunächst in der Fremde, dann, nach der Rückkehr, zu Hause zwingen,
sich selbst und seine/ihre Herkunftswelt zu überdenken.
Einer der Klassiker dieses Themas ist Die Öllampe der Umm
Hâschim, ein kurzer Roman des 1991 in hohem Alter verstorbenen Ägypters
Jachja Hakki. Darin reist ein junger Ägypter zum Studium der Augenheilkunde,
der Wissenschaft vom Sehen also(!), nach England, erlebt dort die Liebe zu
einer Engländerin und erlernt die westliche Wissenschaft. Nach vieljährigem
Aufenthalt kehrt er zurück, nur um zu Hause eine Kultur vorzufinden, die er mit
seinem inzwischen ausgebildeten kritischen Bewusstsein zunächst als völlig
veraltet, ja, abstrus einstuft. Als er seine Mutter sieht, die das Augenleiden
seiner Cousine, einem alten Brauch folgend, mit Öl aus der Lampe in der Moschee
der Umm Haschim behandelt, rennt er los, zerschlägt diese Lampe und wird dabei
fast von der Menge gelyncht. Erst allmählich gelingt es ihm, so die vielleicht
nicht ganz unproblematische Lösung, eine Harmonie zwischen moderner
Wissenschaft und traditionellen Überzeugungen zu finden und damit den einfachen
Leute zu helfen.
Ähnlich in der Grundstruktur ist in mancher Hinsicht der
epochemachende Roman des Sudanesen Tajjib Salich, Zeit der
Nordwanderung, in dem von einem Sudanesen in England erzählt wird, der
seine große Intelligenz zu einer bemerkenswerten akademischen Karriere nutzt,
gleichzeitig aber, in einer Art Doppelleben, verschiedene Frauen in den
Selbstmord treibt und eine sogar umbringt. Es sind Frauen, die in ihm ihren
Traum vom Orient zu finden glauben, während er sich an der britischen Gesellschaft
für die seinem Volk zugefügte Erniedrigung rächt – all das natürlich nicht immer
bewusst!
Andere Varianten der »Ost-West-Beziehungen« siedeln die
Handlung nicht im geografischen Raum Europa versus arabische Welt an, sondern
innerhalb der arabischen Welt oder eines arabischen Landes. Beispielsweise kann
das Verhältnis Stadt-Land oder das Verhältnis von zwei Stadtteilen innerhalb
derselben Stadt dieselbe Funktion mit demselben Gefälle übernehmen.
In einem der gelungensten Romane des ägyptischen
Nobelpreisträgers Nagib Machfus, Die Midaq-Gasse, ist die Gasse eine in
sich abgeschlossene Welt, bewohnt von einer Gruppe verschiedenartiger Menschen.
Sie alle werden in ihrem täglichen Leben gezeigt. Ihre klar umgrenzte Umgebung,
die Gasse eben, ist auf einer Seite auf eine geschäftige Altstadtstraße hin
geöffnet, die ihrerseits in die neuen Stadtteile, die Ende des 19., Anfang des
20. Jahrhunderts gebaute »europäische« Stadt, mündet. Von dort, von jenem
Bereich mit den prunkvollen Läden, den breiten Straßen und den feinen Leuten,
geht eine Sogwirkung auf die Gasse aus. Dort wollen oder müssen viele arbeiten
gehen, denen die Gasse ein Zuhause ist; dorthin zieht es aber auch manche, die
über die Gasse hinauswollen; und von dort dringen Neuerungen in die Gasse ein
(z. B. das Radio im Café), die alte Berufe (z. B. den des Sängers) obsolet machen.
Doch wer die Gasse verlässt, gerät in Gefahr, nicht nur, wie die Protagonistin
Hamîda, die Ehre, sondern sogar, wie ihr Verlobter Abbâs al-Hilw, das Leben zu
verlieren.
