Martin Altmeyer

Die totalitäre Herausforderung – ein Bluff?

Eine Zwischenbilanz fünf Jahre nach 9/11

 

 

Die Herausforderung der Weltgesellschaft durch den fundamentalistischen Islam ist komplexer Natur. Unser Autor entwickelt fünf Kernthesen und ihre Folgen: Erstens droht in der fatalen Rhetorik vom »Krieg gegen den Terror« die tatsächliche Asymmetrie einer Auseinandersetzung verloren zu gehen. Zweitens ist der totalitäre Charakter des islamistischen Projekts nicht zu ignorieren. Drittens wird durch die neue »Kultur der Niederlage« die Geschichte des »arabischen Unglücks« bloß verlängert, antisemitischen Vernichtungswahn inkludierend. Viertens sollte man die Refundamentalisierung des Islam als Krisensymptom der sich globalisierenden Welt verstehen, die die Religion zunehmend individualisiert. Fünftens nötigt die Rückkehr der Religion auch die »siegreiche« Kultur des Westens zu Fragen nach eigenen sozialen, moralischen und metaphysischen Leerstellen.

Von der realen Asymmetrie zur mentalen Symmetrie – ein schwerer Kollateralschaden psychologischer Kriegsführung

Fünf Jahre, nachdem die islamistischen Gotteskrieger in Lower Manhattan ein unvorstellbares Inferno angerichtet haben und ihnen vom amerikanischen Präsidenten im Namen des Westens, auf dessen Vormachtstellung, Lebensweise und Wertesystem die apokalyptische Attacke symbolisch zielte, der Krieg erklärt worden ist, zeigen sich die verheerenden Wirkungen dieser Kriegserklärung. Denn der so genannte »Krieg gegen den Terror«, welcher der Außenpolitik der einzig verbliebenen Supermacht, ähnlich wie früher der »Kalte Krieg«, Kohärenz und Richtung geben sollte, faktisch allerdings gefährlich verengte, baute den Gegner im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit erst richtig auf. Dieser nutzte den medialen Spiegel seiner eigenen Mächtigkeit zur weiteren Rekrutierung von Anhängern, zur globalen Verbreitung seiner manichäischen Heils- oder Unheilsbotschaft und nicht zuletzt zur grandiosen Selbstheroisierung in der Figur des Attentäters, der bereitwillig sein eigenes Leben für die heilige Sache hingibt. So wurde der in allen Belangen weit unterlegene Gegner zu einem ebenbürtig scheinenden Widersacher, der die eigene Schwäche ausglich, indem er geschickt die Klaviatur der Medien bediente. Auf imaginärer Ebene verwandelte sich die reale Asymmetrie dieses »Krieges« in eine symmetrische Auseinandersetzung, die dadurch gekennzeichnet war, dass jede Seite die andere dämonisierte und für sich beanspruchte, den Kampf des Guten gegen das Böse zu führen. Es war gerade diese vom angreifenden David provozierte Symmetrie der Imagination, die bei Goliath unvermeidlich zur Steigerung des Mitteleinsatzes führte, zu einer Logik des »Mehr-Desselben«, die das tatsächliche Desaster vorantrieb.

Denn das durch die Anschläge erniedrigte Amerika, immer noch die Führungsnation der westlichen Welt, zahlte mit gleicher manichäischer Münze zurück: Freund gegen Feind, Gut gegen Böse, Wir gegen Die – Kreuzzug gegen Dschihad. Die rechtsfreien Foltergefängnisse in Abu Ghraib, in Guantanamo und an weiteren unbekannten Orten, welche die amerikanische Regierung eingerichtet hat und gegen alle Kritik weiter aufrechterhält, sind entsetzlicher Ausdruck einer zivilisatorischen Regression im Namen einer höheren Moral, die den Praktiken islamistischer Halsabschneider in nichts nachsteht und dieselben sadistischen Instinkte befriedigt. Wer zur wechselseitigen Abrüstung im Glaubenskrieg beitragen will, muss aus der symmetrischen Falle heraustreten, die der terroristisch agierende Herausforderer dem Westen aufgebaut hat, und den asymmetrischen Charakter der Auseinandersetzung auch mental wiederherstellen.

