Dunja Melcic im Gespräch mit Bruno Schönfelder

»Ein Minimum an Rechtssicherheit muss gewährleistet werden«

Wirtschaftliche Hoffnungen in Südosteuropa?

 

 

Jugoslawiens Zerfall war von einer schweren Wirtschaftskrise begleitet, die die Kommunisten nicht beheben konnten, weil sie selbst die Ursache waren. Im Gespräch mit dem Ökonomen und Balkanspezialisten Bruno Schönfelder zeigt sich, wie scheinbar ähnliche Ausgangsbedingungen für die ökonomische Transition zu unterschiedlichen Situationen in den Ländern Südost- und Mitteleuropas führen.

Dunja Melcic: Während der Diskussionen zum Zerfall von Jugoslawien konnte man oft den Vorwurf hören, dass die wirtschaftlichen Aspekte bei den Analysen oder Kommentaren zu wenig Berücksichtigung finden. Wie würden Sie als Wirtschaftswissenschaftler die Auswirkungen der ökonomischen Probleme auf den Zerfallsprozess einschätzen?

Bruno Schönfelder: Die wirtschaftlichen Probleme spielten eine wichtige Rolle für den Zerfall Jugoslawiens. Jugoslawien geriet im Jahre 1979 in eine schwere Wirtschaftskrise, aus der es bis zu seinem Untergang nicht mehr herauskam. In einem beträchtlichen Teil des Landes führte die Krise zu einer spürbaren Verringerung des sowieso bescheidenen Lebensstandards. Der Bund der Kommunisten (BKJ) versuchte sich mit einer Vielzahl von Reformprogrammen, Reformkommissionen wurden eingesetzt, aber nichts half, die Kommunisten erwiesen sich als unfähig, einen Ausweg aus der Krise zu finden. Auf diese Weise verstrich ein Jahrzehnt, dann setzte sich die Überzeugung durch, dass sich grundlegende Veränderungen nicht mehr länger vermeiden lassen. Der Bund der Kommunisten geriet selbst in eine Krise und das politische System ins Wanken.

Ich entsinne mich, bei Ihnen gelesen zu haben, dass solche Reformprojekte doch viel Fiktives an sich hatten oder illusionär waren.

Jugoslawien hatte zwar eine ganze Reihe leistungsfähiger Betriebe, der Selbstverwaltungssozialismus war dem Sozialismus sowjetischen Typs wirtschaftlich durchaus überlegen. Daneben gab es aber auch viele außerordentlich ineffiziente Großbetriebe, man nannte sie die »Giganten« oder Dinosaurier. Reich an Dinosauriern waren vor allem die südlichen Republiken, aber auch in Kroatien waren sie durchaus kein unbekanntes Wesen. Dies waren Großorganisationen, die über erheblichen politischen Einfluss verfügten und sich fast jede wirtschaftliche Irrationalität leisten konnten, selbst der massenhafte Diebstahl betrieblicher Vermögenswerte durch die Mitarbeiter wurde nicht selten geduldet. Arbeitsplätze in diesen privilegierten Betrieben galten daher als so attraktiv, dass sich etwa bei dem kroatischen Giganten INA sogar so etwas wie ein Erbrecht entwickelte, der Vater gab seinen Arbeitsplatz an den Sohn weiter. Alle jugoslawischen Reformversuche krankten unter anderem daran, dass es unmöglich war, diesen Organisationen eine rigorose Schlankheitskur zu verordnen und damit der Verschwendung von Ressourcen Einhalt zu gebieten. Solche Kuren hätten den BKJ überfordert, er wäre daran zerbrochen. Die Parteiorganisationen der »Giganten« übten innerhalb des BKJ einen starken Einfluss aus, viele der führenden Parteikader stützten sich auf das »Aktiv«, das heißt die Parteiorganisationen der Giganten. Milosevic ist ein gutes Beispiel für diese personelle Verflechtung. Bevor er zum Vorsitzenden des Bundes der Kommunisten Serbiens aufstieg, war er Direktor der größten serbischen Bank, und die war der Geldgeber der wichtigsten serbischen Großbetriebe. Er verkörperte die enge Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft. Maßgeblich für den Aufstieg innerhalb der Parteihierarchie waren oft nicht die gemeinsamen ideologischen Überzeugungen, sondern Seilschaften und wirtschaftliche Interessen. Milosevic war vor allem ein wendiger Opportunist. Am eigentlichen Bankgeschäft war er nicht sonderlich interessiert, als Bankier zeigte er keine überdurchschnittlichen Fähigkeiten. Seine Bank war eigentlich pleite, aber das hat ihm nicht geschadet. Im Westen erfreute er sich damals übrigens eines guten Rufs, er galt sogar als kompetent. Dies lag daran, dass er im Gegensatz zu den meisten anderen serbischen Parteifunktionären einigermaßen Englisch konnte und es daher eher möglich war, mit ihm zu kommunizieren.