Ein eher heiteres Beispiel des Stadt-Land-/
Ost-West-Verhältnisses verdanken wir dem (französisch schreibenden) Marokkaner
Driss Chraïbi. In Ermittlungen im Landesinnern fahren zwei Polizisten
(etwas dümmlich aufgeblasen und, besonders der Ranghöhere, voll gepumpt mit
amerikanischen Weisheiten über Verbrechensbekämpfung) aus der Stadt hinauf in
ein Dorf im Gebirge. Dort sollen sie einen Mord aufklären. Doch die Mauer
zwischen ihnen und der Dorfbevölkerung mit ihrer anderen Sprache, ihren besonderen
Verhaltensweisen und ihrer ablehnenden Haltung allem gegenüber, was aus der
Stadt kommt, lässt sie scheitern. Ja, das Scheitern geht so weit, dass der
ranghöhere Polizist schließlich umgebracht wird. Und am Ende fahren zwei
Polizisten aus der Stadt hinauf ins Dorf im Gebirge, um den Mord aufzuklären –
da capo.
Die zunehmende Mobilität der Weltbevölkerung drückt sich
auch im Rahmen dieses Themas aus. Personen gehen nicht mehr einmal nach Europa
und kehren endgültig von dort zurück. Sie bewegen sich hin und her. Familien
verteilen sich auf verschiedene Kontinente. Ehen zwischen Personen
unterschiedlicher Herkunft sind keine Seltenheit. All das bietet literarischen
Stoff.
In Die Leidenschaft, einem Roman der Irakerin Alia
Mamduch, hat sich das Ehepaar schon einige Jahre zuvor getrennt. Der Mann lebt,
ein weiteres Mal verheiratet, im Irak, die Frau in Europa, der Sohn ist in
England aufgewachsen – völlig britisch und doch fremd. Und nun trifft man sich
in den Ferien in England. Eine bizarre schmerzliche Begegnung für sie alle, die
so verschieden sind und so weit auseinander leben.
@Body Text = Heute ist manchmal Europa/der Westen nicht mehr
der Ort, wo man Neues erfährt, Gutes oder Schlechtes, die Kultur, die man ob
ihrer Leistungen bewundert oder ob ihres moralischen Verfalls oder ihres
Materialismus verabscheut. Heute kann es auch zur Zuflucht werden, zum Beispiel
für die Gruppe von Arabern aus verschiedenen Ländern, die sich als politisch
Verfolgte oder Enttäuschte in Hamida Naanas Roman Keine Räume mehr zum
Träumen allabendlich in einem Pariser Café wieder finden, um, lange Zeit
untätig, Träumen von einer arabischen Welt nachzuhängen, wie man sie ihnen
einst vorgegaukelt hat, und die Realität zu beklagen.
Das Thema vom Verhältnis zum Westen wächst und wandelt sich,
erfährt immer neue Variationen und Ausgestaltungen, sodass es mitunter bis zur
Unkenntlichkeit verändert wird.
Weitere Themen
Doch längst sind wesentliche andere Themen hinzugetreten.
Das soziale Gefüge und die politische Struktur der arabischen Länder haben die Situation
der Frau und das Gefängnis zu zwei wichtigen Themen der arabischen
Literatur werden lassen. Am Beispiel der Situation der Frau(en) in der
arabischen Gesellschaft, so glauben viele Autoren und eine stark wachsende Zahl
von Autorinnen, ließen sich am klarsten die zentralen Probleme dieser
Gesellschaften darstellen, zu denen die vielfältige Diskriminierung von Frauen
gehöre, die ihre Lage oft als Gefängnis wahrnähmen. Eine Art Parallele dazu
bildet das staatliche Gefängnis, gefüllt mit (mehrheitlich männlichen)
politischen Häftlingen, die darin dafür büßen, anderer Meinung zu sein. Die Palästinenserin
Sahar Khalifa verbindet in ihren Romanen die beiden »Gefängnisse« – das gesellschaftliche
palästinensische für Frauen und das israelische politische für Männer.
Seit zwei bis drei Jahrzehnten gewinnt die Darstellung und
die Hervorhebung des Ich auf verschiedene Weise an literarischem Boden.
Das geht zwei Wege.
