Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

Hamastan?

 

 

Die Erde ist bekanntlich kugelförmig. Daher hat sie unendlich viele Symmetrieebenen. Ähnlich vielfältig scheinen auch die Äußerungen zu einem ihrer Hauptkonflikte zu sein. Im Fall des israelischen Abzugs aus dem Gaza-Streifen divergieren die Meinungen zwischen »Vertreibung« der Israeli durch die Hamas, wie es laut einer nicht näher genannten Umfrage »94 Prozent der Palästinenser« glauben (FAS, 14.8.), bis zu Charles Krauthammers Fantasien des kollektiven Suizids in der Washington Post (26.8.) mit scharfer Kritik an Bushs Politik: »Das ist eine Verordnung für Israels Selbstmord; oder mehr noch, für seinen Mord, weil die Israelis nicht vorbereitet werden, in welche weiteren Zugeständnisse sie blind hineinmarschieren. Die finale Konzession wird sein, ins Boot zu steigen und zurückzusegeln – aber wohin?«

Doch ging die historische Aktion geradezu zivilisiert vor sich. Natürlich gab es für die Medien reichlich Material für Chaos und Spannungen. Aber diese Übergangsphase war kurz: Am 12. September verließ die israelische Armee den Gaza-Streifen, am 21.9. berichtet Ha’aretz, dass Israels Innenminister Ofir Pines eine Verordnung unterschrieben hat, der gemäß »Gaza Ausland ist«. Die Übergabe der Verwaltung an die Palästinensische Autorität ist somit abgeschlossen. Das Nahost-Quartett – Kofi Annan, Condoleezza Rice, Jack Straw, Sergej Lavrov, Javier Solana und Benita Ferrero-Waldner trafen sich am Rande der UN-Generalversammlung – sprach in einer Erklärung seine Anerkennung für »den politischen Mut« Sharons und »das verantwortliche Verhalten der palästinensischen Behörde« aus (Middle East Quartet Statement UN-Doc S304/05, 20.9.05). Die wiederholte Mahnung an Abbas Adresse, den Kampf gegen den Terrorismus zu verstärken, wurde von nahezu allen Agenturen und Medien zitiert. Doch zentralen Raum nimmt in der Erklärung die Frage des wirtschaftlichen und politischen Aufbaus ein, verstehen doch alle Beteiligten den Gaza-Streifen mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern als Kernzelle des zu errichtenden palästinensischen Staates, somit als ersten Schritt zur Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung.

Groß war der Jubel der Menschen in Gaza. Tausende durchbrachen den »Zaun«, die Grenzabsperrungen zu Ägypten, wo die Händler die Geschäfte ihres Lebens machten. Was für westliche Bürger selbstverständlich ist, erlebten die meisten Menschen zum ersten Mal überhaupt: sich frei bewegen zu können. Denn seit dem Sieben-Tage-Krieg 1967 ist dieses Gebiet von Israel besetzt. Gaza ist von seiner politischen Entwicklung her auch »anders« als die Westbank. Zwar leben in den Lagern des Streifens die Hälfte der Flüchtlinge sowie deren Nachkommen aus dem 1948er Krieg. Doch die ägyptische Herrschaft bis 1967 hat für andere Strukturen gesorgt, schreibt Gisela Dachs in der Zeit 37/05:

»Im Gegensatz zum Westjordanland, das von 1948 bis 1967 in die gesellschaftlichen Strukturen des Nachbarlands eingebunden war und deren Bewohner volle Partizipationsrechte genossen, konnten sich zu dieser Zeit im Gazastreifen kaum politische Institutionen herausbilden. So gab es während der ägyptischen Herrschaft keine Wahlen, auch waren nur wenige Palästinenser in der lokalen Verwaltung beschäftigt. Die wenigen Institutionen, die dennoch entstanden waren, wurden unter der israelischen Besatzung aufgelöst. Beraubt der Möglichkeit, sich politisch zu artikulieren, konzentrierte die Bevölkerung im Gazastreifen ihre Energien nach 1967 auf den bewaffneten Widerstand. Das Alltagsleben wurde von militanten Organisationen beherrscht, die Selbstjustiz übten und große Teile der Bevölkerung einschüchterten. Als 1971 die israelischen Sicherheitskräfte diese Gruppierungen zerschlugen, etablierten sich kulturelle und soziale Einrichtungen, doch blieb deren Tragweite gering. Während der ersten und zweiten Intifada waren es dann erneut militante Gruppen, die weitgehend die Straßen kontrollierten.«