Ende der Achtzigerjahre wurde in Zagreb eine empirische Studie veröffentlicht, und zwar von Vesna Pusic, damals Soziologin und jetzt eine einflussreiche Politikerin. Sie untersuchte Managementstrukturen in 50 bis 60 kroatischen Unternehmen und stellte fest, dass es in den Führungsetagen erfolgreicher Betriebe einen hohen Anteil an Managern, also Wirtschaftsfachkräften im Unterschied zu politischen Funktionären, gab. An ihnen hätte man eine Basis für wirtschaftliche Transformation. Wie sehen Sie das?

Ja, ich erinnere mich an Herrscher und Verwalter, das Buch von Frau Pusic. Es war ein sehr interessantes Buch, wobei man natürlich hinzufügen muss, dass die parteipolitisch nicht so stark eingebundenen Manager eher in den relativ zahlreichen Unternehmen mittlerer Größe zu finden waren; die Führungspositionen in Großorganisationen wie INA (Erdölindustrie),(1) Rade Konacar (Elektroindustrie), Djuro Djakovic (Maschinenfabrik), Privredna Banka (Wirtschaftsbank), Croatia Osiguranje (Staatliche Versicherungsanstalt) waren nur über eine Parteikarriere erreichbar. Dennoch ist Frau Pusic Recht zu geben, dass insbesondere Kroatien und Slowenien über eine beträchtliche Zahl von relativ fähigen Managern verfügte, die durchaus ein marktwirtschaftlich relevantes Fachwissen besaßen. Es stiftete großen Schaden, dass man sie massenhaft in die Wüste geschickt hat. Dies geschah, weil die HDZ die Macht über die Wirtschaft ergreifen wollte. Die HDZ-Politiker handelten ganz nach dem alten Rezept von Lenin, sie besetzten die »Kommandohöhen«, sie wollten an allen Schaltstellen loyale Leute wissen. Ob die auch die erforderlichen Fähigkeiten hatten und ob das wirtschaftlich sinnvoll war – das war von vollkommen untergeordneter Bedeutung.

Kann man denn überhaupt sagen, dass der Selbstverwaltungssozialismus bessere Startpositionen bei der Transition ermöglicht hat oder gleichen sich nicht unterschiedliche Anfangslagen mit der Zeit rasch aus? Sie machen unter anderem Vergleichsstudien zum Beispiel mit der Slowakei. Dem habe ich entnommen, dass die Slowakei zum Teil besser abschneidet als Kroatien?

Das hat zwei Seiten. Was das Wissen über Märkte und die Qualität der vorhandenen wirtschaftlichen Strukturen anbetrifft, hatten die postjugoslawischen Gesellschaften die besseren Startpositionen. Andererseits war die Bereitschaft, etwas zu ändern, im Vergleich viel geringer. Dass die Ausgangsbedingungen günstig waren, erkennt man am leichtesten, wenn man Slowenien betrachtet. Dort hat man nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Grunde nicht mehr so sehr viel verändert. Die marktwirtschaftlichen Reformen, die die jugoslawische Bundesregierung unter Ante Markovic 1989 eingeleitet hatte, wurden beibehalten und ausgebaut; die Währung stabilisiert, die Steuern reformiert, aus Jugoslawien hatte man beispielsweise eine Einkommensteuer geerbt, die Züge einer Erdrosselungssteuer (das Wort gibt es, gemeint ist damit eine Steuer mit sehr hohen Sätzen) aufwies, aber faktisch kaum angewandt wurde, die hat man abgeschafft. Was die bei der Privatisierung angewandten Techniken anbetrifft, insbesondere die Couponprivatisierung, gab es übrigens ausgeprägte Parallelen zu Tschechien. Manche Beobachter konstruieren einen Gegensatz zwischen dem slowenischen und dem tschechischen Reformweg, das jedoch ist unsinnig. Der Unterschied ist vielmehr, dass der Teil der Reformhausaufgaben, der in Tschechien 1991 in raschem Tempo absolviert wurde, in Slowenien 1991 großenteils schon längst absolviert war.

