Herbert Hönigsberger

Neoliberalismus gestoppt – politische Klasse gefordert

 

 

Selten hat jemand persönlich eine erstklassige und einmalige Winner-Situation so schnell und so gründlich verspielt. Die Merkel-Kampagne von 2005 wird ins Lehrbuch als eine der dümmsten eingehen. Zunächst die Schönborn-Stoiber-Sottisen. Dann die kulturelle Dissonanz mit dem Stonessong. Was eigentlich hat diese Frau aus Mecklenburg-Vorpommern mit Micks Angie zu tun? Und diese Dortmunder Popmesse mit einer konservativen Partei? Als Garnitur die Usurpation des ukrainischen Orangs, eine gewagte Verkehrung des Gegenübers von Fortschritt und Reaktion. Draufgesattelt diesen reaktionären Phantasten, finanzpolitischen Schwarmgeist und Kandidaten für einen Arztbesuch wegen Visionssyndromen. Drangepappt die lächerliche Tandemlösung. Die neue Ehrlichkeit beschränkt auf die instrumentell verengte, ökonomisch fatale Wahrheit der Mehrwertsteuererhöhung. Nichts Anrührendes, nichts Sympathisches, nur ein emotionsloser naturwissenschaftlicher Blick auf das Käfergewimmel da unten, Kälte statt Mitgefühl. Und dann dieses Wahlkampffoto, diese wahrheitswidrige Aufhellung des allseits bekannten Griesgramgesichtes durch ein Cheerleadergrinsen. Dabei wollen wir doch in schweren Zeiten nicht von Püppi regiert werden, sondern von einem Kantschädel mit Charakter. Den Grundton aber lieferten apokalyptische Krisen- und Katastrophenszenarien einerseits, phantastische Verheißungen von Wachstum und Arbeitsplätzen andererseits, die pseudoradikale Umsturzambitionen legitimieren sollten. Ein Wahnsinn das alles. Die schwarzen Kampagneros und die antreibenden Medienmacher haben verkannt, was man wissen sollte. Diese Gesellschaft lässt sich so nicht aufputschen. Sie hat das neoliberale Revoluzzertum mittels Wahl ausmanövriert.

Die dröhnende Abschaffung der Wahlen durch Vorwegnahme des Ergebnisses seitens des medial-demoskopischen Komplexes, vor allem aber die arrogante Siegesbesoffenheit lieferten Vorlage und Motivation für die sozialdemokratische Kampagne. Die wiederum war eine der schlauesten seit langem. Nicht nur gelang es ihr, jede Unionsschwäche sofort aufzugreifen. Schröder hat es auch geschafft, den drohenden Arbeitslosenwahlkampf in einen Steuerwahlkampf umzufunktionieren, eine aussichtslose Defensiv- in eine Offensivsituation zu drehen und die Opposition anzugreifen, als habe sie schon angerichtet, was sie erst ankündigen wollte. Doch das Wegweisende, das Moderne der SPD-Kampagne war der weitgehende Verzicht auf Ankündigungen und Versprechungen. Gerade wegen ihres programmatischen Minimalismus war sie wahrhaftig. Denn programmatische Unschärfe ist die schlichte Wahrheit zeitgenössischer Politik in der Ära der Globalisierung. Stattdessen ständig Hinweise auf das Geleistete, auf die Schwierigkeiten und Risiken, auf die eigene Erfahrung, auf Krisenkompetenz, Festigkeit. Und die Hoffnung, der denkende Bürger werde selber extrapolieren, was dies für die Zukunft bedeute.

Jenseits der formalen Legitimation durch Prozente gibt es auch eine in der Sache: Die einen waren schlecht, die anderen waren gut. Der Souverän hat die demoskopisch-medialen Nebelschwaden weggeblasen. Sichtbar wird eine mittelmäßige Politikerin, mit etwas taktischem Geschick und Machtwillen so wie viele, aber ohne Führungsfähigkeit, ohne Charisma, eine identitäts- und biografiearme mediokre Person, die zu einem hauptstädtischen Kunstprodukt hochgehypt wurde. Wer eine Siegchance so verspielt, wer ein solches Maß an soziokultureller Blindheit, gesellschaftsdiagnostischer Ignoranz und historischer Unbedarftheit erkennen lässt, wer gravierende lageanalytische, strategische und taktische Fehler wie bei Irakkrieg und Türkeibeitritt nicht nur begeht, sondern auch nicht korrigiert, ist nicht fähig, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Sie kann es nicht. Wir wollen sie nicht. Die Mehrheit will sie nicht. Sie ist eine Zumutung. Schröders Anspruch auf die Kanzlerschaft wird umgekehrt nicht durch den ein oder anderen Parlamentssitz mehr für die Union widerlegt. Schröder ist der Kanzler und er ist der Kanzler der gesellschaftlichen Verhältnisse. Er ist der Reformator und nicht die marktradikalen Maulhelden. Er hat sein ganzes persönliches Gewicht und seine politisches Geschick in die Waagschale geworfen. Er kann es. Leisten wir uns den Schröder – sagt CSU-Mann Gauweiler. Was für eine Demokratie, die sich den Besten nicht leisten wollte, wenn sie kann.