Gaza ist die Hochburg der Hamas, »einer palästinensischen Variante der ägyptischen Muslimbrüderschaft«, deren Einfluss das Aussehen der Stadt deutlich prägt, im Gegensatz zum in vieler Hinsicht westlich wirkenden Ramallah im Westjordanland, Sitz der palästinensischen Autorität. Eine organische Verbindung mit den Westbanks existiert nicht, Israel lässt Verkehr kaum zu. Die Verbindung ist nur per Telefon oder E-Mail möglich. Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik weist den Gazastreifen als mit Abstand ärmsten Teil der palästinensischen Gebiete aus: Das Bruttoinlandsprodukt liegt pro Kopf um ein Drittel niedriger, es ist gegenüber 1999 um 38 Prozent zurückgegangen. Die Armutsrate ist fast doppelt so hoch wie in der Westbank und beträgt 65 Prozent, die Arbeitslosenrate 35 Prozent (Muriel Asseburg: »Nach dem israelischen Teilabzug«, SWP 8/05). Wenn hier jahrzehntelang eine präemptive Militärstrategie unter Vernachlässigung zivilgesellschaftlicher Entwicklung betrieben wurde, dann ist dieses Konzept gründlich gescheitert, und Sharon hat die dringend notwendigen Konsequenzen gezogen.

Es ist also kein Zufall, wenn das Nahost-Quartett bei Abbas zwar den Kampf gegen den Terror anmahnt, jedoch mit großer Sorge auf die wirtschaftliche Lage blickt und einige Sofortmaßnahmen wie eine Hilfe von 750 Millionen Dollar, Unterstützung für den wirtschaftlichen Dreijahresplan oder Hilfe beim Ausbau des Hafens ankündigt. Bei den Voraussetzungen hat allerdings Israel den Fuß in der Tür. So existiert »noch immer kein Abkommen mit Israel über einen speditiven Güterverkehr oder über ungehinderten Personenverkehr am Rafah-Übergang nach Ägypten … Der Sonderemissär des Nahost-Quartetts Wolfensohn hatte unlängst den Warenverkehr zwischen Gaza, Israel und dem Westjordanland als Schlüsselelement für jeglichen Wirtschaftsaufschwung der Palästinenser genannt.« (NZZ, 24.8.) Jede Verzögerungstaktik wird aber nur Hamas stärken, deren Absicht, an den Parlamentswahlen teilzunehmen, ohnehin allen Seiten Kopfzerbrechen bereitet.

Jetzt gruppieren sich alle politischen Kräfte neu. Al-Jazeera berichtete am 22.9. über das Freitagsgebet, das Scheich Nazzar Rayan in Gaza hielt: »Das Überwinden des Feindes in Gaza bedeutet nicht, dass diese Phase beendet ist. Wir haben noch Jerusalem und das Westjordanland. Wir werden nicht ruhen, bis wir all unser Land, unser gesamtes Palästina befreit haben. … Unser Jihad wird fortgesetzt, und wir haben noch einen langen Weg zu gehen. Wir werden ihn gehen, bis der letzte Usurpator aus unserem Land vertrieben ist.« Und Hamas-Sprecher Mushir Al-Masri ließ es in einer öffentlichen Rede an Deutlichkeit nicht fehlen: »Wir sind hier in Massen gekommen um zu proklamieren, dass Hirbiya und Ashkelon von den Mujahedin eingenommen werden. Wir sind gekommen um zu sagen, das hier sind die Waffen des Widerstands, die Sie hier sehen. Allah wird bereit bleiben, damit wir Palästina befreien können – von der See bis zum Fluss, vom Mittelmeer bis zum Jordan, ob sie mögen oder nicht.« Ein Tonband der Al-Qassam-Brigaden, des militärischen Arms der Hamas, ruft dazu auf, auf keinen Fall die Waffen abzugeben, mit denen man noch ganz Palästina befreien werde, und wendet sich an »die lieben Brüder im Irak«, »die Befreiung von Gaza als eine Lektion für uns, für euch und alle, die in der Welt Freiheit suchen«, zu verstehen: »Verlasst Eure Waffen nicht, widersteht Euren Feinden, bis ihre Nasen im Schlamm reiben …« (Al-Risala, 27.8.)

Eine umfassende Einschätzung der Hamas zum aktuellen Stand des Konflikts gab der Hamasführer Mahmoud Al-Zahar im Interview mit der arabischen Tageszeitung Al-Sharq Al-Awsat (18.8.). Der israelische Rückzug sei nur ein Teilerfolg der palästinensischen Befreiungsbewegung, man werde die Waffen nicht abgeben, da Israel grundsätzlich nicht anerkannt werde. Sharon sei nicht wegen materieller Anreize der USA aus Gaza gegangen, sondern er bezahle den Preis, dass »das Zerwürfnis innerhalb des Likud und innerhalb der israelischen Gesellschaft sich verfestigt hat und dass viele kulturelle und ideologische Überzeugungen in die Brüche gegangen sind. … Sogar die Trennungsmauer stellt trotz ihrer destruktiven und negativen Effekte eine Eindämmung der zionistischen Ideologie dar und läutet den abschließenden Kampf zur Lösung des Konflikts ein.«. Al-Zahar sieht den Waffenstillstand (bis Ende 2005) von Israel verletzt, das sich nicht an die Bedingungen gehalten habe. Wobei sich Israel sowieso nie an etwas halten kann, denn in der Geisteswelt dieses Hamasführers existiert es einfach nicht: »… es gibt keine israelischen Städte, es gibt lediglich Siedlungen. … Den Staat Israel erkennen wir weder jetzt noch in Zukunft an. Israel hat kein Recht auf irgendeinen Teil palästinensischen Landes. Das ist ein wichtiges Thema: Unsere Position resultiert aus unseren religiösen Überzeugungen. Dies ist heiliges Land, das weder den Palästinensern noch den Arabern gehört. Es gehört den Muslimen auf der ganzen Welt. Wir betrachten den Gazastreifen, Jerusalem und die Westbank als eine geographische Einheit.« Nicht nur die USA und Israel, auch Abbas und Al Fatah befürchten, dass Hamas durch die Wahlen die Macht in Gaza ergreifen wird. Al-Zahar: »Niemand kann uns besiegen, weder mit einer eisernen noch mit einer goldenen Faust. … Israel soll sterben!«

