Christel Eckart

Politik des Privaten

Was hinter einer Kanzlerkandidatin sichtbar wird

 

 

Die Kanzlerkandidatin der Union, Angela Merkel, hat es weitgehend vermieden, frauenpolitische Themen in den Wahlkampf zu bringen und sich selbst in ihrer Eigenschaft als Frau zu äußern. Im Machtkampf auf dem Weg zur Kanzlerschaft ist die offene Betonung weiblicher Differenz eher hinderlich. Dennoch hat die Kandidatin als Frau die Fantasien beschäftigt. Denn in der männlich geprägten Politik ist die erste Frau in führenden parteipolitischen Ämtern, mit Anspruch auf das Amt des Kanzlers, sehr wohl der Rede wert: als historisches Ereignis in der Geschichte parlamentarischer Politik, die mit dem dezidierten Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht begann und nun mit einer Frau aus Ostdeutschland die in der Neuformulierung der Verfassung geforderte »Teilhabe von Frauen an allen gesellschaftlichen Bereichen« einzulösen scheint. Das öffentliche Räsonieren darüber – »wie weiblich wird die Republik?« – nimmt »Frau« als Symbol, das mehr ausdrückt als die bloße Tatsache, dass die Kandidatin eine Frau ist, und das wirkt, auch ohne dass die Politikerin sich dazu selbst artikuliert. Das Symbol enthält die antagonistischen Spannungen des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit, die mit den bürgerlichen Geschlechterverhältnissen verbunden sind. Als Grenzgängerinnen zwischen den beiden Bereichen sind »Frauen« viel mehr als »Männer« mit Vorstellungen und Fantasien von Privatheit verbunden. Sie haben sich daher in der Öffentlichkeit gegenüber den Irritationen von Männern zu behaupten, denen in ihnen »als Frauen« das Ausgegrenzte leibhaftig wieder zu begegnen scheint. Politikerinnen müssen diesen Irritationen in einer Weise begegnen, die keinen Zweifel an ihrer Eignung aufkommen lässt.

Die Bedeutung dieser Symbolik hat sich die Frauenbewegung häufig zunutze gemacht und offensiv »als Frauen« Lebensverhältnisse, die im Privaten ausgrenzt wurden und als »natürliche« keine Frage von Recht und Gerechtigkeit zu sein schienen, in die Öffentlichkeit gebracht, wie etwa sexuelle Verhältnisse in der Ehe oder die Entscheidung über eine Schwangerschaft. Anlässe und Ansprüche der Frauenbewegungen an die politische Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens kamen häufig aus dem Privaten. Denn im persönlichen Leben von Frauen zerren gesellschaftliche Spannungen, die so lange als private Probleme betrachtet werden, bis die individuellen Strategien von Frauen, diese Spannungen zu bewältigen, allgemein spürbare Auswirkungen zeigen. So wie jetzt unter der Wirkung der Individualisierung der Lebensführung und den Anforderungen an Selbstständigkeit die persönliche Fürsorge und die Selbstsorge zum Problem werden und weniger Kinder geboren werden.

Aus der feministischen Bewegung ist eine Frauen- und feministische Geschlechterforschung hervorgegangen, die kräftige Anstöße zur normativen Diskussion von Sozialpolitik gegeben hat, die nicht auf der unbezahlten Haus- und Fürsorgearbeit von Frauen beruhen darf. Und nun kann sie es auch nicht mehr. Die Veränderungen der Lebensformen von Frauen ist im vollen Gange und setzt weiteren gesellschaftlichen Wandel in Bewegung. Junge Frauen gehören zu einer Frauengeneration, die am besten ausgebildet ist, und haben entsprechende Ansprüche an ihr berufliches und privates Leben. Die traditionelle Bindung der Frauen an Ehe und Familie hat einer »Pluralisierung der Lebensformen« Platz gemacht. Sexualität hat Ausdrucksformen und Gelegenheiten, die von der Entscheidung, ein Kind zu bekommen, unabhängig sind. Die äußere Lebensführung von jungen Frauen und Männern hat sich bis zum Alter von Ende zwanzig angeglichen. Kinder haben dann wieder großen Einfluss auf die Differenzierung zwischen männlichen und weiblichen Lebensläufen. Aktive Väter sind noch selten und müssen sich für ihre Interessen etwa an reduzierten Arbeitszeiten noch politische Resonanz verschaffen.

