Michael Ackermann

Editorial

So wenig über die geschichtliche Tragweite der Wahlen im Herbst 2005 schon gesagt werden kann – die »klaren Verhältnisse«, die sich der Bundespräsident in seiner Begründung für das Zulassen von Neuwahlen wünschte, haben sich jedenfalls nicht ergeben. Auch Köhlers acht Begründungssätze, in denen die Republik in das trübe Licht endzeitlicher Düsternis getaucht wurde, haben nicht jene »Wechselstimmung« zu erzeugen vermocht, in der die scheinbar Maßgeblichen einen Aufbruch zu den Ufern einer neuen Mehrheit wähnten. Statt der Wahl eines »neoliberalen Durchmarsches« also letztlich eine »große Koalition« aus Reformunwilligen, Ängstlichen und Sozialstaatsillusionisten? Nein, mit einfachen antipodischen Interpretationen kommt man dem Wahlergebnis nicht wirklich bei. Denn die Abwahl der rot- grünen Regierung ging mit einer neuen rot- rot-grünen Mehrheit einher, ohne dass diese allerdings wirkungsmächtig werden könnte. In diesem paradoxen Ergebnis verbergen sich ganz unterschiedliche Motive und Interessen – von sozialen über kulturpolitischen, von ideologischen bis zu altersspezifischen, von jenen in den alten und jenen in den neuen Bundesländern, kreuz und quer. Ob beispielsweise die Lagermentalität durch diese Wahl eher verstärkt oder abgeschwächt wurde, lässt sich noch nicht wirklich absehen (siehe das »Thema« dieser Ausgabe). Das wird übrigens auch davon abhängen, wie die Bewertung der Ergebnisse der kleinen rot-grünen Ära ausfällt. Soll man sie abhaken oder verteidigen?

Die Antwort fällt, je nach Blickwinkel und politischem Standort, völlig unterschiedlich aus. Glaubt man etwa Schweizer Beobachtern der NZZ, wird Deutschland von politischem Desaster geprägt. Es gibt auch andere Stimmen. Kurz vor der Wahl hat Susan Neiman, die in Berlin lebende amerikanische Philosophin jüdischer Herkunft, ihr Buch Fremde sehen anders. Zur Lage der Bundesrepublik (Suhrkamp) vorgelegt. In ihm begründet sie nicht nur, warum sie seit Mitte der Neunziger gerne in Deutschland lebt, sondern führt einen Wandel der Bundesrepublik vor Augen, den sie vor allem den 68ern und dann der rot-grünen Regierung gutschreibt. Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte, mit dem Holocaust; die Ächtung des Judenhasses und der Ausländerfeindlichkeit; Fischers Engagement im Nahen Osten; der Versuch, einen »vorbildlichen Sozialstaat« zu reformieren – das Lob Deutschlands nimmt bei Neiman kein Ende. Und viele ausländische Beobachter, die sie zitiert, tun es ihr gleich. Sie »bewundern« etwa »das vergleichsweise hohe Niveau der öffentlichen Diskussionen«. Ein junger französischer Wissenschaftler sagt: »Hier beklagen die Leute sich über den Reformstau, aber an vielen anderen Orten gibt es nur Stau.« Und Lorraine Daston, aus den USA stammende Direktorin des Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte, hebt hervor, dass »die Bereitschaft, trotz aller Kosten das weltweit ehrgeizigste Vorhaben zur Reduktion von Treibhausgasemissionen umzusetzen«, »als sehr weitsichtig gelten« muss.

Weitsichtigkeit ist Neimans Stichwort auch für den Irak-Krieg. Schröder und Fischer billigt sie diese zu, der Bush-Regierung nicht. Neiman konstatiert, dass Europa sich zwischen zwei Fundamentalismen – der des Terrors und dem einer Bush-Regierung – eingekeilt befindet. »Indem es der Stimme der Vernunft Gehör verschafft, kann die historische Aufgabe Europas – und Deutschlands in seiner Mitte – darin bestehen, ein Bollwerk gegen diese Extreme zu errichten.« Auf der mittlerweile nach oben offenen Richterskala für »Antiamerikanismus« bekommen solche Worte naturgemäß höchste Werte. Aber Neiman kann es, wenn sie den verkniffenen Blick auf das eigene Land ablegt, auch subtiler: »Das Europa, das wir kennen, wirkt eher schwach, der Aufgabe kaum gewachsen. Im Moment aber zeichnet sich kein besserer Kandidat ab. Manche sehnen sich nach größeren Visionen. Doch sie sollen sich die Frage stellen, ob die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Dinge nicht schlechter werden, nicht bereits Vision genug ist.«

Dieser vorsichtigere Umgang mit den Verhältnissen prägt auch ihre Gedanken zur Globalisierung. Sie betont, »dass die globalisierte Arbeitswelt in einer Krise unvorhergesehenen Ausmaßes steckt, die letztlich nur global zu lösen ist«. »Klare Verhältnisse« sind auch dort nicht leicht zu haben. Es gab sie schon bei den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen in den letzten beiden Jahren nicht, weil Rot- Grün sich auf diesem Gebiet unter der Hand in eine große Koalition verwandelt hat.

Es sind auch diese Hintergründe, vor denen im »Schwerpunkt« dieser Kommune »Globalisierung und Nationalstaat« analysiert werden. Welche Phasen hat die Globalisierung durchlaufen, welche Gestaltungsspielräume haben Nationalstaaten noch? Können sich Nationalstaaten, die sich auf einen »Produktivitätspakt zwischen Lohnarbeit und Kapital« (Peter Schyga) eingelassen haben, der die ökologischen Grundlagen allen Lebens gefährdet, als Einzelne den kapitalistischen Verwertungsprozessen überhaupt entziehen? Wie aber und vor allem von wem könnte dieser »Produktivitätspakt« aufgebrochen werden, wenn schon eine rot-grüne Regierung ihn nicht einmal annähernd in Zweifel zog? Ob man bei der Klärung solcher Fragen in der Opposition besser vorankommt?