Kein Wunder, dass es in Israel zahlreiche Stimmen gibt, die vor einer dritten Intifada warnen. Auch die israelische Linke ist sich im Gegensatz zur konservativen Linken hierzulande über den terroristischen Charakter der Hamas bewusst. Der Historiker Tom Segev betonte dies in einem Gespräch (FR, 14.9.): »Wenn die Palästinenser nichts zu verlieren haben, ist das auch für uns Israelis die schlechteste Situation. Mit Gaza haben sie jetzt etwas gewonnen, was für das Konfliktmanagement sehr wichtig ist. Natürlich gibt es da eine Gefahr, weil sie es durch Terror erreicht haben. Tatsächlich sind wir geschlagen abgezogen. Die Palästinenser haben uns dazu gezwungen. Also macht es Sinn, dass sie uns erneut zu zwingen versuchen könnten.«

Die Diskrepanzen in den Einschätzungen betreffen sowohl ganz konkrete Fragen wie auch die Perspektiven. Die Teilnahme der Hamas an den Wahlen und ihre Einflussmöglichkeiten werden in Europa oft heruntergespielt. Die bereits zitierte SWP-Studie meint, ihr Ziel als nationale Vetomacht werde Hamas nicht erreichen, »da sie infolge der israelischen Liquidationspolitik auf nationaler Ebene nur auf wenige populäre und charismatische Führungspersonen zurückgreifen kann«. Doch vernachlässigt die Studie den totalitären Anspruch der Hamas, wenn sie grosso modo empfiehlt, »die Oppositionskräfte durch Wahlen ins politische System ein(zu)binden«. Gerhard Schoenberner hingegen bezweifelt im Freitag (16.9.), dass die Palästinenser »die Zerstörung der Siedlungen in Gaza als ›mutigen israelischen Schritt hin zu einem historischen Kompromiss‹ …« (er zitiert hier Amos Oz) »… verstehen und nun verstärkt gegen die militanten Fanatiker in den eigenen Reihen vorgehen. … Was aber wird geschehen, wenn sich erweist, dass der gewaltlose Weg, den Abbas eingeschlagen hat, ohne Resultat bleibt?« Sowohl Roadmap als auch Sharons Disengagement-Plan koppeln die Wahlen mit der Sicherheitsfrage und dem Gewaltmonopol. Die Palästinenserbehörde muss die Terrorgruppen auflösen, insistiert der israelische Politikwissenschaftler Eyton Gilboa in der Netzeitung (31.8.); ein »Hamastan« müsse verhindert werden: »Präsident Mahmoud Abbas kann die Hamas stoppen, und die Amerikaner müssen ihn unterstützen, weil sie ihn damals ›erfunden‹ haben, als Premierminister und Alternative zu Arafat.«

Gerne würde man sich den Zukunftsträumen anschließen, die Grisha Alroi-Arloser von der Deutsch-Israelischen Wirtschaftsvereinigung für das Israelforum Frankfurt entworfen hat: »Wir schreiben das Jahr 2015. Israel hat 8,7 Millionen Einwohner; damit ist das Land so bevölkerungsstark wie Schweden oder Österreich und größer als 20 der mittlerweile 36 Mitgliedsstaaten der EU. Vor zehn Jahren war der stagnierende Friedensprozess wieder in Bewegung geraten. … Sowohl Israelis als auch Palästinensern wurde der hohe Preis der Abwesenheit einer Friedensregelung immer bewusster. … Mit schrittweiser Abnahme der Gewalttätigkeiten zog sich Israel 2005 aus dem Gazastreifen und bis 2010 fast aus der gesamten Westbank zurück. Der am 1. September 2007 ausgerufene Palästinenserstaat hatte einer Entmilitarisierung zugestimmt, 900000 palästinensische Flüchtlinge aufgenommen und zählt heute, acht Jahre danach, fast 7 Millionen Einwohner. … Durch die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Israel und Palästina 2012 hat die EU schließlich auch ihren politischen Einfluss in der Region geltend gemacht …«