»To defeat the beast, don’t feed the beast!« – man solle die Bestie nicht füttern, die man erlegen will, hat Joschka Fischer bei seiner Antrittsvorlesung an der Princeton-University gesagt. Aber was für eine Bestie verbirgt sich im radikalen Islamismus?

Neuer Totalitarismus in religiösem Gewand

Die Linke neigt dazu, die totalitäre Bedrohung zu verharmlosen und die Reaktionen darauf als Hysterie oder Panikmache zu diskreditieren. Das »Feinbild Islam«, das sie beschwörend an die Wand malen, existiert freilich nur in den eigenen Köpfen. Sie möchte nicht sehen, dass sich in weiten Teilen der islamisch-arabischen Welt Massenbewegungen mit faschistischen Zügen gebildet haben, die von ihren Führern ideologisch mit dem hybriden Erbe von Nationalsozialismus und Kommunismus versorgt werden. So verschieden das unappetitliche Gebräu im Einzelfall zusammengesetzt sein mag, einige Ingredienzien, die Paul Berman in seinem Buch Terror und Liberalismus (Hamburg 2004) herausgearbeitet hat, sind dem neuen Totalitarismus gemeinsam. Neben der faschistischen Massenbasis gehören zum mentalen Syndrom eine paranoide Weltverschwörungstheorie, wonach, je nachdem, das Kapital, die Juden, die christlichen Kreuzzügler, der kolonialistische Westen oder der amerikanische Imperialismus die Welt beherrscht und die arabisch-islamische Welt vernichten will; eine Endzeitvision, die das verklärte »Goldene Zeitalter des Islam« als modernen Gottesstaat wiederherzustellen verspricht; und schließlich ein apokalyptischer Märtyrer- und Todeskult, der für die heilige Sache den Massenmord rechtfertigt und das Selbstmordattentat zur höchsten Kampfform erklärt, die den Täter zum Dank sofort ins himmlische Paradies katapultiert.

Wer immer noch daran zweifelt, dass es sich beim islamistischen Fundamentalismus um eine totalitäre Ideologie handelt, der muss nur aufmerksam dem iranischen Präsidenten oder dem libanesischen Hisbollahführer bei ihren Hass- und Brandreden zuhören. Unter dem Beifall der Massen sprechen sie eine Sprache der Vernichtung. Als ob sie sich zur Kennzeichnung ihrer Feinde direkt aus dem Wörterbuch des Unmenschen bedienen, reden sie von Israel als einem »Krebsgeschwür«, das herausgeschnitten, vom »Infektionsherd«, der ausgemerzt, oder vom »Unkraut«, das vertilgt werden müsse. Zygmunt Baumann hat (in: Moderne und Ambivalenz, Hamburg 2005) zur Verwendung chirurgischer oder gärtnerischer Metaphern bei der Diskriminierung des Anderen das Nötige gesagt: Sie entstammt einer biologischen Reinheitsfantasie, die sich durch das Unreine bedroht sieht, und dokumentiert eine obsessive Vorstellung von der Vollkommenheit und Homogenität des Eigenen, die im heterogenen Einfluss des Fremden tödliche Gefahr wittert und entsprechend reagiert. Das Vernichtungsdenken geht dem Vernichtungshandeln bekanntlich voraus: Wer so denkt und spricht, darf keine Atombombe in die Hand bekommen.

