Roland Schaeffer

Der Koch, der Kellner und der Puls der Gesellschaft

Modernisierungsstrategien statt Pragmatismus

 

Einer beliebten Redensart zufolge ist die Demokratie ein »Markt« für politische Möglichkeiten und Konzeptionen. Man gibt seine Stimme und entscheidet, wer in den nächsten Jahren regieren soll. Am 18. September allerdings haben fast neun Prozent aller wählenden Wähler auf die Wahl einer Regierung verzichtet und stattdessen ihre Stimme für einen roten Luftballon gegeben, den sie weithin sichtbar fliegen lassen können. Sie wollten nicht nehmen, was ihnen von den um die Regierung konkurrierenden Parteien angeboten wurde – ähnlich wie die halbe Million ehemaliger SPD-Wähler, die erst gar nicht zur Wahl gegangen sind.

Die Wählerinnen und Wähler haben also ihr Teil getan: Sie sind der Aufforderung aller Spitzenpolitiker gefolgt und haben den von diesen ausgerufenen Richtungswahlkampf eindeutig entschieden, und zwar zugunsten der Parteien links von der Mitte. Mehr können Wähler nicht leisten. Aber die Regierung links von der Mitte wird es nicht geben. Weil alle Optionen für Dreier-Koalitionen für die Beteiligten zu riskant sind, werden sich die Wahlverlierer, die Volksparteien nämlich, auf eine große Koalition verständigen. Sie ist die Lösung nach der Wahl, weil sie es vor der Wahl schon war: Der kleinste gemeinsame Nenner in einer politischen Debatte, die von Detailhuberei, widersprüchlichen Sektorprogrammen und einem gehörigen Schuss Wunderglauben geprägt war.

Zu den wichtigen Aufgaben demokratischer Politik gehört die öffentliche Klärung der Entscheidungsalternativen und ihre Zusammenfügung zu möglichen politischen Zukünften. Wo Politiker diese Aufgabe nicht lösen, brauchen sie sich über die Wählerinnen und Wähler nicht zu beschweren.

Wenn die Klärung der politischen Alternativen schwer fällt, gibt es dafür meist Gründe: Manche, die sich aus der politischen Situation ergeben und andere, die mit den handelnden Personen zusammenhängen. Die deutsche Politik musste in den letzten beiden Jahrzehnten drei Schocks verkraften:

– Einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruch, der in seinen Konsequenzen weiter reicht als alle Veränderungen in den 150 Jahren davor.

– Die deutsche Wiedervereinigung, die aus Gründen politischer Opportunität der Volkswirtschaft und den Sozialsystemen enorme Lasten zumutete.

– Und die neue, eigenständigen Rolle in einer Welt, die aus der Ordnung der Blöcke in eine neue machtpolitische Dynamik herausgetreten war. Hinzu kommt, dass seit der Generation der heute 50-60-Jährigen neue Eliten in Entscheidungspositionen gekommen sind, die den alten Institutionen fremd gegenüberstehen.

Weil Kommunikation »das Wesen menschlicher Tätigkeit ausmacht« (Manuel Castells), verändern sich durch die neuen Informationstechnologien und die Internet-Nutzung alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Dabei ging die Informations- und Internet-Revolution ohne gewaltsame Brüche vor sich. Deshalb wurden die Veränderungen als graduelle Verschiebungen in vielen einzelnen »Subsystemen« der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wahrgenommen. Tatsächlich haben sich aber die materiellen und kulturellen Formen selbst verändert, in denen menschliche Gesellschaften ihr Leben führen. Der Kernbereich der Industriegesellschaft – der Industriebetrieb selbst – befindet sich in voller Auflösung. Nicht mehr durch das hierarchisch gesteuerte Zusammenwirken vieler Menschen an einem Ort werden heute Industrieprodukte hergestellt – sondern durch die Internet-vernetzte Produktion und Montage einzelner Bestandteile auf der ganzen Welt. Die kollektive Machtstellung derjenigen Gruppen im Betrieb, die nicht in seinem kreativ-organisatorischen Kernbereich tätig sind, erodiert. In der Folge verschieben sich die wirtschaftlichen Machtverhältnisse, die Anforderungen an individuelle Leistungsvermögen, die gesellschaftlichen Solidaritäten, die Leistungen staatlicher Institutionen, die seit Beginn des kolonialen Zeitalters entstandene globale Wirtschaftsgeographie.