Da ist erstens die sich immer mehr verstärkende Tendenz, im
literarischen Werk weniger das Gesellschaftliche oder das Politische in den
Vordergrund zu rücken und dafür mehr das Individuum, eben das Ich als leidendes
oder genießendes auslotend. Der Roman Das vierzigste Zimmer des 1994
verstorbenen Palästinensers Dschabra Ibrahim Dschabra zum Beispiel ist eine
bizarr-gespenstische Traumreise eines Menschen in sein Innerstes. Auch Majj
at-Tilmissani, eine junge Ägypterin, scheint symptomatisch für diese Tendenz.
In ihrem Roman Dunjasad schreibt sie über die traumatisierende Erfahrung
mit einer Totgeburt und die sich etwa über ein Jahr hinziehende Neuorientierung
im Leben. Von ägyptischer Gesellschaft ist darin nicht die Rede.
Dazu gehört auch das persönliche Erlebnis der
Desillusionierung mit Gesellschaft und Politik, mit großer Klarheit in Lieber
Herr Kawabata, einem autobiografischen Roman des Libanesen Raschid al-Daïf,
beschrieben: Ein Leben vom nordlibanesischen Dorf mit all seiner Enge und
Wärme, hinaus ins revolutionäre Beirut und bis ans Ende des alle Illusionen und
Träume zerstörenden Bürgerkrieges.
Noch deutlicher wird das Interesse am Ich in der drastisch
wachsenden Zahl von Autobiografien, die in den vergangenen ein bis zwei
Jahrzehnten das Licht des Buchhandels erblickten. Die Erklärung für diese
wahrhafte Flut lässt sich wohl irgendwo zwischen zwei Extremen finden, zwischen
der Selbstbestätigung, also einer positiven, optimistischen Tendenz als Ursache
autobiografischen Schreibens, und dem Gefühl des Verlusts, also eher einer
negativen, pessimistischen Tendenz. Dieses autobiografische Schrifttum zeigt
aber oft ein eher »geteiltes«, nicht gespaltenes Ich. Autobiografien werden
geschrieben als Stadtgeschichte, Sozialgeschichte und anderes mehr, sie zeigen
somit oft eine geringere Ich-Ausprägung, als das die westlichen
Autobiografiedefinitionen erwarten ließen.
Des Menschen Welt
Von hier gibt es einen neuen Weg zurück in die überindividuelle
Umgebung – über die Ökologie. Dies ist ein bislang kaum wahrgenommenes Thema in
der zeitgenössischen arabischen Literatur. Aber es existiert, und es scheint im
Zunehmen begriffen, denn auch im Außerliterarischen sind Themen der Umwelt und
ihrer Bedrohung oder gar Zerstörung immer häufiger zu finden. Als ökologisch
ließen sich natürlich schon Märchen und Geschichten interpretieren, die von
Tieren oder Pflanzen, zumal Bäumen erzählen, die durch irgendeinen Zauber
»geschützt«, das heißt, menschlichem Zugriff entzogen sind.
Zu diesem Thema gehörig ist sicher Tajjib Salichs Erzählung
»Die Dûmpalme des Wad Hâmid«. Diese Geschichte wird bisher immer in den
Themenkreis des Konflikts zwischen Tradition und Moderne gestellt, der selbstverständlich
in engem Zusammenhang mit der Frage der Ökologie steht. Und aus vormodernen
Überlieferungen gibt es so manchen warnenden Hinweis, so manche Zerstörungen
hemmende Vorstellung. Tajjib Sâlichs Geschichte erzählt von einer solchen.
In einem sudanesischen Dorf gilt ein Baum als Zentrum des
Denkens und der Orientierung der gesamten Bevölkerung. Deswegen wehrt sich
diese, und zwar erfolgreich, gegen Einrichtungen, denen der Baum, oder gegen
Handlungen, die mit diesem in Zusammenhang stehen, zum Opfer fallen müsste –
eine elektrische Pumpe und eine Anlegestelle für den Dampfer. Das Argument, das
dafür vorgebracht wird: Die Menschen sollten lernen, dass es für den Baum und
für die Neuerungen Platz geben müsse, dass Einrichtungen nicht einfach per
Dekret, das heißt von der Zentralregierung, geplant und installiert werden dürften,
und auch nicht können, solange die Bevölkerung noch an dem ihr eigenen Leben
festhalte. Und wenn einmal kein Widerstand mehr gegen das Fällen des alten
Baumes erfolge, dann sei dies ein Zeichen für eine grundlegende Entfremdung von
der alten Lebensweise. Bisher wenigstens, so in der Geschichte, sei für Baum und
Wasserpumpe Platz.