Nun hat der amtierende amerikanische Präsident Kritik geerntet, weil er den Kampf der Kulturen anheize, wenn er vom »Islamofaschismus« spricht. Natürlich will er seinen »war on terror« damit adeln und mit noblen, wenn auch falschen, historischen Analogien aufladen, wie seine Vergleiche Bin Ladens mit Stalin oder Hitler zeigen. Das heißt aber nicht, dass es den neuen Totalitarismus in Wirklichkeit gar nicht gibt. Der Begriff des Islamofaschismus – wie übrigens auch der des »muslimischen Totalitarismus« – stammt keineswegs aus dem politischen Denunziationsvokabular der Neokonservativen, sondern wird von liberalen Intellektuellen wie Paul Berman oder antitotalitären Denkern wie Bernard-Henri Lévy oder André Glucksmann schon lange im präzisen Sinne einer ideologiekritischen Kategorie benutzt.

Die islamistische Ideologie totalitär zu nennen, bedeutet keineswegs, dass man bereits eine Strategie zu ihrer Bekämpfung hätte. Aber es bedeutet, dass man sie ernst nehmen sollte in ihrem eigenen weltrevolutionären Anspruch, bei dem die Ummah den virtuellen Platz einnimmt, den einst das internationale Proletariat oder die faschistische Volksgemeinschaft hatte. Was den radikalen Islamismus politisch so gefährlich macht, ist, dass er mit seinem Antisemitismus das Spektrum der extremen Rechten anspricht, mit seiner paternalistischen Sozialstaatsvariante sich auf der Linken attraktiv macht und mit seiner Kombination aus Antikapitalismus und Antiamerikanismus bei rechten wie linken Fraktionen der Globalisierungsgegner, mit denen er den Affekt gegen die Moderne teilt, anschlussfähig werden kann.

Das »arabische Unglück«, die »Kultur der Niederlage«, der »radikale Verlierer«

Der jetzige Libanonkrieg endete wie die früheren Nahostkriege auch: Israel ist nicht von der Landkarte verschwunden, die Juden haben sich nicht zurück ins Meer treiben lassen, wie angedroht, und die von der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah wiederbelebte Vernichtungsrhetorik, auch wenn ihr Raketen hinterherflogen, hat den verhassten Judenstaat nicht beseitigen können. Israel vernichten zu wollen, ist zwar eine Vorstellung, die im kollektiven Bewusstsein seiner arabischen Nachbarländer tief verwurzelt sein mag und im islamistischen Apokalypseprojekt einen zentralen Raum einnimmt, aber sie bleibt eine Fantasie, die wahnhafte Züge hat und an der Wirklichkeit der Region abprallt (als Beleg dafür mag der bizarre Versuch des iranischen Präsidenten dienen, den paranoiden Antisemitismus zum außenpolitischen Programm zu erheben und ausgerechnet Deutschland für ein Bündnis gegen die »jüdische Weltverschwörung« zu gewinnen).

Dennoch bestimmt die wirklichkeitsfremde Vernichtungsidee – man kann sagen: nach dem Muster eines historischen Wiederholungszwangs, in den die Kontrahenten mental verstrickt sind – die Realität im Nahen Osten. Denn Israel nimmt die existenzielle Bedrohung, die in Oslo bereits Geschichte schien und einer Bereitschaft zu Verhandlung, Ausgleich und Kompromiss gewichen war, bis Arafat den mit Barak ausgehandelten Vertrag ablehnte und statt zum friedlichen Aufbau des ersehnten palästinensischen Staats zur Intifada aufrief, bitter ernst. Es ist die Erfahrung des Holocaust, aus der das Land die Lehren gezogen und jene bedingungslose Entschlossenheit zur Selbstverteidigung entwickelt hat, die auch seine Neigung zu Alleingängen und Überreaktionen erklärt. Israel, das, mit Ausnahme seiner eigenen Fundamentalisten, den zionistischen Traum von »Judäa und Samaria« längst ausgeträumt hat, setzt auf Abschreckung, Eindämmung und Grenzsicherung, um seine Existenz in einer feindlichen Umgebung zu behaupten.