Mit Gorenje waren die Slowenen schon vorher auf dem deutschen Markt …

Viele slowenische Betriebe waren schon vor 1990 in beträchtlichem Maße auf den westlichen Märkten präsent; das hat Slowenien den Start in die Unabhängigkeit sehr erleichtert. Bei den postkommunistischen Wirtschaftsreformen war eine der wichtigsten Fragen die Freigabe der Preise. Ohne die Preise aus staatlicher Kontrolle zu befreien, kann man fast gar keinen Fortschritt erreichen. Dieses Problem war in Jugoslawien zu einem beträchtlichen Teil bereits von den Kommunisten selbst gelöst worden, eine teilweise Preisliberalisierung erfolgte bereits 1952; die Kontrolle des Staates über die Preise war seit 1952 fast stets verhältnismäßig locker, vollständig freigegeben wurden die meisten Preise dann 1989. Für die anderen postkommunistischen Länder war die Preisliberalisierung ein waghalsiger und in seiner Tragweite geradezu revolutionärer Schritt, besonders für Russland, aber auch in Tschechien galt sie als der Inbegriff einer Schocktherapie.

Sie messen der Rechtsstaatlichkeit und der realen Rechtssicherheit eine äußerst große Bedeutung bei, wenn es um ökonomische Konsolidierung der Transitionsländer geht. Da polemisieren Sie sogar mit einigen Größen der Wirtschaftswissenschaft, wie Stiglitz …

Ich bin überzeugt, dass die meisten Ökonomen mir nicht widersprechen würden, wenn ich die Bedeutung von Rechtssicherheit betone. Die Meinungsverschiedenheiten liegen auf einer anderen Ebene. Erstens sind die meisten Ökonomen heute leider juristische Analphabeten. Sie reden von der Rechtssicherheit wie der Blinde von der Farbe. Zweitens neigen sie dazu, sich die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit als eine relativ einfache Sache vorstellen. Hier ist auch der Dissens zu Stiglitz. Der stellt die Sache so dar, als würde es im Wesentlichen genügen, dass die Leute Rechtsstaatlichkeit wollen. Wenn sie die wollen, dann werden sie sie auch in mäßiger Frist bekommen, meint er. Dass der Weg dahin in jedem Fall schwierig ist und viele Voraussetzungen zu schaffen sind, wird verkannt und deswegen wird auch nicht die Notwendigkeit gesehen, Prioritäten zu setzen. Rechtssicherheit kann man nicht auf allen Gebieten sofort haben. Man muss versuchen, bestimmte Bereiche herauszuarbeiten, auf denen binnen kurzem zumindest ein gewisses Minimum an Rechtssicherheit gewährleistet werden kann und muss, weil sie für die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten von besonderer Bedeutung sind. Mittelfristig muss man sich natürlich um den Aufbau einer starken und leistungsfähigen Justiz bemühen. Die hierfür erforderliche Aufbauarbeit ist jedoch in weniger als zwanzig Jahren nicht zu leisten. Bei dem erwähnten Minimum an Rechtssicherheit muss es sich daher um Normen handeln, die auch eine schwache und erst im Aufbau befindliche Justiz einigermaßen durchsetzen kann.

Es gibt zwei Fallstricke auf dem Weg zum Rechtsstaat: erstens, dass die Exekutive, die Regierung und die Behörden, nicht ernstlich willens ist, sich dem Gesetz zu unterwerfen, und zweitens, dass man zu viel auf einmal erreichen will und daher eine gewaltige Masse von in sich widersprüchlichen, verworrenen und wenig realitätsnahen Normen produziert. Russland scheiterte an beiden Fallstricken. In der Folge fand dann Putin mit seiner verdächtigen Forderung nach der Diktatur des Rechts Anklang. Mit Recht hat dies nichts zu tun, hinter dieser Formel versteckt sich ein autokratisches Willkürregime.