Ein solcher Optimismus ist schon bei Nagib Machfus nicht
mehr zu finden. Er hat 1988 einen kleinen, stark autobiografisch gefärbten
Roman veröffentlicht. Kuschtumr, der Titel ist der Name eines Cafés in
Kairo. Darin trifft sich eine Gruppe von Männern seit Oberschultagen
allwöchentlich im selben Café – inzwischen sind sie über achtzig. Es ist ein
hübsches Stück Kultur- und Stadtgeschichte aus Kairo, nicht sehr anspruchsvoll,
aber informativ. Es wird da viel von der guten alten Zeit geträumt, und ein
Blick auf nichtfiktive Darstellungen Kairos macht deutlich, dass die Schwelgereien
von einem früheren, einem anderen Kairo nicht ganz unbegründet sind. Die Beschreibungen
der ägyptischen Hauptstadt sind mit einem Pessimismus durchtränkt, der weiter
geht als die übliche Erinnerung eines alten Mannes über die gute, die bessere
alte Zeit, als der Schnee noch weißer war.
Der Hinweis auf die törichte und unbedachte Zerstörung wird
noch deutlicher bei Geschichten aus und über Kairo aus der Feder solcher
AutorInnen, die das Kairo der Zwanzigerjahre nicht mehr kannten, zum Beispiel
des 1950 geborenen Muhammad al-Machsangi. Er hat in zahlreichen seiner Kurz-
und Kürzestgeschichten die urbane Wüstenlandschaft Kairos beschrieben oder
angedeutet.
»Die Pflöcke« ist eine Kürzestgeschichte von nur zwanzig
Zeilen. Es geht darin um einen Baum, dem die »moderne Entwicklung« die
Existenzgrundlage entzieht und dessen Wachstum deshalb in falsche Kanäle
gelenkt wird. Ein Baum, der Luftwurzeln treibt, steht vor einem Hauseingang,
der »verschönt« wird durch Asphaltierung. Da diese dann bis unmittelbar an den
Baumstamm reicht, haben die Luftwurzeln keinen Zugang mehr zur Erde. Der Baum
kann sich nicht mehr »verankern«, sich nicht mehr an der Erde halten. Er wächst
himmelan, hoch also, aber prekär, da nicht mehr gefestigt wie ein »Zelt, das ja
auf einem einzigen mittleren Pfosten ruhe und von Dutzenden von Pflöcken
gehalten werde«.
Auch von der schon erwähnten Salwa Bakr gibt es eine
Erzählung über Bäume, »Einunddreißig schöne grüne Bäume«, die allmählich
verschwinden. Die Erzählerin der Geschichte berichtet von psychosomatischen
Störungen bei sich selbst als Folge ihrer Wahrnehmung dieser Verarmung
städtischer Flora.
Inzwischen kann man in der arabischen Literatur auch
umfassendere Darstellungen der Katastrophen finden, auf die die Menschheit
zusteuert. Eingebettet sind sie in konkrete Schilderungen gewisser lokaler
Gegebenheiten und in umfassende mythische Vorstellungen. Zwei bemerkenswerte
Beispiele sind der 1977 erstmals veröffentlichte Roman Am Rande der Wüste
von Abdalrachman Munif und der 1990 erschienene Roman Blutender Stein von
Ibrahim al-Koni.
