Martin Altmeyer

Die Phantasie an die Macht

Für eine grüne Vision jenseits der Lager

 

Nachdem sich der Nebel des Wahlkampfs endlich zu lichten beginnt, dämmert der politischen Klasse allmählich, vor welche Aufgabe sie der virtuelle Gesamtwähler in seinem demokratischen Eigensinn wirklich gestellt hat: Nicht mehr und nicht weniger, als eine handlungsfähige Regierung jenseits von Rot-Grün oder Schwarz-Gelb zu bilden. Weil weder das eine noch das andere Lager das verlangte Mandat erhalten hat, darf man im bekundeten Wählerwillen den schlichten Auftrag erkennen, die alte Lagerbindung aufzugeben, mutig nach Bündniskonstellationen der Zukunft zu suchen und intelligente Verhandlungsstrategien zu entwickeln, die am Ende dazu führen sollten, dass aus dem Chaos der neuen Unübersichtlichkeit eine alternative Parlamentsmehrheit auftaucht: Ampel (von der SPD gewünscht), Schwampel (vom politischen Feuilleton gewünscht, weil das mal wirklich was Neues wäre), linke Mehrheit (von unseren altlinken Freunden gewünscht, die die »Linkspartei« wirklich für links halten), rot-grüne Minderheitsregierung (von Dany Cohn-Bendit und Claus Leggewie gewünscht, die den Charme wechselnder Mehrheiten im Blick haben) – alles irgendwie denkbar, aber auch irgendwie undenkbar.

Wieder einmal: Identität oder Politik?

Was die politische Fantasie in den Bereich des Möglichen zu rücken scheint, wird sofort wieder für unmöglich erklärt, weil sich ein politischer Realismus zu Wort meldet, der auf unüberbrückbare programmatische Differenzen, unvereinbare Parteikulturen und Wählermilieus oder unversöhnliche Feindschaften zwischen dem Führungspersonal hinweist. Aber was für ein »Realismus« ist das, der die Dialektik von Möglichkeit und Unmöglichkeit wegen solcher Bedenken still stellt? Oder handelt es sich bloß um jenen psychologischen Realismus, der die Welt da draußen für ein Abbild der eigenen Innenwelt hält?

Den Kern dieser merkwürdigen Art von Realismus bildet, wieder einmal, die Frage nach der Identität, die zumindest in der Öffentlichkeit das Hauptthema zu sein scheint. Gerne beruft man sich auf die eigene Seele, die man nicht verkaufen werde, auf eine Wählerschaft, der man etwas versprochen hätte, auf Inhalte, die man nicht verraten dürfe. Um einer Teilhabe an der schnöden Macht willen verschaffe man dem anderen Lager nicht doch noch jene Mehrheit, die ihm das Volk schließlich verweigert habe – heißt es im Brustton der Überzeugung und unisono bei FDP und Grünen, nur dass es auf der einen Seite das »abgehalfterte rot-grüne Projekt« ist, das man nicht im Sattel halten, und auf der anderen ein »Programm der sozialen Kälte«, dem man nicht noch seine Zustimmung geben wolle (der gleiche Ton bei der »Linkspartei«, nur dass die angebliche soziale Kälte für unsere neue linksnationalistische Ressentimentpartei schon bei Rot-Grün anfängt). Fataler Weise steht die bewahrenswerte eigene Identität ungeschrieben ganz oben auf der Tagesordnung der Sondierungsgespräche und Verhandlungen, nicht die Zukunft Deutschlands, für die man gemeinsam verantwortlich ist.

Aber zu behaupten, im Parlament müssten die Abgeordneten den partikularen Interessen der eigenen Klientel oder den Stimmungen an der Basis ihrer jeweiligen Parteien oder gar der eigenen Empfindsamkeit Rechnung tragen, entspringt einem Grundmissverständnis von parlamentarischer Demokratie. Denn diese unterscheidet sich von der bei Links- wie Rechtsradikalen gleichermaßen beliebten direkten Demokratie dadurch, dass der Volkwille mediatisiert werden muss, dass ein öffentliches Räsonnement darüber stattzufinden hat, was im allgemeinen Interesse liegt, worin die Interessen des Landes bestehen und wie seine Probleme zu lösen sind. Das Grundgesetz fordert mit Bedacht, dass der Abgeordnete, sobald er im Parlament sitzt, dem Ganzen und seinem Gewissen verantwortlich ist und eben nicht den Partikularinteressen seiner Partei oder Wählerschaft. Dieser dem Mandat eingeschriebenen moralischen Last kann man sich auch mit dem Hinweis auf opportune Verpflichtungen nicht entledigen. Zu Recht verlangt nicht nur das Grundgesetz sondern im aktuellen Fall auch eine zunehmend entgeisterte Öffentlichkeit, dass die Parteien sich um der Zukunft willen politisch zusammenzuraufen haben, statt ihre Differenzen zu pflegen. Aber ausgerechnet unsere beiden großen Volksparteien, die in ihrer Größe vom Wähler gerade zurechtgestutzt worden sind, führen einen psychologischen Zermürbungskrieg, um ihren bisher ungedeckten Anspruch auf die Kanzlerschaft anzumelden.