Auf der anderen Seite muss sich der Libanon fragen lassen, warum sich die Hisbollah – sie ist immerhin Regierungspartei – im Süden des Landes als Staat im Staate etablieren konnte, der dort nicht nur das islamische Sozialmodell praktizieren, sondern auch Waffenlager und Raketenstellungen anlegen durfte, um den Feind jenseits der Grenze ins Visier zu nehmen. Eine weitere Frage geht an die palästinensische Hamas, die nach dem israelischen Rückzug aus dem Gaza, statt die gewiss schwierige Zukunft des neuen Palästina zu gestalten, es vorzog, in der Pose der antiimperialistischen Widerstandsgruppe Israel weiter das Existenzrecht zu bestreiten, mit Raketenangriffen und Attentaten zu überziehen und schließlich einen israelischen Soldaten zu entführen, in der hoffnungsvollen Erwartung, einen militärischen Gegenangriff zu provozieren. Mit ähnlichen Methoden inszenierte die Hisbollah vom Libanon aus die Logik der Provokation. Es ist eine Logik des heroischen Untergangs, am Ende die Zerstörung der Infrastruktur des Libanon, die in der arabisch-islamischen Welt als emotionaler Sieg über Israel gefeiert wird – ein »Sieg«, der unter UNO-Mandat endlich das durchsetzen wird, was Israel gefordert hat: die Sicherung seiner Nordgrenze, die Entwaffnung der Hisbollah, die Stärkung des libanesischen Staats.

Freilich wird sich Israel nach dieser Erfahrung vorerst hüten, den angekündigten Rückzug aus dem Westjordanland wahr zu machen. Das wiederum wird den Palästinensern Anlass geben, ihre Dauerklage gegen die anhaltende Besetzung zu verlängern, genauso wie sie nun bereits in der dritten Generation in Flüchtlingslagern verharren, um der Welt ihre Wunden zu zeigen.

Man kann hier von einer Sonderform der »Kultur der Niederlage« (Wolfgang Schivelbusch, Berlin 2001) sprechen, die in der unbewältigten Niedergangsgeschichte des Islam ihre Tiefenwurzeln hat. Aufgeklärte arabische Intellektuelle fordern ihren Teil der Welt auf, sich endlich den inneren Bedingungen des eigenen Entwicklungsrückstands und der eigenen Zukunft zuzuwenden, statt ein chronisches Gefühl der Erniedrigung zu pflegen und im projektiven Hass zu bewältigen. Samir Kassir, ein libanesischer Journalist, der 2005 in Beirut einer Autobombe zum Opfer fiel, spricht vom »arabischen Unglück« (Considerations sur le malheur arabe, 2004; deutsch: Berlin 2006), das durch die Islamisierung des palästinensischen Widerstands und die morbide Hinwendung auf die verklärte Vergangenheit nur verlängert werde. Er vergleicht die Renaissance des politischen Islam ausdrücklich mit dem Aufstieg der faschistischen Bewegungen in Europa: »Tatsächlich weisen die gesellschaftlichen Verhaltensweisen der islamistischen Bewegungen, sobald man den sie verhüllenden religiösen Schleier entfernt, viele Analogien zu den faschistischen Diktaturen auf.« Der vom Islamismus gewiesene Ausweg aus der empfundenen Ohnmacht, die terroristische Gewaltausübung, gleiche »bestenfalls dem Wüten des rasenden Simson« und diene dazu, die moralische Überlegenheit des Opfers zu demonstrieren, »von dem man lediglich verlangt, seine Opferrolle auf sich zu nehmen«.

Dasselbe Innenweltmuster sieht Hans Magnus Enzensberger (Schreckens Männer, Frankfurt 2006) in der Figur des »radikalen Verlierers«, die sich von verwandten Figuren des Versagers, der resigniert hat, des Opfers, das Wiedergutmachung fordert, oder des Besiegten, der beim nächsten Mal Sieger sein will, unterscheidet. »Der radikale Verlierer aber sondert sich ab, wird unsichtbar, hütet sein Phantasma, sammelt seine Energie und wartet auf seine Stunde.« Dass die anderen ihn für einen Verlierer halten, reicht allerdings nicht, denn »zum radikalen Verlierer hat er es erst gebracht, wenn er sich das Votum der anderen, die er für Gewinner hält, zu eigen gemacht hat. Erst dann ›rastet er aus‹.« Ob man gewinne oder verliere, sei für arabische Volkshelden wie Hassan Nasrallah oder die Hamasführer (oder die namenlosen Selbstmordattentäter an der Front) nicht entscheidend, schreibt Tom Friedman in der New York Times, die Hauptsache sei der seelische Gewinn: »... it’s whether you kill jews.«