Die Wüste in vielerlei Hinsicht ist Abdalrachman Munifs
Thema. Die politische Wüste, die nur Repression hervorbringt, die ihrerseits
seelische Wüsten schafft, wird in Östlich des Mittelmeers am Beispiel
eines nie mit Namen genannten Landes geschildert. Die Naturwüste auf der
Arabischen Halbinsel und ihre Verwandlung in eine Erdöl-Technowüste ist Thema
der Pentalogie Die Salzstädte. Und Wüste und Verwüstung ist schließlich
auch das Thema in Am Rande der Wüste. Darin gibt es einen kleinen Ort in
einer Steppe, irgendwo in der arabischen Welt, dessen Bewohner zum größten Teil
von der Jagd leben. Tiere bietet die Umgebung in Hülle und Fülle, und es gibt
gewisse Regeln der Jagd, die der Weisheit der Alten entstammen. Weibliche
Tiere, zumal trächtige, seien zu schonen, eine »Übernutzung«, und das hieße
auch Jagd zum Amüsement, sei zu untersagen. Doch der Druck der Entwicklung ist
stärker. Die Städter kommen ins Dorf und umgekehrt ziehen Bewohner aus dem Dorf
in die Stadt und kehren nur noch in den Ferien mit ihren Freunden zurück, denen
sie zeigen wollen, wie spannend die Jagd bei ihnen zu Hause ist. Und so nimmt
das Unglück seinen Lauf. Der Jagdradius wird bei immer geringerer Ausbeute
immer weiter, und schließlich kommt der Mann ums Leben, der, ein alter Kauz,
immer vor dieser Entwicklung gewarnt hat; er kommt ums Leben – als Jagdführer!
Auch er hat sich der Entwicklung nicht entziehen können.
Mehr noch, und jedenfalls anders als Abdalrachman Munif, ist
Ibrahim al-Koni ein Autor der Wüste. Und das in des Ausdrucks doppelter
Bedeutung. Er, geboren 1948, stammt aus der Wüste, der libyschen, gehört den
Tuareg an. Und er schreibt über jene Wüste, aus der er stammt. Von jenem Saum
zwischen islamisch-arabischer und schwarzafrikanischer Kultur nimmt er seine
Themen. In allen seinen Romanen ist der Mensch in der Wüste, auf der Suche nach
Überlebensmöglichkeiten und nach einem Pfad, dem er folgen kann, sein Symbol.
Blutender Stein erzählt von einem allein in der
Wüste, zwischen den mit uralten Zeichnungen gefüllten Höhlen, lebenden Ziegen-
und Schafhirten, den das Zusammenleben mit Gazellen und anderen stolzen Tieren
der Wüste gelehrt hat, diese Tiere nur sparsam oder gar nicht zu jagen, ihr
Fleisch nicht zu verzehren. Denn die Gazellen sind die Seele der Sandwüste, die
Steinböcke diejenige der Bergwüste. So lebt er mit seiner Ziegenherde, bis vom
Norden Fleisch verschlingende Menschen kommen, die die Gebiete im Norden
inzwischen leer gejagt und alles Fleisch vertilgt haben, und die sich nun in
ihrer Gier auf die Fauna der noch verbliebenen Regionen stürzen. Es sind
Menschen, die mit Tierblut entwöhnt wurden und die nicht anerkennen wollen,
dass in Tieren Seelen wohnen. Menschen aber, die nur noch nicht wissen, dass
sich des Menschen Sohn allein am Staub der Erde satt essen wird.
Hier kann die Darstellung der arabischen Literatur zur
Ausgangsfrage zurückgehen: Ist sie alt oder neu? Sie ist beides, indem sie die
Welt von heute darstellt, und dies mit Rückgriff auf Traditionen, auf Überlieferungen,
auf die Geschichte, auf das durch Jahrhunderte gespeicherte Gedächtnis, auf das
Erbe. Wenn der Syrer Sakarija Tamer in seiner Erzählung »Der die Schiffe
verbrannte« Târik Ibn Sijâd, den Feldherrn des arabisch-berberischen
Erobererheeres von Andalusien (711), vor ein Gericht zitieren lässt, um heutige
Politik zu geißeln, wenn der Marokkaner Bensâlim Himmisch in seinem Roman
Machtbesessen einen ägyptischen Herrscher aus dem 11. Jahrhundert
darstellt, um Geschichtsverfälschung aufzuzeigen, wenn der Ägypter Gamal
al-Ghitani in seinem Roman Seini Barakat die Zeit der osmanischen Eroberung
Ägyptens (1517) zur Folie nimmt, um die Entwicklung der Repression in (s)einem
Lande zu zeigen, wenn der Libyer Ibrahim al-Koni in allen seinen Romanen und
Erzählungen die Traditionen und Überlieferungen der Tuareg verarbeitet, um das
Menschenlos zu schildern, dann bedient sich diese Literatur zwar der alten
Literatur, führt sie aber hinaus in die Arena der Weltliteratur.