Aber um auf die kroatischen Verhältnisse zurückzukommen. Die Justizreform in Kroatien lehnte sich teils ans deutsche, teils ans österreichische Recht. Doch in der Praxis gibt es große Defizite – und zwar auf allen Ebenen …

In Kroatien kam die Sache auf die schiefe Bahn, weil Präsident Tudjman in den Jahren 1991/92 die Unabhängigkeit der Gerichte drastisch reduziert hat. In den Achtzigerjahren war die kroatische Justiz unabhängiger und kompetenter als in den Neunzigerjahren. Gerade im Bereich der Justiz hatte Kroatien im Vergleich mit anderen kommunistischen Staaten vorzügliche Voraussetzungen gehabt. In den frühen Neunzigerjahren wurde dieser Vorsprung verspielt, die kroatische Justiz hinkte schon 1995 hinter der tschechischen her, der sie 1990 noch weit voraus war. Von diesem Schlag hat sich die Justiz erst nach 1999 langsam erholt. Nach wie vor aber ist die Vollstreckung von Urteilen ein ganz trübes Kapitel. Wenn man viel Geduld hat, erhält man früher oder später ein rechtskräftiges Urteil, aber ob man damit weiterkommt, hängt oft davon ab, ob man es auch vollstrecken kann. Ich vermute, dass in Tschechien die Vollstreckung sogar 1992 schon besser funktioniert hat als in Kroatien 2003. Die gerichtliche Vollstreckung ist in Kroatien nahezu inexistent.

Trotz aller Parallelen hatte Kroatien natürlich auch mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Wie schätzen Sie die Folgen der Kriegseinwirkung auf die kroatische Wirtschaftsentwicklung ein?

Wenn man über die Wirkung des Krieges auf die kroatische Wirtschaft spricht, dann denkt man in erster Linie an Zerstörungen von Baulichkeiten. Die gab es zwar zweifellos, aber ihr Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung sollte nicht überschätzt werden. Wesentlich wichtiger war etwas anderes. Das Ende Jugoslawiens und das Ende des RGW, der »Wirtschaftsgemeinschaft« der kommunistisch regierten Staaten, die für Kroatien von großer Bedeutung war, hatten einen Verlust von Märkten zur Folge. Diese Märkte wären zwar auch im Fall einer friedlichen Auflösung der jugoslawischen Föderation weitgehend verloren gegangen, aber diese Entwicklung hätte sich nicht mit so dramatischem Tempo vollzogen, es wäre ein Prozess gewesen, der sich über mehrere Jahre hingezogen hätte, so wie der kroatisch-slowenische Handel, der in den frühen Neunzigerjahren auch mehrere Jahre lang kräftig schrumpfte. Fast alle anderen innerjugoslawischen Handelsbeziehungen wurden durch den Krieg abrupt unterbrochen. Für viele kroatische Industrieprodukte, deren Erzeugnisse sich wegen Qualitätsmängeln auf westlichen Märkten nur schwer verkaufen ließen, führte dies zu einem schlagartigen Verlust ihrer Märkte. Damit ging ein beträchtlicher Einbruch auch in der Dienstleistungsbranche einher. So verdiente die kroatische Eisenbahn ihr Geld hauptsächlich mit dem Verkehr zwischen Zagreb und Belgrad, auf den meisten anderen Strecken hat sie schon seit Jahrzehnten vor allem Verluste eingefahren. Der Wegfall des Güter- und Personenverkehrs zwischen Zagreb und Beograd stürzte die kroatische Bahn in eine Krise, aus der sie bis heute keinen Ausweg gefunden hat. Beim LKW-Transport verhielt es sich ähnlich. Eine zweite, nicht minder wichtige wirtschaftliche Auswirkung des Kriegs bestand darin, dass er eine rasche Entwicklung bestimmter Sektoren verhinderte, in denen Kroatien erhebliches Potenzial besaß. Damit meine ich in erster Linie den Tourismus. Der Krieg führte dazu, dass die Touristen weitgehend ausblieben. Er hat das Ende traditioneller Wirtschaftszweige beschleunigt und zugleich die Entwicklung vorhandener Potenziale blockiert oder verlangsamt.