Aber gibt es nicht doch reale Gründe, den Konflikt mit Israel zu suchen, etwa die anhaltende Realität des israelischen Besatzungsregimes? Eine weit über die Linke hinaus verbreitete Denkfigur zu den vermeintlichen Ursachen des islamistischen Terrors lautet folgendermaßen: Wenn wir nur mehr wüssten über die wirklichen Hintergründe des religiösen Furors, wenn wir nur mehr Kenntnisse hätten über die Vorgeschichte der sozialen Deklassierung, kulturellen Erniedrigung und moralischen Kränkung bestimmter Leute, dann würden wir letzten Endes verstehen können, weshalb sie tun, was sie tun – auch wenn wir ihre Mittel missbilligen. So wird dem Terrorismus als »Waffe der Schwachen« eine bestimmte Vernunft zugebilligt. Vielleicht sollten wir dieses Argument, das übrigens von den Protagonisten des Islamismus selbst benutzt wird, als eine jener Rationalisierungen betrachten, hinter der sich in aller Regel die Unvernunft des Unbewussten verbirgt. Jedenfalls würde diese Vermutung etwas von jenen Orgien kollektiver Selbstschädigung erklären helfen, die in der islamischen Welt, vor allem aber im Nahen Osten, regelmäßig inszeniert werden.

Aber liefert die zunehmende Unterstützung, die das islamistische Projekt inzwischen auch in der europäischen Diaspora erhält, nicht den Gegenbeweis? Zeigt der politisch radikalisierte Islam den erwachten Muslimen nicht gerade den Weg aus dem Unglück, aus der Niederlage, aus der Verliererposition? Und ist das Imperium nicht der eigentliche Verlierer?

Die Radikalisierung des Islam als Krisensymptom der Globalisierung

»Warum Bin Laden gewonnen hat?«, titelt die taz (9./10.9.06) und porträtiert auf ihrer Frontseite den weiß gewandeten »Sieger« im Jesus-Look, von Kugeln durchsiebt und mit Wundmalen auf der Stirn. So deutlich werden nicht alle, aber wer die Sonderbeilagen der großen europäischen Tages- und Wochenzeitungen zum fünften Jahrestag des 11. September 2001 zwischen den Zeilen liest, erhält den Eindruck, der weltrevolutionär gestimmte Islamismus sei gerade dabei, den Kampf gegen die verhasste westliche Zivilisation zu gewinnen – und sei es durch deren Selbstzerstörung. Das Bild (das die taz übrigens vom Feuilletonaufmacher der FAS vom 25.4.04 geklaut hat) kommt in der islamisch-arabischen Welt, wo sie gerade den Sieg des Libanon gegen Israel feiern, natürlich gut an, zumal der Al-Qaida-Gründer aktuellen Meinungsumfragen zufolge dort zu den fünf bedeutsamsten Politikern gerechnet wird, zusammen mit dem iranischen Präsidenten, der die Liste anführt, und den Führern der libanesischen Hisbollah, der palästinensischen Hamas und der ägyptischen Moslembruderschaft. Bei dem Kaliber solcher Gegner scheint es um die Zukunft des Westens also schlecht bestellt. Doch der Schein trügt.