Die arabische Literatur ist dort angekommen. Es bleibt nur,
sie kennen zu lernen, abseits oder jenseits von Orientträumereien.
Arabische Kürzestgeschichten
Ibrahim al-Koni
Die Wasserfluten
Die Reise der Wasserfluten aus der Roten Hammâda
gleicht der Reise des Menschen auf Erden: Auf den höchsten Höhen beginnend,
frisch, winzig und schüchtern, werden sie munter an den Hängen, kräftig in den
Senken und stürmisch in den Tälern, verwandeln sich in einen Dämon, der alles
dahinrafft und sich Mensch und Vieh zum Opfer bringt. Doch der Weg zum Meer im
fernen Norden zehrt an der Flut; sie verliert ihre Kraft und ihren Schwung und
wird nach und nach abgewürgt. Die Natur wirft ihre Sonnen darauf, und so wird
die Flut zerstreut. Die Madschasân-Wüste tritt ihr mit ihren Sanden entgegen,
und so löst sie sich auf. Und nimmer erreicht sie das Meer.
Die Schlange
Es ist das Anrecht der Schlange, Sachwalterin zweier
ewiger Schätze zu sein, des Goldes und des Wassers. Denn drei sind ewige
Schätze: die Schlange als Geschöpf, das seine Haut wechselt, das Gold als
Metall, das nicht rostet, und das Wasser als Phönix, der im Feuer nur stirbt,
um in der Kälte wieder aufzuerstehen, der auf Erden als Körper nur stirbt, um
im Himmel als Nichts zu leben.
Ibrahim al-Koni, geb. 1948,
Schriftsteller aus Libyen)
Sakarija Tamer
Der letzte Widersacher
Man schoss Feuerwerk in den Himmel, obwohl die Nacht
noch nicht hereingebrochen war, ja, die Sonne noch hell am Himmel stand. Eine
Militärmusikkapelle marschierte, schmissige Melodien spielend, über den großen
Platz. Ihr folgte ein Trupp gewehrbewaffneter Soldaten.
Plötzlich hielt die Kapelle bei
Marsch und Spiel inne. Ebenso die gewehrbewaffneten Soldaten. Sie erstarrten
und standen stramm, bis sie den Befehl ihres Führers hörten anzulegen. Da
richteten sie ihre Gewehre auf den Kopf des Denkmalmannes hoch zu Ross und feuerten.
Doch sie trafen nicht ihn, sondern den Kopf des Pferdes. Sie feuerten ein
zweites Mal und zertrümmerten die Beine des Tieres. Erst bei der dritten Salve
flog der Kopf des Mannes zersplittert durch die Luft.
Die Musikkapelle marschierte
weiter. Ihr folgten die gewehrbewaffneten Soldaten, bemüht, Gleichschritt zu
halten.
Ein schwer erfüllbarer
Wunsch:
Eines Tages sagte Dschoha* zu seinen Angehörigen:
»Wenn ich einmal sterbe, stellt
mich aufrecht in mein Grab.«
Als man wissen wollte, was ihn zu
solch einem seltsamen Begehr veranlasst habe, erklärte er:
»Was ich im Leben nicht haben
konnte, möchte ich gern im Tod haben.«
Doch als er dann gestorben war,
wurde ihm sein Wunsch nicht erfüllt.