In der CDU kommt jetzt das böse Erwachen. Zu weit hat sich die Partei Adenauers zum Spielball einer neuen egomanischen Journalistengeneration gemacht. Die hat das Kanzlerstürzen auf ihren Berliner Pressefesten und Strandpartys als Karrieresprungbrett entdeckt. Und die Abrechnung mit Schröder als Abrechnung mit 68. Jetzt ist diese Generation irgendwas und nirgendwo schon wieder um den Adrenalinschub und Endorphinkick gebracht worden, den sie den 68ern seit jeher neidet. Revoluzzen an Redaktionslaptops ist eben nur ein schaler Ersatz für echte Revolte. Zu weit auch hat sich die Union zum Werkzeug eines neoliberalen Zeitgeistes machen lassen, der noch an international zweitrangigen Ökonomielehrstühlen hierzulande und bei Lobbyisten hegemonial sein mag, aber gesellschaftlich nicht trägt. Und erschrecken sollte die Union über Fiktion und Erosion von Bürgerlichkeit. Diese so genannte bessere Gesellschaft, das angemaßte, selbst ernannte bürgerliche Lager, hat aufgegeilt durch Abrechnungsphantasien den Schampus schon vorher warm versoffen. Dieses ganze Gschwerl, diese Bussi-Gesellschaft, die Steuerhinterzieher, Steuerflüchtlinge und Schwarzarbeiterbeschäftiger, die Spekulanten, Subventionsschwindler, Edelballermänner und eingebildete Eliten, die Swingerclubbesitzer, Drückerkolonnenbetreiber, Inkassomacher und Pharmakongressbesucher, diese ganze Casting- und Containergesellschaft, diese New-Economy-Parvenüs und Globalisierungsgewinnler, diese ganzen wohlhabenden Asozialen liefern nur noch ein abstoßendes Zerrbild von Bürgerlichkeit. Zu sehr hat sich die Union vom Zuspruch blenden lassen, den der Lumpenliberalismus in diesen Milieus gefunden hat. Bürgerlicher Anstand, Gesetzestreue, Mitmenschlichkeit und bürgerschaftliches Engagement sind längst in die altruistischen Mittelschichten und die Nachbarschaftsnetzwerke der kleinen Leute ausgewandert, nach links, zu den verhöhnten »Gutmenschen«.

Der ideelle Gesamtwähler, der abstrakte, aggregierte Souverän hat die gesellschaftliche Stimmungslage reproduziert und der Politik einen klaren Auftrag erteilt: So nicht wie bisher und auch nicht so wie von den anderen geplant. Macht Reformen, aber stellt sie auf eine breitere Basis. Modernisiert gemeinsam, aber mit Augenmaß. Haltet den Laden zusammen und sprengt ihn nicht auseinander. Dynamisiert die Wirtschaft, aber lasst sie nicht aus dem Ruder laufen. Stellt euch der Globalisierung, aber habt ein Herz für die, die nicht mitkommen. Denkt an die kleinen Leute!

Der Richtungswahlkampf hat die Lagerbildung entlang der Rechts-Link-Achse in einem Ausmaß reanimiert, die den Ideologen der Ideologiefreiheit unvorstellbar schien. Das linke Lager dominiert politisch- und soziokulturell. Die Gesellschaft ist im Streit um Ursachen und Therapie der Arbeitslosigkeit nach links gerückt. Die Mehrheit tickt rot und grün, irgendwie, diffus, instinktiv, intuitiv, aber jedenfalls tickt sie. Schröders Koalition wurde nicht durch eine gelb-schwarze Mehrheit abgewählt, sondern durch Stimmen für die Linkspartei. Rot-Grün ist als Parteienkoalition der alten BRD erst einmal beendet, aber als gesellschaftliche Konstellation keineswegs erledigt. Denn die Programmgeschichte von SPD, Grünen und Linkspartei zeigt, dass hier das zeitgenössische Rot-Grün der Koalition und das Rot-Grün der Jusos und Fundis der Achtzigerjahre nebeneinander stehen. Und die Geschichte von KPD-SED-PDS-Linkspartei ist Teil der dramatisch-tragischen Geschichte der europäischen Linken. Die Milieus überschneiden sich ohnehin. Rot-Grün als gesellschaftliche Mehrheitsströmung macht eine Metamorphose durch und differenziert sich aus. Dagegen gibt es seit drei Bundestagswahlen keine »bürgerliche« Mehrheit. Das müssen die künftigen Regenten in Rechnung stellen.

