Hoo Nam Seelmann

Geschichte, Brüche und Gegenwart

Die koreanische Literatur im Prozess großer gesellschaftspolitischer Veränderungen

 

 

»Ich möchte ein Autor werden, dessen Bücher man in den größten Buchhandlungen von New York oder Paris findet.« Das verkündete der südkoreanische Autor Kim Young Ha, gerade 37 Jahre alt geworden, offen und selbstbewusst der Welt. Seine Äußerung ist bemerkenswert, weil man sie als Indikator dafür nehmen kann, wo die koreanische Literatur heute angekommen ist. Belesen und viel gereist wagt er einen Neubeginn in der koreanischen Literatur, indem er den tradierten Stil des Realismus offen über Bord wirft, die an Schwermut grenzende Melancholie und mitunter selbstquälerische Ernsthaftigkeit der alten koreanischen Literatur durch eine spielerische und ironische Weltsicht ersetzt und die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Fiktion neu reflektiert. Er fordert gar, die Literatur müsse sich der zunehmenden Visualisierung anpassen, um den Anschluss an das IT-Zeitalter nicht zu versäumen. Seine einfache klare Sprache und sein rasch vorwärts chreitender Erzählduktus erzeugen tableauhafte Szenen, die oft an Bilder erinnern. Es ist kein Zufall, dass es in seinem ersten Roman Ich habe das Recht, mich zu zerstören um Bilder, Leben und Tod geht. Seine Äußerung signalisiert vor allem nach außen, dass die koreanische Literatur die engen nationalen Grenzen endlich abstreifen und ebenso international werden möchte wie die koreanischen Weltkonzerne, die innerhalb von nur vier Jahrzehnten vom Nobody zum Global Player aufgestiegen sind. Europäer mögen etwas erstaunt dreinblicken. Literatur aus dem Land der Morgenstille? Kennt man sie? Wenn überhaupt, würde man sie in jener Ecke suchen, in die man Fremdes und Exotisches mit Vorliebe abstellt? Sollte man da was übersehen haben?

Will man verstehen, warum eine solche Äußerung aus dem Munde eines jungen Autors selbst in Korea wie eine Sensation wirkt, muss man begreifen, wie vollständig nach innen gekehrt die koreanische Literatur bis heute war. Beinahe an Solipsismus grenzend, war der Blick der koreanischen Autoren auf die eigene Nationalgeschichte gerichtet. Der Grund hierfür liegt darin, dass diese Geschichte voll von tragischen Ereignissen und Brüchen war, die bestimmend für das Denken der Koreaner im letzten Jahrhundert geworden sind. Spricht man heute von der koreanischen Literatur, ist im internationalen Kontext die moderne Literatur gemeint. Der Beginn der Moderne ist jedoch tragischerweise engstens mit dem Westen verknüpft. Denn die Zäsur, die Ende des 19. Jahrhunderts zwischen die klassische koreanische Literatur und die moderne eine Scheidewand zog, verdankt ihren Ursprung dem westlichen Imperialismus. Dieser zog mit starker Militärmacht und christlichem Sendungsbewusstsein in die Welt hinaus, um sie zu unterwerfen. Korea geriet ins Schussfeld dieser Politik, aus der es sich lange nicht befreien konnte. Die moderne koreanische Literatur begann also nicht mit ruhiger, freiwilliger Rezeption der westlichen Literatur, sondern mit einem Kulturschock seitens der Koreaner in einer politisch bedrängten Zeit. Wie tief die dann einsetzende Veränderung geht, zeigt der Umstand, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Übersetzung des westlichen Gedankenguts in die ostasiatischen Sprachen viele neue Begriffe geschaffen werden mussten. Japan spielte hier eine Pionierrolle. Der heute gängige Begriff für Literatur auf Koreanisch lautet »Munhak« und ist auch eine Neukonstruktion. Korea besaß zwar Begriffe für Poesie, Roman, Erzählung, Essay und Tagebuchaufzeichnung, aber keinen Begriff, der dem der Literatur entsprochen hätte. Die Japaner kreierten auch ein neues Wort, um das englische »love« übersetzen zu können und die Koreaner übernahmen es.