Die Kanzlerkandidatin hat als Frau die Fantasien heftig bewegt. Die veröffentlichten Produkte davon sind mehr oder weniger vergnügliche Gegenstände für interdisziplinäre Geschlechterforschung und Belege für deren sinnvollen und notwendigen Beitrag zur Selbstreflexion einer Gesellschaft mit aufklärerischem, demokratischem Anspruch. »Wie weiblich wird die Republik?«, fragt ein Journal für politische Kultur. Das öffentliche Räsonnement um Vorstellungen von Weiblichkeit bringt Bilder, Wertungen und Maßstäbe zum Vorschein, die in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft wirken und ebenso handfest materiell die Zugänge von Frauen und Männern in verschiedenen Öffentlichkeiten beeinflussen wie die Möglichkeiten und Fähigkeiten, ihren Interessen Ausdruck und Nachdruck zu verschaffen. Der Wirbel um die Frau als Kandidatin zeigt, dass »Frau« gerade auch in der historisch männlich geprägten Politik ein Symbol ist, in dem mehr als nur die Realität ausgedrückt ist. Die Kandidatin selbst sucht, ganz Physiker, die Unwägbarkeit dessen, was in der Symbolisierung steckt, mit der Reduktion auf die Tatsache zu bannen: »Dass ich eine Frau bin, ist ja nicht zu übersehen.«

Die Partei der Kandidatin hebt traditionellerweise die Familie wieder auf die politische Agenda. Die Kandidatin selbst erscheint wie ein herausragender weiblicher Prototyp vom adult-worker-model, demzufolge alle erwachsenen Personen einer bezahlten Arbeit nachgehen und das eine sozialpolitische Alternative zum Familienernährermodell ist. Das Modell der erwachsenen Erwerbstätigen löst Frauen aus der ökonomischen Bindung an einen Ehemann und diesen aus der Verpflichtung, die Familie finanziell zu versorgen. Anders betrachtet: Es ermöglicht die Wahl von Lebensgemeinschaften verschiedener Art. Zugleich wird eine Leerstelle des Modells spürbar, nämlich die der fürsorglichen Betreuung und Pflege einerseits der jungen Menschen, bis sie denn erwachsene Erwerbstätige sein können, und andererseits der alten oder kranken Menschen, die dies nicht mehr sein können. Auffällig wird die Leerstelle, wenn das massenhafte, individuelle Verhalten von Frauen in ihrer persönlichen Lebensführung zum Beispiel sich als gesellschaftliches Problem von Kinderlosigkeit auswirkt und Lösungen andererseits etwa in der Diskussion um das Adoptionsrecht Einzelner und gleichgeschlechtlicher Paare an den heteronormativen Vorstellungen von Paarbeziehungen rütteln müssen.

Schon diese zunächst kruden, auf den Markt bezogenen Lebensbedingungen sind ohne eine Reflexion auf Werte und Normen von Weiblichkeit und Männlichkeit und von »normalen« Geschlechterverhältnissen, die auch die gesellschaftliche Organisation und Verteilung von Arbeit prägen, nicht so zu verändern, dass sie dem Anspruch sozialer Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern genügen. Schwerer ist es, jenseits des Streits um mehr oder weniger traditionelle Vorstellungen von Familie einen Raum für politische Diskussionen zu schaffen, die die tatsächlich praktizierten Lebensweisen zur Kenntnis nehmen und aus den Erfahrungen praktizierter, nicht-konventioneller Kulturen von Intimität und fürsorglichen Beziehungen Ansprüche an die politische Gestaltung formulieren. Politik hat nicht Lebensformen vorzuschreiben, sondern die selbst gewählte Lebensgestaltung zu ermöglichen. Dieses Ziel hatten bisher alle feministischen Bewegungen. Die letzte hat gegen die Monokultur der Lohnarbeitsgesellschaft deutlich Widerspruch erhoben. Es ist eines ihrer paradoxen Ergebnisse, dass zwar der Arbeitsbegriff ausgeweitet wurde und keine Partei die unbezahlte Arbeit von Frauen unerwähnt lässt. Doch für die Vorstellungen von der Gestaltung des persönlichen Lebens fehlen in der politischen Diskussion die Begriffe.