Dass auf allen gesellschaftlichen Ebenen, auch in der Politik, Veränderungen stattfinden müssen, ist vor diesem Hintergrund selbstverständlich. Die politische Entscheidung über mögliche gesellschaftliche Modernisierungsstrategien hätte das zentrale Thema rot-grüner Politik werden können. Stattdessen ist die Diskussion mit der Regierungsübernahme auf Eis gelegt worden. Weder Schröder noch Fischer wollten, wie Arno Widmann in der Berliner Zeitung (19.9.05) in Erinnerung ruft, ein gesellschaftliches »Projekt« rot-grün. Öffentliches Thema sollte nur noch werden, was unmittelbar als praktische Maßnahme daher kam. Mit einer Debatte, welche Speisekarte unter den neuen ökonomisch-kulturellen Bedingungen angemessen sei, wollten weder Koch noch Kellner die Menschen verunsichern – da folgten sie schon lieber der eigenen politischen Eingebung. Also ging es in der Öffentlichkeit um die Zutaten, wie heiß die Platten sein dürfen und welche Farbe die Teller haben sollten. Expertenkommissionen machten Vorschläge, Beamte Gesetze. Parlament und Volk sollten essen, was auf den Tisch kommt.

So führte die einschneidende Erfahrung des Scheiterns der Systemveränderungsträume der Siebzigerjahre, die viele Protagonisten prägte, zu einem extremen Pragmatismus. Die tatsächlich stattfindende Systemveränderung hin zur informationellen Ökonomie und Gesellschaft konnte deshalb paradoxer Weise kaum ins Bewusstsein treten. Eine Wirklichkeitsverweigerung, die weit in die anderen politischen Lager ausstrahlte, bis hin zu der rückwärts gewandten Utopie der Frau Merkel, durch ein paar Änderungen beim Steuerrecht und beim Kündigungsschutz die industriegesellschaftliche Vollbeschäftigung der Sechzigerjahre zurück zu bekommen.

Das Ergebnis war eine Serie von Notoperationen. Selbst wo sie akzeptiert wurden, blieb der Eindruck von Widersprüchlichkeit. Weshalb die Regierung die Bürger auffordert, gleichzeitig mehr zu konsumieren und ihre Altersrücklagen zu erhöhen, erschien schon wenig logisch. Wenn dann hinzu kommt, dass der ärmere Teil der Bevölkerung, jene also, die am meisten von Altersarmut bedroht sind, ohnehin nicht nur auf das Sparen verzichten, sondern sogar »entsparen« sollen, also vorhandene Rücklagen wegen akuter Notlagen auflösen müssen, verliert selbst eine der großen Leistungen von Rot-Grün, die Reform der Rentenversicherung ihr Ansehen in der Bevölkerung. Ein Bild von der Gesellschaft, die zu gestalten sie behauptete, hat die rot-grüne Regierung weder entwickelt noch vermittelt.

Soll Deutschland den skandinavischen Weg gehen? Dem Küchenlatein der deutschen Wirtschaftsauguren zum Trotz, die wie gebannt über den großen Teich starren und die Vielfalt der Welt mit Missachtung strafen, sind hohe Wachstumsraten und mehr Beschäftigung nicht nur durch Steuersenkung und Deregulierung, sondern auch durch stabile sozialstaatliche und infrastrukturelle Garantien, Chancengleichheit, Spitzensteuersätze nahe bei 60 Prozent und einen funktionierenden Wettbewerb erreichen.

Dass diese Option – die in der Wählerschaft parteiübergreifend große Sympathien genießt – von keiner politischen Kraft ausgearbeitet worden ist, gehört zu den Rätseln der letzten Jahre. Der mit 68 verbundene libertäre Impuls hat auch in der Linken dafür gesorgt, dass »Reformen« sich meist gegen »Bürokratie« und »staatliche Einflussnahme« richten und »mehr Eigeninitiative« und Geld für »die Bürger« bringen sollen. Eine positive Vorstellung von einem leistungsfähigen, intelligenten und demokratisch transparenten staatlichen Gemeinwesen ist in Deutschland aus historischen Gründen nur schwer zu vertreten. Dabei ist die alte Vorstellung von staatlicher Obrigkeit seit langem obsolet. Moderne Staaten können ihren Wirtschaftsraum nicht mehr abschotten. Sofern sie rational handeln, müssen sie deshalb versuchen, möglichst viele kreative Bürger an sich binden und gesellschaftliche Eigenverantwortung fördern. Ein komplexer Prozess – schließlich müssen sich fragen, was sie für jeden einzelnen ihrer Bürger tun können, damit ausreichend viele von ihnen das Potenzial entwickeln, um auf den Weltmärkten mitbieten können.