Was war die klassische Literatur, die Korea nach der Berührung mit dem Westen hinter sich lassen musste? Wie anders war sie? Am Anfang der europäischen Literatur stehen die wuchtigen Heldensagen Homers, Illias und Odyssee. Die Epik gewinnt unter diesem bestimmenden Einfluss eine dominierende Stellung unter den literarischen Gattungen in Europa. Die Lyrik und das Drama, die zeitlich der Epik nachfolgen, bleiben stets etwas in deren Schatten. In Korea galt eine andere Tradition. Die Poesie ist die ältere literarische Gattung und gilt auch als die edlere. Der Roman, der zum ersten Mal im 15. Jahrhundert auftaucht, wird erst im 20. Jahrhundert den Gleichstand mit der Lyrik beanspruchen. Was in der koreanischen Literaturtradition ganz fehlt ist die Gattung des Dramas im Sinne des Sprechtheaters. Dafür besitzt Korea eine lebendige Tradition des Maskentanzes, der ein Mittelding zwischen Tanz und Pantomime darstellt. Der Inhalt war meistens Satire auf die korrupte Oberschicht und deshalb im Volke sehr beliebt. Daneben existiert eine noch heute populäre epische Gesangstradition, Pansori genannt, die ihren Ursprung im Schamanismus hat und alte Legenden, begleitet von einer einzigen Trommel, singend erzählt.

Heute verfügt Korea aber über eine lebhafte und auch international beachtete Dramentradition, die sich in den letzten fünf Jahrzehnten hat etablieren können. Der Grund, warum das Drama als Gattung in der klassischen koreanischen Literatur nicht auftaucht, dürfte in der Besonderheit der koreanischen Kultur liegen. Denn diese ist nicht auf Diskursivität angelegt, und anders als in Europa bildete sich keine mit der Rhetorik vergleichbare Tradition heraus. Eloquenz galt nicht als positive Eigenschaft, sondern wurde stets mit Misstrauen beäugt, dahingegen genießt Schweigen hohes Ansehen. Offen Argumente vorzubringen, um die eigene Position klar zu machen und andere zu überzeugen, eine solche Vorgehensweise wäre als zu konfrontativ und zu unhöflich erschienen, selbst in der Kunst. Man sollte eher der Situation angemessen, indirekt vorgehen und auf die Hierarchie der Gesellschaft Rücksicht nehmen. Die Sprache in Korea nimmt Umwege und verhüllt mehr, als dass sie die Dinge offen legt. In einem solchen kulturellen Milieu konnte das Drama, dessen Grundstruktur auf Expressivität und Konfrontation angelegt ist, nicht aufkommen. Kategorien wie das »Dramatische« oder das »Tragische« waren nicht geläufig. Nicht dass die Koreaner nichts Dramatisches oder Tragisches erlebt hätten, aber die starken Emotionen wurden in andere Bahnen gelenkt. Es ist das Schicksal, das als Gefäß für diese Gefühle diente. Man beugt sich ihm, das Faktum »es ist so« anerkennend. Auflehnung, die ja konstitutiv für eine Tragödie ist, wurde nicht als eine geeignete Bewältigungsstrategie angesehen. Denn das Reale transformiert sich ständig in einem Prozess. Stehen zu bleiben, um sich gegen das Geschehene aufzulehnen? Wozu? Die von Begriffen wie »Dramatik« und »Tragik« suggerierte Überreizung und Polarisierung waren also nicht der Weg der koreanischen Literatur gewesen, sondern, wie die alten Gedichte wunderbar zeigen, still der Welt in ihrem Fluss zu folgen und darin einzutauchen. In der Poesie entfalten die Wörter ihre Wirkung, indem sie anspielend auf das nicht in Worte Fassbare verweisen, Bilder evozieren und dadurch eine unbestimmte, aber anwesende Atmosphäre erzeugen, die den Leser einhüllt. Die klassische Literatur, vor allem die Poesie, folgte Rhythmen des Tao und dem alles transformierenden Wechselspiel von Yin und Yang, das regulierend immer wieder die Harmonie des Kosmos herstellt. Die kontinuierliche Transformation der Wirklichkeit, als welche die Koreaner die Welt sahen, geschieht in der Stille und nicht in einem dramatischen Verlauf.