Lassen Sie uns noch ein wenig über die Perspektiven reden. Es stehen auch schwer wiegende politische Entscheidungen in Raum; Beispiel Kosovo. Die Kritik gegenüber dem Dayton-Vertrag wächst angesichts der desolaten Lage in Bosnien-Herzegowina. Möglichkeiten wirtschaftlicher Prosperität sind doch auch an politische Grundsatzentscheidungen gekoppelt …Welche Bedeutung messen Sie einer Zusammenarbeit zwischen den jugoslawischen Nachfolgestaaten im ökonomischen Sektor bei?

Über die politischen Entscheidungen äußere ich mich als Ökonom nur zurückhaltend. Über die bosnische Wirtschaft gibt es sehr wenig an verlässlichen Informationen, ihre Entwicklungsperspektiven einzuschätzen ist daher kaum möglich. Die serbische Wirtschaft befindet sich derzeit in einer ziemlich kritischen Entwicklungsphase, in der es durchaus zu einem Absturz kommen kann. Da ist bei weitem noch kein sicheres Ufer erreicht. Nach den letzten Parlamentswahlen war von dem auch vorher begrenzten Reformelan zunächst einmal fast zwei Jahre lang gar nichts mehr zu spüren. Die Bereitschaft zu Reformen war in Serbien nie sehr groß. Es kann durchaus geschehen, dass eine Inflation ausbricht oder eine Währungskrise. Die Lage der Zahlungsbilanz ist nicht unkritisch; die Privatisierung ist in einem frühen Stadium stecken geblieben, sieht man von der allerdings sehr verbreiteten Schattenwirtschaft ab, so dominiert in Serbien immer noch die Staatswirtschaft. Die Perspektiven Serbiens sind damit sehr unsicher. Eine Zusammenarbeit mit Kroatien kann man sich vorstellen, aber man darf sich von ihr nicht sehr viel erwarten. Es gibt eine friedensstiftende Funktion der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aber ihre Wirksamkeit hält sich in Grenzen. Die kroatische Wirtschaft steht verglichen mit Serbien auf viel stabileren Beinen. Die Auslandsschuld ist ein Problem, aber katastrophale Ausmaße hat sie noch nicht angenommen. Man wird sich in Kroatien noch weiter als bislang gegenüber ausländischen Investoren mittlerer Größe öffnen müssen, um die erforderliche Exportkraft zu gewinnen. Da wird man umdenken müssen, aber ein dramatischer Kurswechsel ist nicht erforderlich. Die Lage ist nicht so zugespitzt, ein allmählicher Wandel reicht völlig aus, um ein weiteres Wirtschaftswachstum zu ermöglichen.

Meinen Sie, dass das für eine echte Integration in den EU-Wirtschaftsraum reicht?

Man sollte erkennen, dass Kroatien nach wie vor wohlhabender ist als eine ganze Reihe von Transformationsländern, die bei der letzten Erweiterung beigetreten sind, namentlich die baltischen Staaten und weite Teile Polens. Nur drei dieser Länder, nämlich Slowenien, Tschechien und Ungarn, sind deutlich besser entwickelt als Kroatien. Die Slowakei hat eine wesentlich robustere industrielle Basis als Kroatien und hat im Bereich der Industrie große Erfolge erzielt, aber man sollte darüber nicht vergessen, dass der größte Teil der Slowakei ziemlich rückständig ist. Die industrielle Entwicklung ist sehr stark auf den Raum Bratislava konzentriert; man hat geschätzt, dass im Raum Bratislava das in Kaufkrafteinheiten gemessene Pro-Kopf-Sozialprodukt höher ist als in manchen Regionen Österreichs. In der Ostslowakei hingegen gibt es viele Regionen, in denen nicht viel los ist.

Also sind die Vergleiche, die sehr oft in der kroatischen Öffentlichkeit gezogen werden, wonach Kroatien den offiziellen Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien voraus ist, nicht unrealistisch?