»Die mächtigsten Zerstörungen im politischen Prozess beruhen auf einem Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten.« (Negt/Kluge) Die Betonformel von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zeigt trotz ihrer scheinbaren Geschlechtsneutralität immer noch zuerst ein Problem von Frauen an, weil die Begriffe historisch und die Institutionen tatsächlich mit Geschlechterzugehörigkeit verbunden sind. Und sie verdrängen Ausdrucksmöglichkeiten für die Vielfalt von Lebensformen, die vor allem Frauen unter den teilweise widersprüchlichen Anforderungen und Erwartungen aus beiden Institutionen praktizieren und aus denen Anforderungen und Forderungen an die Veränderung von Normalitätsvorstellungen von männlicher Lebensführung folgen.

Anlässe und Ansprüche an die politische Gestaltung des Gemeinwesens kommen aus dem Privaten. Das aktive In-Erscheinung-Treten, um die eigene Sicht auf die Beschaffenheit des Gemeinwesens öffentlich zur Geltung zu bringen, im Sinne Hannah Arendts, hat die Frauenbewegung vor allem dadurch erreicht, dass sie das im Privaten Eingesperrte in Bewegung und zum Politischen ins Verhältnis gesetzt hat. Private Lebensformen sind ein Politikum. Durch ihre Lebensführungen, die die viel beschworene Individualisierung nach den Regeln des Arbeitsmarktes erzwingt und ermöglicht, schaffen sich Frauen selbst ein diesen Anforderungen angemessenes Privatleben und verändern die Privatsphäre, in der Frauen traditionell für die subjektive Handlungsfähigkeit des »Berufsmenschen« sorgten.

Zur Neugestaltung des Privaten beizutragen ist eine vordringliche Aufgabe feministischer Politik. Aus ihr müssen Maßstäbe für politische Gestaltung gegen die ausgreifenden Tendenzen zur Ökonomisierung des Sozialen formuliert und antagonistische Konflikte benannt werden. Politische Programme der Union schaffen dafür eine Gelegenheitsstruktur. Diese darf nicht dadurch verspielt werden, dass Feministinnen schon abwinken, wenn von »Familie« die Rede ist. Im siebten Familienbericht, der in der neuen Legislaturperiode veröffentlicht werden wird, heißt es: »Die Familien schaffen die Basis für Generationensolidarität und die Bereitschaft, Fürsorge für andere zu übernehmen. All dies kommt nicht nur Familienmitgliedern zugute, sondern nutzt jedermann, selbst dem, der sich an diesen Herstellungsleistungen innerhalb des Familienverbandes nicht beteiligt.« Ersetzen wir »Familie« durch den Begriff von verlässlichen, dauerhaften Lebensgemeinschaften mit Kindern, dann ist hier eine Perspektive von Fürsorgearbeit und fürsorglichen Beziehungen aufgenommen, die in der feministischen Sozialforschung in den letzten Jahren zur Analyse der Veränderungen des Wohlfahrtsstaates und der Prozesse gesellschaftlicher Integration erkenntnisreich entfaltet wurde.

Fürsorge ist keine unerschöpfliche Ressource, die im Reservat der Privatsphäre von allein gedeiht. Vielmehr müssen die sozialen Bedingungen dafür, dass fürsorgliche Praxis sich entfalten und erfahren werden kann, selbst ein Ziel politischer Gestaltung sein. Der Blick auf konkrete fürsorgliche Beziehungen ist ein notwendiges Korrektiv gegenüber einer einseitigen Politik von »Arbeit hat Vorrang«. Die gesellschaftliche Organisation von Arbeit muss immer daran gemessen werden, wie sie die Möglichkeiten und Fähigkeiten von Frauen und Männern beeinflusst, verlässliche Beziehungen eingehen, sie aufrechterhalten und gestalten zu können. Etwa durch Zeitpolitik: Zeit gestalten heißt Beziehungen gestalten.

Diskussionen um die Formen von Privatheit und persönlichen Lebensweisen in die politische Öffentlichkeit zu bringen, ist Teil des Kampfes um die Deutungsmacht dessen, was als »Angelegenheiten von allgemeinem Interesse« anerkannt wird, Teil des Kampfes um die Begriffe, die Redeweisen und kulturellen Codes von Geschlechternormen, die uns zur Verfügung stehen, um persönliche Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren und sie zu Ansprüchen in den Kontroversen um politische Prioritäten zu formulieren. Die Kanzlerkandidatin hat als Frau Irritationen im männlichen Gehäuse der Politik ausgelöst. Die Aufregung spricht davon und dafür, dass man hinter dem Symbol etwas sehen kann, was man vor lauter Realpolitik sonst nicht sieht. Die Kandidatin ist nicht Vertreterin »der Frauen«. Die können die Irritationen nutzen und sich selbst deutlich artikulieren.