Bevor sich Korea der ganzen Dimension des durch den Westen verursachten Kulturschocks bewusst werden konnte, tauchte Japan in neuer Gestalt am Horizont der koreanischen Geschichte auf. Das Modell des Westens exakt kopierend, ist Japan am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer imperialistischen Macht aufgestiegen. Auf Anerkennung durch den Westen hoffend, legte sich Japan Kolonien zu. Nach dem russisch-japanischen Krieg hatte Japan auch endgültig sein Ziel erreicht. 1905 zwang es Korea, den so genannten Protektoratsvertrag zu unterschreiben, und damit verlor Korea die nationale Selbstständigkeit. 1910 erklärte Japan Korea zu seiner Kolonie. Erst am 15. August 1945 sollte eine der schlimmsten Phasen der koreanischen Geschichte zu Ende gehen.

Folgt man der Aufteilung der Literaturgeschichte, beginnt in Korea die moderne Literatur im engeren Sinne erst um 1917 mit dem Erscheinen eines Romans mit dem Titel Mu-jeong (Lieblosigkeit) von Lee Kwang-su, der zum ersten Mal den westlichen Liebesbegriff in die koreanische Literatur einführte. Die Rezeption seiner Werke stieß später auf massiven Widerstand, da der Autor als pro-japanisch galt. Er starb 1950 in Nordkorea. Lee Kwang-su ist eine von der koreanischen Geschichte hervorgebrachte tragische Figur. Von der ersten Berührung mit der westlichen Literatur Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Roman Mu-jeong verging eine Zeit, in der das neue Gedankengut in die koreanische Tradition assimiliert wurde. Eine zusätzliche Komplikation auf dem Weg der Moderne war, dass die Rezeption der westlichen Literatur im kolonialisierten Korea ausschließlich über Japan lief. Die Werke von europäischen Autoren waren voll von Freiheit, Humanität und Liebe, aber die historische Realität, in der die koreanischen Autoren lebten, war eine ganz andere. Die Modernität kam also mit dem Verderben daher. Der kulturellen Identität beraubt, als minderwertig verachtet, in materieller Armut befangen und die japanische Gedankenpolizei ständig im Nacken, blieb den koreanischen Autoren nichts anderes übrig, als in die Innerlichkeit zu fliehen. L´art pour l´art hieß dann die Richtung oder die Flucht in die Naturidylle. Nur in der Darstellung des alten bäuerlichen Lebens spürt man noch jene elementare, ungebrochene Lebenskraft, die bezeichnend für Korea war. Viele Autoren konnten nur im Verborgenen schreiben. Die koreanische Sprache wurde zunächst aus dem öffentlichen Raum verbannt und dann 1938 ganz verboten. Selbst innerhalb der Familien sollte man Japanisch sprechen. Koreanische Namen wurden japanisiert. Es entstand allmählich eine Art literarisches Sprachvakuum: Die eigene Muttersprache war verboten, aber die neu erlernte Sprache war die des Kolonialherrn und noch nicht in der Gefühlswelt eingenistet. Trotz der Innerlichkeit und Idylle sieht man den Werken, die während der vier Jahrzehnten der Kolonialzeit entstanden sind, die Verwirrung und die Bedrängnis an. Zu Recht nennt man auch die Literatur dieser Epoche die der Angst. Viele hoch talentierte Autoren sind jung gestorben, wie Isang (1910–1937), der die meisterhafte Erzählung »Flügel« geschrieben hat und mit nur 27 Jahren verarmt in Tokyo gestorben ist. Man meint die Verzweiflung mit Händen zu greifen, liest man die letzten Zeilen seiner Erzählung:

»Plötzlich spüre ich Kribbeln unter den Achseln. Aha, das sind die Stellen, wo meine künstlichen Flügel gewachsen waren. Die Flügel, sie existieren heute nicht mehr. In meinem Kopf flimmert es, als würden die Seiten des Wörterbuchs, auf denen die Vokabeln ›Hoffung‹ und ›Ehrgeiz‹ ausradiert sind, umgeblättert.
Ich möchte meine Schritte anhalten und mich aufrichten, um laut hinauszuschreien: Wachst wieder, Ihr Flügel! Lasst mich fliegen, fliegen, fliegen! Lasst mich noch einmal fliegen! Lasst mich bitte nur noch einmal fliegen!«