Die politische Klasse ist gefordert. Sie muss aufpassen, dass sie zur ökonomischen Stagnation nicht noch eine hausgemachte politische Krise beisteuert. Die Bewährungsprobe ist da. Sechs Parteien, fünf Fraktionen, keine der vertrauten Koalitionen mehrheitsfähig, die alten Volksparteien die Verlierer. Alle Spieler mit Veto- und Blockademöglichkeiten, alle auf Mitspieler angewiesen, Optionen für nie da gewesene Konstellationen. Die schwierigste Regierungsbildung seit 1949. Jetzt erst schlagen die Probleme des Landes voll auf die politische Sphäre durch. Wenn es je eine Berliner Republik geben sollte, da ist sie. Wer regieren wird, hängt allein vom Geschick der politischen Klasse ab, von ihrer Konsens-, Kompromiss- und Kommunikationsfähigkeit, deretwegen wir die Damen und Herren nach Berlin schicken und anständig alimentieren. Jetzt ist die Zeit für die Bedächtigen, die Klugen, die Tüchtigen, die Schweiger mit den guten Kontakten und die Kenner der Details, die Kompromissschmiede und Konsensakrobaten. Das politische System kehrt zum Kern des Politischen zurück, zum ruhigen Aushandeln dessen was geht – und das unter sich. Es ist die Stunde der Politik. Ob Sternstunde liegt in der kollektiven Weisheit der politischen Klasse.

FDP und Grüne könnten in neuen Dreier- oder Viererkonstellationen von den jeweiligen Großen sogar mehr angeboten bekommen und mehr herausholen als je. Doch haben Schröder und Merkel für neue Partner ein Angebot parat, dass diese nicht ablehnen können und gleichzeitig die alten nicht blockieren müssten? Gelänge das einem, wäre dies schier unfassbare, allerhöchste Staatskunst, der Befähigungsnachweis für die Kanzlerschaft. So läuft alles auf die große Koalition zu, die einzige vertraute und die einfachste Konstellation.(1) Merkel wird sie nicht führen können. Schröder hat es krawallig aber kalkuliert dem Präsidenten und der Union am Wahlabend hin gerieben. Er hat zwei Optionen: mit großer staatspolitischer Geste einem Neuen Platz machen. Oder sich im dritten Wahlgang von der Linkspartei wählen lassen, die Merkel nicht ins Amt hieven kann. Merkel hat nur eine: Abwahl akzeptieren, rechtzeitig das Feld räumen. Der Fraktionsvorsitz ist mehr als genug. Über die gescheiterte Kandidatin sollte mit der SPD nicht zu reden sein, auch nicht als Nachrückerin. Über den dritten Mann – mit Respekt vor den paar Prozentpünktchen mehr für die Union – schon. Für die gesellschaftliche Anti-Union-Mehrheit ist das Zumutung genug.

Die große, lagerübergreifende Koalition der Verlierer unter neuer Führung macht Sinn. Sie wäre die Fortsetzung der Kooperation im Vermittlungsausschuss, bei Subventionsabbau (Koch/Steinbrück), Föderalismusreform (Müntefehring/Stoiber) und Jobgipfel, doch mit weniger Reibungsverlusten. Und gleichzeitig ein Neuanfang. Sie kann endlich die gemeinsame Verantwortung für die Sozialgesetzgebung der letzten Jahre übernehmen, einen abgefederten Reformpfad abstecken und weiterentwickeln, was Schröder begonnen hat. Aber mit neuen Formen öffentlicher Kommunikation, ohne Katastrophentremolo, ohne Umsturzattitüden, ohne den Gestus der Abwehrschlacht, nüchterner eben, sach- und faktenbezogen. Die große Koalition kann die Scherben des Richtungswahlkampfes zusammenkehren und ideologisch abrüsten. Schluss ist dann mit verzeichnenden Lageanalysen und verzerrenden Schuldzuweisungen. Die SPD kann das Schrödererbe mehren und sich als dominierende Mitte-Links-Partei profilieren. Die CDU kann den Neoliberalismus zurückdrängen und zu einem mitfühlenden Konservatismus zurückfinden. Beide zusammen sind stark genug, um dem Primat der Politik gegenüber der Ökonomie Geltung zu verschaffen. Ihr Bündnis auf Zeit personifiziert den Selbstbehauptungswillen der politischen Klasse gegenüber blinder Kapitaldynamik. Doch selbst diese starke Regierung täte sich schwer in den anachronistischen staatlichen Überbaustrukturen von Föderalismus bis sozialer Sicherung. Sie zu entrümpeln gehört zu den Aufgaben, an denen sich die große Koalition wird messen lassen müssen.

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Ausweislich der Ausgabe vom 22. September ist jetzt auch Bernd Ulrich von der Zeit dafür, gerade erst gescheiterter Vorgänger seiner selbst als schwarz-gelber Regierungssprecher.