Kroatien ist wohlhabender als Bulgarien und Rumänien; das ist zum beträchtlichen Teil dem jugoslawischen Erbe geschuldet. Es ist nicht allgemein bekannt, dass es sogar in Serbien heute noch rumänische und bulgarische Gastarbeiter gibt. Sogar in Serbien können unqualifizierte Arbeitskräfte ein höheres Einkommen erzielen als in manchen Teilen Bulgariens oder Rumäniens. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man das Entwicklungstempo betrachtet. Bulgarien etwa hatte ein schweres Erbe zu tragen und hat erstaunliche Fortschritte erzielt, in einigen Bereichen wie etwa der Entwicklung zum Rechtsstaat hat es Kroatien inzwischen überholt. In Bulgarien kam es zu einem tiefen Einschnitt: Anfang der Neunzigerjahre war es ein Land, das sich nur widerwillig von seiner Vergangenheit löste. Bulgarien geriet dann in eine schwere Wirtschaftskrise; da haben die Leute regelrecht gehungert und gefroren. Das hat dazu geführt, dass in den Jahren 1996/97 eine weitreichende Neuorientierung einsetzte und seitdem ein ziemlich konsequenter Reformkurs verfolgt wurde, der von allen großen Parteien getragen wird; auch die ehemaligen Kommunisten haben sich zu einer demokratischen Partei entwickelt und ihre früheren antieuropäischen und antiamerikanischen Reflexe überwunden. Selbst wenn die Sozialisten dort an die Macht kämen, würde sich vermutlich nicht viel ändern.

Noch ein Wort zu Kosovo. Ich gehe davon aus, dass es in absehbarer Zeit zu einer international getragenen Entscheidung kommt, die zu einer wie auch immer gearteten Unabhängigkeit Kosovos führen wird. Wie sehen Sie die Perspektiven Kosovos, wenn es sich einmal frei entfalten kann?

Man kann der UN-Verwaltung den Vorwurf nicht ersparen, dass sie in wirtschaftlicher Hinsicht versagt hat. Man hat zwar einige Gelder nach Kosovo geleitet und auch manches an Infrastrukturerneuerung durchgeführt, aber für die wirtschaftliche Entwicklung so entscheidende Fragen, wie etwa, wer der Eigentümer bestimmter Ressourcen ist, blieben ungelöst. Im Bereich der wirtschaftlichen Ordnungspolitik herrschte ein weitgehender Stillstand. Dieser Stillstand scheint sich jetzt aufzulösen. Wenn das Kosovo sich selbst regieren kann, darf man hoffen, dass die Entwicklung sich beschleunigt. Aber so ganz sicher ist das nicht. Unter der älteren Generation der kosovarischen Politiker finden sich nicht wenige, die die Tito-Ära für ein goldenes Zeitalter halten; der einzig gravierende Mangel war nach ihrer Meinung, dass keine selbstständige, gleichberechtigte Republik Kosovo zugelassen wurde. In Kosovo gibt es einige Nostalgie für den Selbstverwaltungssozialismus. Welche Rolle diese Nostalgie in dem Moment spielen wird, in welchem die kosovarischen Politiker tatsächlich selbst entscheiden dürfen, ist kaum voraussehbar. Viele Kosovaren vermuten, dass es in Kosovo noch bedeutende unerschlossene Lagerstätten voller wertvoller natürlicher Ressourcen gibt. Indizien, die eine solche These stützen, sind anscheinend tatsächlich vorhanden. Aber die Erschließung solcher Lagerstätten erfordert auf jeden Fall erhebliche Investitionen, die mit einem großen Risiko behaftet sind. Solange die Eigentumsverhältnisse ungeklärt und die politische Lage nicht stabilisiert ist, muss ein Investor damit rechnen, dass er zwar wohl das Risiko und die Verluste gescheiterter Erschließungsversuche wird tragen müssen, wohingegen sich die eventuell anfallenden Gewinne wahrscheinlich andere aneignen werden. Folglich wird niemand bereit sein zu investieren, und es bleibt alles offen. Wie in vielen Entwicklungsländern besteht auch die Gefahr, dass die Hoffnung auf künftigen Reichtum aus natürlichen Ressourcen zu einer unvorsichtigen Expansion öffentlicher Ausgaben führt – mit katastrophalen Folgen, wenn der erhoffte Reichtum dann doch ausbleibt.

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INA war ein Industriegigant und staatlich verwalteter Monopolist, der 1993 in eine AG transformiert wurde, allerdings mit nur einem Eigner, dem kroatischen Staat; 2003 wurden 25 + 1 Prozent Aktien an die ungarische Gesellschaft MOL verkauft, deren Minderheitsbeteiligung mittlerweile zu einer Mehrheitsbeteiligung aufgestockt wurde.