Als Korea 1945 befreit war, mussten die koreanischen Autoren erst mühsam auf Koreanisch schreiben lernen. So berichtet die Autorin Pak Kyongni, die mit ihrem 16-bändigen monumentalen Roman Land der koreanischen Literatur ein Denkmal gesetzt hat, von diesem Lernprozess. Ihre ersten Schreibversuche waren auf Japanisch. Erst die schmerzhafte Erfahrung des Sprachverlustes machte den Koreanern bewusst, wie wichtig Sprache für die kulturelle Identität ist. Die Sprache, jenes Fundament der Literatur, die den geistigen Reichtum einer Kultur in sich trägt, war verloren und wieder gewonnen und wurde mit viel Begeisterung in Besitz genommen. Die erste Generation, die in der Schule in koreanischer Sprache, Hangul genannt, unterrichtet wurde, hieß dann auch die »Hangul-Generation«. Sie legte den Grundstein für die Entwicklung Koreas nach dem Koreakrieg und dies gilt insbesondere im Bereich der Literatur. In dieser Generation entstand der moderne, eigenständige koreanischen Schreibstil.

Die Befreiung aus der japanischen Kolonialherrschaft 1945 wurde mit großem Enthusiasmus gefeiert, aber die Ernüchterung sollte bald folgen. Denn die USA, die nun die Macht über Korea hatten, teilten das Land in zwei Teile, ohne dass die Koreaner es sogleich realisiert hatten. Noch vor der offiziellen Ankündigung der Kapitulation Japans wurde die Teilung beschlossen und drei Wochen nach der Kapitulation wehte über dem Regierungsgebäude in Seoul das Sternenbanner. Englisch wurde die Amtsprache im Süden. Koreas Schicksal hing wieder von der Politik eines anderen Landes ab. 1948 kam im Süden eine antikommunistische Gruppierung durch die Unterstützung der USA an die Macht, gründete eine Regierung und beendete offiziell die dreijährige amerikanische Militärregierung. Im Norden hatte sich eine kommunistische Regierung etabliert. Am 25. Juni 1950 brach der Koreakrieg aus, der drei Jahre dauerte und ein total zerstörtes Land und ein völlig traumatisiertes Volk zurückließ. Dieser Krieg zementierte die Teilung und machte die Grenze zwischen beiden Koreas zu dem, was sie heute ist.

Die Teilung des Landes führte unvermeidlich auch zur Teilung der Literatur, sodass die bisher gemeinsame Literaturgeschichte getrennte Wege ging. Das letzte Treffen der Autoren aus beiden Landesteilen fand am 13. Dezember 1945 in Seoul statt. Aus Angst, die Teilung könnte zum Dauerzustand werden, wollten die anwesenden Autoren einen gesamtkoreanischen Dachverband der Schriftsteller gründen, aber dieses Vorhaben wurde von der politischen Entwicklung überrannt, und das für 1946 geplante Treffen kam nicht mehr zustande. Nach dem Koreakrieg wurde jeglicher Kontakt unter den Autoren unterbrochen. Bis in die 1980er-Jahre hinein konnte man in Südkorea selbst Werke von Autoren nicht lesen, die freiwillig in den Norden gegangen waren. Literatur aus Nordkorea war im Süden lange ein Tabu. Erst 1987 wurde der Bann aufgehoben. Südkorea begann nordkoreanische Literatur zu rezipieren und zu verlegen. Die Demokratisierung in den 1990er-Jahren und die so genannte »Sonnenscheinpolitik« des früheren Präsidenten Kim Dae-Jung haben den Prozess beschleunigt. Nordkorea wagt, wenn auch zaghaft, eine politische Öffnung. 2004 sah man das Ergebnis dieser Entwicklung. Zum ersten Mal erhielt ein nordkoreanischer Schriftsteller einen südkoreanischen Literaturpreis. Dem Romancier Hong Suk-Zung wurde der Manhae-Literaturpreis verliehen. 2005 haben beide Koreas einen weiteren großen Schritt nach vorn getan. Vom 20. bis 25. Juli fand ein Treffen von Autoren aus Süd- und Nordkorea in Pyongyang statt. Aus dem Süden kam eine von dem Lyriker Ko Un angeführte 98-köpfige Delegation im Direktflug von Inchon nach Pyongyang. 100 nordkoreanische Schriftsteller und 10 Autoren aus der koreanischen Diaspora nahmen an diesem ersten gesamtkoreanischen Treffen nach 60 Jahren teil. Im Abschlusskommuniqué wurden die Gründung eines gemeinsamen Schriftstellerverbandes, einer Literaturzeitschrift und die Stiftung eines Literaturpreises angekündigt. Die Sprache und gewiss auch die Literatur haben sich in den sechs Jahrzehnten sehr unterschiedlich entwickelt. Ob man die auseinander gerissene Literaturgeschichte wieder zusammenfügen kann, wird sich zeigen.