Aber wollen wir wirklich wissen, was Schröder von Merkel (oder gar von Lafontaine) wirklich hält und diese von ihm? Sind wir tatsächlich neugierig darauf, ob der virile Fischer und der schwule Westerwelle tatsächlich wie Hund und Katze sind? Oder die gepflegte Abneigung zwischen Beckstein und sagen wir einmal: Claudia Roth, oder die zwischen Stoiber und Gysi oder zwischen Fischer und Koch – ist das von irgendeinem staatspolitischem Interesse? Dennoch schwelgt man in den Konjunktiven des Unmöglichen, des Unzumutbaren, des Unerhörten. Es ist eine Kakophonie des Wie-soll-das-denn-gehen, Auf-keinen-Fall-mit-dem-oder-mit-der, Die-müssten-sich-neu-erfinden, Wir-würden-unsere-Identität-verlieren, Dann-ginge-uns-die-Basis-verloren, Damit-verlören-wir-jede-Glaubwürdigkeit, Das-wäre-Verrat-an-unserer-Wählerschaft, Die-nötigen-Lernprozesse-würden-übersprungen … und so weiter. Zu gerne versteckt man sich in Beziehungskisten, verstrickt sich in den Distinktionsbedürfnissen interagierender Parteiseelen, statt sich von den mentalen Fesseln des Lagerdenkens zu befreien, indem man fragt: Ja-was-wäre-denn-wenn?

Joschka zurückholen …

Auffällig ist, dass die Grünen in allen möglichen Konstellationen eine Rolle spielen, wenn man von der großen Koalition einmal absieht. Aber was machen sie mit dieser Schlüsselrolle? Sie sind drauf und dran sie zu verspielen. Haben sie die Botschaft des Parteipatriarchen nicht verstanden, der öffentlich mitgeteilt hat, er stehe seiner Partei in der Opposition nicht mehr zur Verfügung? Das heißt doch nichts anderes als: in der Regierung schon! Und die Grünen verzichten sehenden Auges auf diese Option – und damit nicht nur auf ihren strategischen Kopf und Medienstar, der ihnen immerhin den Wahlkampf gewonnen hat und sich im besten Politikeralter keineswegs aufs Altenteil zurückziehen will, sondern auch auf die Beteiligung an einer zukünftigen Regierung.

In einer Jamaika-Koalition könnten sie wieder das Außenministerium besetzen, die Wende in der Energie- und Verbraucherpolitik weiterführen und hätten die Chance, die unvermeidliche Anpassung der Wirtschafts- und Sozialpolitik so mitzusteuern, dass Gerechtigkeit zum Maßstab der notwendigen Reformen wird: neben der Verteilungsgerechtigkeit freilich auch Teilhabe- und Generationengerechtigkeit – und soziale Gerechtigkeit im globalen Maßstab? Jemand muss den Grünen sagen, dass sie selbst – auch wenn sie es nicht mehr wissen und die Intellektuellen zurückrufen müssten, die sie verprellt haben – eine politische Vision jenseits der aufgesprengten Lager verkörpern: Inhaltlich, strategisch und moralisch hätten sie durchaus die Kraft, eine solche Vision mit den anderen Parteien zu verhandeln (verhandeln muss man bekanntlich nur, weil man sich nicht einig ist) und in die pragmatische Form einer Koalitionsvereinbarung zu gießen. Immerhin teilen sie mit einer modernen CDU und Teilen der FDP eine Aversion gegen die Bürokratie, eine kosmopolitische Form von Bürgerlichkeit und nicht zuletzt jene antitotalitäre Grundhaltung, die eine gemeinsame Skepsis gegenüber dem neuen China und dem putinschen Russland erlaubt – Stoff für ein durchaus attraktives Zukunftsprojekt.