Wie die Mehrheit links von der Mitte beweist, teilen viele Bürgerinnen und Bürger die neoliberale Ablehnung staatlicher Institutionen nicht. Aber sie spüren in ihrem Alltag, dass nur ein relativ kleiner Teil dessen, was unsere Lebensqualität ausmacht, im »globalen Wettbewerb« steht. Nichts gegen globale Märkte und die Gewinne, die auf ihnen zu machen sind – aber die »Leistungsträger«, deren eine Gesellschaft wirklich dringend bedarf, sind nicht jenes halbe Dutzend Spitzenverdiener, die wegen zu hoher Steuern das Land verlassen, wie Frau Merkel vermutete. Es sind vielmehr zuverlässige Nachtschwestern, gute Lehrer oder die Nachbarin von nebenan. Reichtum ist ein gesellschaftliches Produkt, das nur zum Teil durch Erwerbsarbeit, zu einem kleineren Teil in Wirtschaftsunternehmen und zu einem noch kleineren in solchen Unternehmen hergestellt wird, die internationale Wettbewerber haben. In vielen Fällen bedeutet Reichtum den Verzicht auf die »Schaffung von Arbeitsplätzen«: Wenn Kinder allein zur Schule gehen können, diese in der Nähe liegt, sie weder private Wachdienste noch Schulbusse brauchen, wenn die Straße verkehrsberuhigt ist und die Nachbarn hinschauen, ist das eine Form von kollektivem Reichtum.

Die Vielfalt der Lebensformen und Arbeitsweisen wird durch die ökonomistische Reduktion sinnvollen Lebens auf Erwerbsarbeit nicht nur übersehen, sondern auch aktiv entlegitimiert. Die aggressive Krisenrhetorik, der zufolge die Deutschen möglichst »vielen« und »harten Reformen« zustimmen müssen, wenn sie dem Untergang entgehen wollen, macht nicht nur Angst, sie macht auch unglücklich. Solange niemand versprechen kann, fünf Millionen Arbeitslose in absehbarer Zeit in bezahlte Erwerbsarbeit zu bringen, muss Politik für Infrastrukturen und Dienstleistungen sorgen, die das Leben mit »weniger« materiellen Ressourcen erleichtern – von der Lehrmittelfreiheit bis zum Schwimmbad. Dass viele Menschen über solche Zusammenhänge nachdenken, ist ein wichtiger Grund für die Niederlage von Merkel und Westerwelle.

Die Grünen sind schon wegen ihrer Umweltorientierung Teil der modernen Linken. Ressourcen zu erhalten ist eine Aufgabe, die ähnlich wie der Schutz von Dämmen ein funktionierendes Staatswesen voraussetzt. Aber sie gelten noch immer als eine »Ein-Thema-Partei«. Ihre Sozial-, Sicherheits- oder Wirtschaftspolitik hat in der Öffentlichkeit bisher kaum erkennbare Spuren hinterlassen. Das ist riskant, weil die Hauptlinien der Wahlauseinandersetzung so an ihnen vorbei liefen. Als kleinste Oppositionspartei im Bundestag wird es ihnen schwer fallen, Aufmerksamkeit zu finden.

Die informationelle Revolution zwingt alle Parteien zu »Reformen«, und die falscheste Interpretation des Wahlergebnisses lautet, es sei eine Folge einer deutschen »Angst«. Denn zum einen hat sich das Land in der rot-grünen Zeit bereits rapide verändert. Und zum anderen ist die Ablehnung von Veränderungen, deren Richtung und Grenzen nicht erkennbar sind, nur vernünftig.

Ob die Grünen über das übliche Spiel zwischen Regierung und Opposition hinaus eine Diskussion über die gesellschaftlichen Verschiebungen anstoßen, die aus der informationellen Revolution entstehen, wird sich herausstellen. Wenn etwa Privatunternehmen mehr über jeden einzelnen Bürger wissen als das BKA, weil sie mit diesem Wissen Gewinne machen können, stellen sich neue Fragen – gerade auch für die Linke mit ihren staatsfeindlichen und zugleich staatsverhafteten Traditionen. Wer den Bürgerinnen und Bürgern bei der nächsten Wahl ein Angebot machen will, das eine Regierungsbildung ermöglicht, wird solche Fragen beantworten müssen. Die traditionslinke politische Konkurrenz kann das eben so wenig wie die großkoalitionäre SPD.

Vielleicht werden die Grünen dann auch den Traum von Dany Cohn-Bendit erfüllen und aus der babylonischen Gefangenschaft der SPD heraustreten, mit der sie sich die politischen Themen bis heute so perfekt teilten, und mit einer anderen Partei koalieren, mit der keine solche Arbeitsteilung möglich ist. Ein Vierteljahrhundert nach ihrer Gründung und sieben Jahre nach ihrem Eintritt in eine Bundesregierung würden sie sich dann nicht mehr als »Korrektiv« der Sozialdemokratie verstehen. Sie würden beginnen, von den Kernbereichen der gesellschaftlichen Entwicklung her zu argumentieren, anstatt von den Rändern. Aber das ist ein langer Weg.