Den Neubeginn der Literatur in Südkorea nach dem Krieg markiert die Gründung der Akademie der Schönen Künste 1954. Ermutigt durch die Akademie wurden viele Literaturzeitschriften gegründet, die für die Zukunft der koreanischen Literatur eine entscheidende Rolle spielen sollten. Die beherrschenden Themen der Literatur sind die Kolonialzeit, die Teilung und der Krieg. Diese Themen geben den literarischen Stoff schlechthin für mindestens zwei Nachkriegsgenerationen ab. Diese Sujets selber erlebten jedoch in der literarischen Bearbeitung einen großen Wandel. Zunehmend setzte sich eine differenziertere Sichtweise durch. Die Komplexität des Geschehens wurde in den Blick gerückt und der politische Kontext, der zur Kolonialisierung und zum Kriegsausbruch führte, beleuchtet. Im Zentrum vieler Erzählungen stand die Verquickung des individuellen Schicksals mit der Geschichte des Landes. Der Krieg hat unverkennbar viele Wunden in die Seele der Koreaner geschlagen. So erlitt der koreanische Lyriker Ko Un mitten im Krieg angesichts des Grauens einen Zusammenbruch und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Viele verloren Familienmitglieder. Der Krieg nahm auch auf den politischen Kurs der nächsten Jahrzehnte einen bestimmenden Einfluss. Nach dem Krieg war der Antikommunismus die Parole, die ausgegeben wurde, und viele gerieten unverschuldet in schwierige Situationen. Vor allem hatten Menschen darunter zu leiden, deren Familienmitglieder mit der linken Ideologie in Verbindung gebracht wurden. Ein Beispiel hierfür ist der bekannte koreanische Autor Yi Munyol, dessen Vater als Kommunist bei Kriegsbeginn in den Norden ging. Nach dem Krieg musste seine Familie als eine »Verräterfamilie« endlose Diskriminierungen erdulden. Er war bei Kriegsausbruch gerade zwei Jahre alt. Wie schwer die Situation für die Familie gewesen ist, bezeugen die Zeilen aus seinem autobiografischen Roman Grenzgebiet:

»Oh, Vater, Vater! Er war stets ein fernes, kaum fassbares Phantom. Nie sah ich sein Gesicht, weder in Wirklichkeit noch auf einer Photographie. Dennoch hatte er sich in jedem Winkel des Hauses eingenistet, wanderte unermüdlich umher wie ein finsterer, Furcht erregender Irrgeist und brachte endlos die dunklen Wolken des Unglücks und des Unheils über uns. Eine Bürde war er für mich, ein Leben lang, zu schwer zu ertragen für ein Paar Tropfen Samen. Er war ein Alptraum, der über meine blasse Seele eine für mich unbegreifliche Erbsünde gestülpt hat. Er war jener Mann, der meine Mutter mitten in der Nacht im tiefsten Schmerz weinen machte, wie ich, gerade aus dem ersten Schlummer erwacht, hörte. Er war auch jene Gestalt, an die ich in meiner wie im Nebel eingetauchten Kindheit meine mit Trauer durchsetzte Sehnsucht richtete. Zugleich war er Inhaber jenes Namens, dessen blosse Nennung mich zusammenzucken und vor Angst erstarren ließ.«