Noch ein Blick zurück, bevor man kontrafaktisch ein derart optimistisches Szenario ernsthaft in Erwägung zieht. Bekanntlich ist die erste Bundesregierung mit grüner Beteiligung schon 2002 an der Abwahl knapp vorbeigeschrammt und hat nur unter einer Bewährungsauflage an der Macht bleiben dürfen: Mittel zu finden, um die Massenarbeitslosigkeit einzudämmen. Weil sie gegen diese Auflage eklatant verstoßen hat, ist sie erst zurückgetreten und dann abgewählt worden. Umso stärker lastet auf der grünen Partei, die aus den vorgezogenen Neuwahlen konsolidiert hervorgegangen ist, eine besondere Verantwortung. Sie muss jetzt nicht nur die Fortschritte sichern, die eine rot-grüne Regierung auf kulturellem und ökologischem Gebiet erreicht hat und die vor allem mit der Durchsetzung eines liberaleren Staatsbürger- und Einwanderungsrechts, mit der Einleitung der Energiewende, mit einer gestiegenen Verantwortung in der Frage von Krieg und Frieden verbunden sind. Wenn die Grünen zur weiteren Modernisierung Deutschlands beitragen wollen, müssen sie auch in den strittigen ökonomischen und sozialpolitischen Fragen ihre eigene Positionen zur Geltung bringen, die sie zu lange verborgen haben, weil sie der Sozialdemokratie mit ihrer Vorstellung vom paternalistischen Versorgungsstaat und vom Arbeitsamt als einer – bloß als solche noch nicht erkannten – Jobmaschine das Feld überlassen wollten.

… und zu neuen politischen Ufern streben

Der Wähler hat die Parteien genötigt, die notwendigen sozioökonomische Reformen mit den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung unter einen Hut zu bringen, und davor gewarnt, die Abstiegs- und Veränderungsängste in der Bevölkerung zu ignorieren. Sie dürfen die durch die Globalisierung erzwungenen Anpassungen nicht blockieren, sollten dabei aber behutsam verfahren. Gleichzeitig müssen sie unrealistischen Hoffnungen begegnen, die eigene Lebenswelt möge von der kapitalistischen Globalisierung unberührt bleiben und die Politik sei dazu da, die Menschen ausgerechnet in den Metropolen der Moderne vor deren Folgen und Rückwirkungen zu schützen. Die Politik muss Wege finden, diese Anpassungsprozesse erträglich zu gestalten und den unvermeidlichen Ausgleich von Arm und Reich, der im Weltmaßstab zu leisten ist, auch im eigenen Land zu gewährleisten. Die ganze Debatte um den angeblichen Immobilismus der Gesellschaft ist sicher keine interessierte Erfindung des Kapitals, der mit Klassenkampfparolen gegen den Neoliberalismus aus der Welt geschafft wird. Aber diese Debatte wird in dem Maße entbehrlich, wie der Souverän selbst sich längst bewegt hat und nun erwartet, auch die Politik möge sich endlich bewegen und ihre Selbstblockade auflösen.

So könnte man eine Hermeneutik des »wahren« Wählerwillens betreiben und aus dem Wahlergebnis folgende politische Schlüsse ziehen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wächst ein Bedürfnis nach reflexiver Politik, die keine Illusionen über die Welt verbreitet. Es sind die Grünen (allerdings mit Fischer, den man schleunigst zurückrufen sollte), von denen man erwarten kann, dass sie einem solchen Anspruch am ehesten gerecht werden. Ihnen ist zu verdanken, dass der schwierige Paradigmenwechsel in der Außenpolitik vollzogen worden und Deutschland als Nation insgesamt gereift ist. Ihnen, die mit einer hohen Sensibilität fürs Allgemeine ausgestattet sind, sollte man auch zutrauen, dass sie mit geeigneten Partnern (die ihrerseits längst »angegrünt« sind) Vergleichbares in anderen Politikbereichen leisten: die schleichende Desintegration der Gesellschaft zu stoppen; die Sozialsysteme durch Umbau vor dem Ruin zu bewahren; Weichen für eine gesündere, kinderfreundliche und bildungsfördernde Umwelt zu stellen; den überschuldeten Staatshaushalt zu sanieren und einiges mehr. Es braucht allerdings einen zweiten Blick, um einen solchen New Deal aus dem herrlich diversifizierten Wählerwillen herauszulesen.

Wem dieser Blick durch die Scheuklappen des Lagerdenkens verstellt ist, der wird keine Zukunftsfantasien entwickeln können, weil er in der Vergangenheit herumsucht. Wer die neuen Möglichkeiten nicht erkennt und den mentalen Bürgerkrieg der alten Zeiten wieder aufleben lässt statt zu verhandeln, ebnet der großen Koalition den Weg. Oder er setzt auf Neuwahlen, damit eines der Lager doch noch den Sieg erringt. Man muss nicht lange rätseln, welches Lager das sein wird. Opposition ist nicht schändlich. Aber die Machtoption gar nicht erst ernsthaft zu prüfen, wäre fatal – für die Grünen und für die Republik.