[*Dschoha ist die mittelöstliche
Eulenspiegelfigur]
Sakarija Tamer, geb. 1931,
syrischer Kurzgeschichtenautor
(Der erste
Text ist unveröffentlicht, der zweite entstammt der Sammlung: Sakarija Tamer: Die
Hinrichtung des Todes. Unbekannte Geschichten von bekannten Figuren, Basel:
Lenos-Verlag 2004)
Abdallah Srika
Das Leichentuch meiner
Großmutter
Als meine Großmutter starb, kam ein alter Mann auf
einem klapprigen Fahrrad gefahren, um das Leichentuch zu bringen. Sein weißer
Bart berührte fast die Lenkstange. Ich sah ihn schon von weitem. Was ihn
antrieb, war mehr der Wind als seine eigene Kraft. Das Leichentuch lag auf der
Lenkstange. Er wand sich im Zickzack durch den Wind, mal nach rechts, mal nach
links. Die Gassen waren winzig und gewunden. Manchmal musste er einer riesigen
Wasserlache in der engen Gasse ausweichen. Der Wind zerrte am Leichentuch. Und
der Gedanke ließ mich nicht los, nicht der alte Mann sei es, der das Fahrrad
antrieb. Es waren die Gassen, die sich in ihm wanden, oder das Leichentuch, das
Leichentuch des Windes, das Leichentuch des Fahrrades, das sich so weit
aufblähte, dass einige Enden in die Speichen gerieten. Da stürzte der alte
Mann, fiel auf den Kopf und verschied nur wenige Minuten später. Das Leichentuch
meiner Großmutter hielt er fest umklammert.
(Abdallah
Srika, geb. 1953, marokkanischer Schriftsteller)
(Der Text ist unveröffentlicht)
Abdalilahi Abdalkadir
Im Gefängnis
Heute wird er seinen Sohn sehen. Mit einer Gruppe von
Angehörigen Vermisster und in Begleitung eines Trupps Sicherheitsbeamter wird
er zu einem unbekannten Ort gehen.
Vor Jahren hatte man seinen Sohn
entführt, und seine Frau und er selbst hatten geglaubt, er sei ermordet oder
hingerichtet worden.
Heute aber hat er ihn gesehen. Aus
zehn Meter Entfernung. Ein eisernes Gitter zwischen ihnen. Er hob die Hand.
Grüßte den Vater. Der Vater grüßte den Sohn. Dann war der Besuch beendet. Das
war alles, was er nach Jahren des Wartens tat. Nach einer beschwerlichen Reise
von mehr als drei Tagen.
Freude vortäuschend kam er nach
Hause.
»Du kannst dich glücklich
schätzen«, sagte er zu seiner Frau, »wenigstens ist Abbâs nicht tot, sondern
nur im Gefängnis.«
(Abdalilahi Abdalkadir, geb
1945, irakischer Schriftsteller)
(Der Text ist unveröffentlicht)
Colette Naîm Bahna
Eine Idee
»Pass auf!«, warnte man ihn. »Der Gedankenklau ist
dieser Tage sehr in Mode gekommen.«
Nach kurzem Nachdenken besorgte er
sich eine schwarze, würfelförmige Schachtel und stülpte sie sich über den Kopf.
Er verschloss sie gut, nur zwei kleine Löcher ließen Atemluft herein.
Nachdem er so seine großartigen
Gedanken gesichert hatte, ging er täglich hinaus und spazierte ruhig, getrost
und völlig entspannt durch die Stadt, ohne sich um die zahlreichen Diebe zu
kümmern, die die Straßen bevölkerten.
Doch einmal spürte er ein
brennendes Verlangen, das Tageslicht zu sehen. Er nahm die Schachtel vom Kopf
... und war sprachlos, als er all diese schwarzen würfelförmigen Schachteln
sah, die ruhig, getrost und völlig entspannt durch die Stadt spazierten.
(Colette Naîm Bahna, geb.
1961, syrische Autorin)
(Der Text ist veröffentlicht in drehpunkt. Die Schweizer Literaturzeitschrift, Nr. 119, August 2004)