Am 19. April 1960 brachte der Studentenaufstand die korrupte Regierung zum Sturz. Es war eine völlig neue Erfahrung, die grundlegend das politische Bewusstsein der Koreaner veränderte und das Fundament für die kommende Demokratiebewegung bildete. Ein Jahr später kam trotzdem das Militär durch einen Putsch an die Macht und behielt diese bis Ende der 1980er-Jahre. Mitte der 1970er-Jahre entstand, eingeleitet vom Lyriker Kim Zi-ha, die »Min-zung«-Bewegung. Min-zung heißt das Volk. Diese Strömung, die alle Bereiche der Kunst erfasste, dauerte bis zum Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 1980er-Jahre. Den gesellschaftlichen Hintergrund dieser Bewegung bildet die Schattenseite der Industrialisierung, die von der Militärregierung mit aller Macht vorangetrieben wurde. Massive Verstädterung setzte ein und als Folge entstanden große Städte, an deren Rändern rechtlose, schlecht bezahlte Industriearbeiter lebten. Eine heftige Debatte über »Engagement versus Purismus« kam in Gang. Man stritt darüber, ob die Literatur sich für soziale Belange engagieren solle oder nicht. Die so genannte Arbeiterliteratur entstand. Viele Autoren solidarisierten sich mit Arbeitern und Bauern. Studenten gingen in die Fabrik. Als in den 1980er-Jahren zum ersten Mal offen die Werke von Marx rezipiert werden konnten, verlangten einige Autoren gar, die Literatur müsse sich für die Befreiung der Arbeiterklasse einsetzen. Diese Richtung fand ein abruptes Ende mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und verschwand völlig von der Bildfläche. Es gab aber auch Schriftsteller, die sich weigerten, sich für eine Ideologie vereinnahmen zu lassen. Die Literatur müsse für sich sprechen und nicht Mittel für etwas anderes sein.

Dass die koreanische Literatur eine neue Stufe erreicht hat, wurde in den 1990er-Jahren deutlich. Die Veränderung der Gesellschaft ließ eine neue Form des literarischen Schaffens hervortreten. Zunächst ist eine sichtbare Verschiebung der Themen zu beobachten. Bis jetzt herrschten zwei Themenkreise vor: einerseits die großen historischen Ereignisse wie Kolonialzeit, Teilung und Krieg, andererseits der Kampf um Demokratie, um die Rechte der Arbeiter und der Bauern und um soziale Gerechtigkeit. Insgesamt dominierten also politisch-soziale Themen. Nun rückt jedoch das Individuum in den Mittelpunkt des literarischen Interesses. Die Frage nach der Identität des Individuums in einer Konsumgesellschaft wird mit einer gewissen Eindringlichkeit gestellt. Ebenso werden die Gefühle und die psychische Befindlichkeit der Einzelnen analysiert. Die Innenwelt des Menschen mit seinen Abgründen und seiner Emotionalität landet auf dem Seziertisch. Die früher durch die Tradition gestützte, als stabil geltende Institution der Ehe taucht plötzlich in ihrer ganzen Fragilität als literarisches Sujet neu auf, ebenso das gewandelte Verständnis der Familie. Existentielle Fragen und die zunehmend gefährdeten zwischenmenschlichen Beziehungen werden in all ihrer Komplexität beleuchtet. Durch das Auftauchen neuer Themen erhält die Literatur eine nie da gewesene Vielfalt, die ihrerseits eine Pluralität der Stile nach sich zieht. Der bis dahin vorherrschende realistische Stil macht Platz für neue Richtungen. Experimentierfreudigkeit ist überall zu spüren. Die Monumentalität, die man früher eher gepflegt hatte, verschwindet. An deren Stelle treten mikroskopische Analysen des Alltags- und Innenlebens.

An der Verlagerung der literarischen Themen wird auch der Riss sichtbar, der zwischen den Generationen unter den Schriftstellern verläuft. Hat sich die ältere Generation allein auf die nationalgeschichtlichen Themen fokussiert, verfügt die jüngere Generation über einen breiteren Horizont. Das veränderte soziale Umfeld brachte eine neue Perspektive auf die Welt und auf die eigene Kultur. Lange war der Westen das Vorbild schlechthin gewesen, aber nun diversifiziert sich der Blick. In der gleichen Zeit entsteht ein Kulturmarkt in Ostasien. Korea sucht heute mehr Kontakt zu seinen asiatischen Nachbarn. Dank des materiellen Wohlstandes können koreanische Autoren heute reisen. Der Staat und private Stiftungen ermöglichen den Literaturaustausch mit anderen Ländern. Koreanische Autoren werden ins Ausland eingeladen. Vor allem können endlich Werke koreanischer Autoren in andere Sprachen übersetzt werden, um die Einseitigkeit des Austausches zu beseitigen.

Das auffälligste Phänomen der 1990er-Jahre in der koreanischen Literaturszene ist die hervorstechende Rolle der Autorinnen. Nicht nur hat sich die Zahl der schreibenden Frauen drastisch erhöht, sodass wohl unter den jüngeren Schriftstellern die Frauen die Mehrheit bilden, sondern ihre deutliche Präsenz hat die traditionelle männliche Dominanz in der Schriftstellerzunft gebrochen. Die Autorinnen heute genießen hohe Anerkennung und sind kommerziell genauso erfolgreich wie ihre männlichen Kollegen. Es hat in der koreanischen Literaturgeschichte immer schreibende Frauen gegeben, einige waren sehr erfolgreich gewesen, wie die Beispiele von Pak Kyongni oder Oh Jong-Hi zeigen. Aber die Zahl war klein und sie standen immer im Schatten ihrer männlichen Kollegen. Die markante Präsenz der Autorinnen heute hat nicht nur die Balance der Geschlechter endlich hergestellt, sondern auch den Schleier, der die weibliche Seite der koreanischen Kultur verhüllte, gelüftet. Diese ist, weil nun sprachlich festgehalten, der Reflexion zugänglich. Dem männlichen Blick waren Grenzen gesetzt, vor allem in einer Kultur wie der koreanischen, in der die Segregation zwischen den Geschlechtern seit jeher streng war. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau wurden überall durch die Kultur gelenkt, aber in Korea waren sie einer sehr strikten Kontrolle unterworfen. Diese Tradition geht auf den Konfuzianismus zurück, der Ende des 14. Jahrhunderts zur Staatsideologie aufstieg und bis heute der bestimmende Faktor im Leben der Koreaner geblieben ist. Mann und Frau wurden schon im Alter von sieben Jahren streng getrennt, der Moral wegen. Wenn sich auch heute die koreanische Gesellschaft von der Tradition gelöst hat, spürt man sie noch überall. Männer und Frauen im heutigen Korea mischen sich weitaus weniger als in Europa, und die Kommunikation über die Geschlechter hinweg ist noch immer mit Ritualen und Hindernissen verbunden. Man findet auch in der Sprache die Spuren: So stellt heute noch ein Mann seine Frau als »unsere innere Person« vor und umgekehrt die Frau ihren Mann als »unsere äußere Person«.

Die literarische Entdeckung der weiblichen Seite der koreanischen Kultur hat zur Folge, dass die Welt der Frauen zum Objekt des Diskurses wird. In den 1990er-Jahren kreisen viele Werke der Autorinnen um Themen wie die weibliche Sexualität, die Gefühls- und Empfindungswelt der Frauen, die in allen Facetten und Nuancen beschrieben wurde. Die Autorinnen deckten zum ersten Mal die subtilen Mechanismen der durch die Tradition legitimierten Unterdrückung der Frauen auf. Unvermeidlich tauchte auch die Frage nach der Identität der Frauen jenseits der Ehe und der Familie auf, um die traditionell das Leben der Frauen kreiste. Die Folge ist, dass das traditionelle Muster der Ehe und Familie zunehmend in Frage gestellt wird. Vieles ist in Auflösung begriffen, eine neue Form der Beziehung zwischen Mann und Frau muss sich noch entwickeln. Autorinnen brachten nicht nur eine Vervielfachung der literarischen Sujets mit, sondern auch einen anderen, femininen Stil, den man als introvertiert, feinfühlig, sorgfältig und sinnlich bezeichnen kann.

Eine noch größere Veränderung im Bereich der Literatur scheint ausgelöst durch die Technik im Gang zu sein. Die Rede ist hier von den neuen Medien und vor allem vom Internet. Gepaart mit der Konsumgesellschaft, die alles zur Ware macht, zwingt die heutige Welt zum Umdenken. In Korea, wo die Vernetzung am weitesten fortgeschritten ist, zeigen sich offen jene Phänomene, mit denen man überall rechnen muss. Es herrscht ein gewisses Unbehagen vor allem bei älteren Schriftstellern, da sich die Stellung eines Autors innerhalb der koreanischen Gesellschaft grundlegend gewandelt hat. Traditionell war ein Schriftsteller ein Intellektueller, der, hoch verehrt, eine Sonderstellung innehatte und als ein moralisches Vorbild galt. Nun ist er ein Teil der großen Kulturindustrie geworden. Früher produzierte die Literatur den Markt, heute scheint es umgekehrt. Der in Korea sehr populäre Internet-Roman macht die Grenze zwischen Autor und Leser unscharf. Täglich schwirren mehrere Tausende Romane in der virtuellen Welt herum und suchen nach Lesern, die zugleich sich selber als Autoren betrachten. Die zunehmende Visualisierung verändert das Leseverhalten und die eindeutige Trennung zwischen Unterhaltungsliteratur und E-Literatur wird schwierig. Das Auftauchen der virtuellen Welt mitten unter uns führt dazu, über die Beziehung zwischen Realität und Fiktion neu zu reflektieren. Auch die Vermarktung der Literatur geht neue Wege. Die immer dichter werdende Vernetzung wird vor allem die Internationalisierung weitertreiben.

Nur innerhalb von fünf Jahrzehnten ist Korea von einem armen Agrarland zu einer Industrienation aufgestiegen. Nun orientieren sich die koreanischen Autoren neu. Vor allem die jüngeren Autoren suchen die Enge der Heimat hinter sich zu lassen. Die Themen der heutigen koreanischen Literatur sind auch die Themen der Autoren anderswo. Insofern ist für die koreanischen Autoren auch die Zeit gekommen, für ein internationales Publikum zu schreiben. Ob die Träume des Autors Kim Young Ha in Erfüllung gehen werden, muss erst noch abgewartet werden. In Frankfurt, auf der Buchmesse, ist er mit seinen Kollegen jedenfalls schon angekommen.

Literaturhinweise

Die Sympathie der Goldfische. Neue Erzählungen aus Südkorea, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2005

Kim Wonil: Wind und Wasser, Bielefeld (Pendragon) 1998

Pak Kyongni: Die Töchter des Apothekers Kim, Bielefeld (Pendragon) 1999

Yi Munyol: Der entstellte Held, Zürich (Unionsverlag) 2004

Am Ende der Zeit. Anthologie Bd.1, Bielefeld (Pendragon) o. Z.

Versammelte Lichter. Anthologie Bd. 2, Bielefeld (Pendragon) 2003

Yang Guija: Die Leute von Wonmidong, Bielefeld (Pendragon) 2000

Kim Byung-Ik: Grenzerfahrung. Essays, Bielefeld (Pendragon) 2001

Hwang Sok-yong: Der ferne Garten, München (dtv) 2005

Hwang Sok-yong: Die Geschichte des Herrn Han, München (dtv) 2005

Ch´oe Yun: Lautlos fällt eine Blüte. Erzählungen, Bielefeld (Pendragon) 1992

Jo Kyung Ran: Wie kommt der Elefant in mein Schlafzimmer? Erzählungen, Bielefeld (Pendragon) 2003

Ko Un: Ein Tag voller Wind, Bielefeld (Pendragon) 2002

Ko Un: Die Sterne über dem Land der Väter, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003

Oh Jung-Hee: Vögel. Roman, Bielefeld (Pendragon) o. J.

Oh Jung-Hee: Die Seele des Windes, Thunum (Edition Peperkorn) 1998

Kim Hyon-Seung: Der Mai Koreas. Gedichte, Bielefeld (Pendragon) 2005

Lee Sung-U.: Vermutungen über das Labyrinth. Erzählungen, Bielefeld (Pendragon) 2005

Yi Chungjun: Das geheime Feuerfest, Bielefeld (Pendragon) 2002

Kim Kwang-Kyu: Die Tiefe der Muschel. Gedichte, Bielefeld (Pendragon) 1999

Lee Hochol: Menschen aus dem Norden. Menschen aus dem Süden. Roman, Bielefeld (Pendragon) 2002

Lee Hochol: Kleine Leute. Roman, Bielefeld (Pendragon) 2004

Hedig Kang, Ahn Sohyun (Hrsg.): Ein ganz einfaches gepunktetes Kleid. Moderne Erzählungen koreanischer Frauen, Bielefeld (Pendragon) 2004

Yi Chong-Jun: Die Feuerfrau. Erzählungen, Salzburg (Residenz) 2002

Yi Chong-Jun: Die Gerüchtemauer, Thunum (Edition Peperkorn) 2005

Hwang Chi-Woo: Sündhafte Sehnsucht. Ausgewählte Gedichte, Hamburg (Abera) 2003