Nach dem von der UNO in Auftrag gegebenen und von arabischen Autoren erstellten, also unverdächtigen Arab Human Development Report (2004) rangieren die 22 Mitgliedstaaten der Arabischen Liga bei den zukunftsrelevanten Daten am Ende der Weltrangskala, nur knapp vor Schwarzafrika: Wirtschaftsleistung (einschließlich der enormen Öleinnahmen, die nur mit Hilfe westlicher Förder- und Transporttechnologie realisiert werden können und im Wesentlichen als Grundrente verprasst werden, statt sie in den Aufbau eigener produktiver Industrien zu stecken), Grundbildung (die Hälfte der arabischen Frauen sind Analphabeten), Ausgaben für Forschung und Entwicklung (ein Siebtel des Weltdurchschnitts), politische und gesellschaftliche Freiheiten (die Unterdrückung, Rechtlosigkeit und soziale Ausgrenzung der Frauen ist nur ein besonders drastisches Beispiel) – Parameter, die eher von Immobilismus zeugen als von Fortschritt. Wer die Wahrheit in den Tatsachen sucht und Marx darin folgt, dass es immer noch die Entwicklung der Produktivkräfte ist – und nicht die der Destruktivkräfte –, die den Gang der Geschichte bestimmt und die Entwicklung der Zivilisation begleitet, wird zu einem eher skeptischen Urteil über die Zukunft dieser Weltregion kommen.

Man täte besser daran, den muslimischen Totalitarismus mit seinem religiösen Chiliasmus, seinem romantischen Gemeinschaftsversprechen, seiner ideologischen Aggressivität und seinen Terrormethoden den Geburtswehen einer zukünftigen Weltgesellschaft zuzurechnen, die sich unter der Dynamik einer expandierenden, alle Grenzen der Natur und Kultur überschreitenden kapitalistischen Ökonomie herausbildet und – gewiss mit Rückschritten und auf Umwegen – in demokratischen Formen zu organisieren beginnt. Die Repolitisierung und Fundamentalisierung des Islam lässt sich selbst als Produkt der Säkularisierung verstehen, als eine verzweifelte Antwort auf die universelle Modernisierung der Lebenswelten und die damit einhergehende Individualisierung der Religion, die das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Religion – seine Religiosität – berührt. Der Islamismus ist Symptom einer Krise, die den Islam im Zuge seiner »Verwestlichung« erfasst hat – so lautet zumindest die Diagnose des französischen Politikwissenschaftlers und Islamforschers Olivier Roy (Der islamische Weg nach Westen, München 2006), den man der Linken zurechnen kann.

Auch wenn das die Freunde des Kulturrelativismus aufbringen und die aufgebrachten Muslime in aller Welt kränken mag, darf man Roys überzeugender Diagnose folgende Prognose anfügen: Das Ergebnis im »Kampf der Kulturen« wird auf lange Sicht nicht die Gemeinschaft der Gläubigen im Gottesstaat sein, der die Scharia anwendet, nicht die Priesterherrschaft des Kalifats, sondern eine Welt, in der die einzelnen Nationalstaaten oder Staatenverbünde ihren Bürgern gleiche Rechte und Freiheiten sowie persönliche, kulturelle und weltanschauliche Selbstbestimmung gewähren, einschließlich der Freiheit der Religionsausübung; der Islam darf dabei die gleiche Rolle spielen wie die anderen großen Weltreligionen und Glaubensrichtungen auch, das muss man ihm zugestehen, aber auch abverlangen – nicht mehr und nicht weniger.

Die kommende Weltgesellschaft wird voraussichtlich nicht unter das erreichte Zivilisationsniveau regredieren. Vielmehr scheint sie sich an jenem historischen Erfolgsmodell zu orientieren, das die pluralistischen Demokratien des Westens mit ihrer kapitalistischen Wirtschaftsordnung repräsentieren, die freilich politisch gerahmt, sozial abgefedert und ökologisch gebändigt werden muss. Mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung und der zivilgesellschaftlichen Liberalität hat dieses Staats- und Gesellschaftsmodell längst auch für andere Weltregionen, die sich gerade aus Armut und Unterentwicklung zu befreien beginnen, universelle Maßstäbe gesetzt, an denen gerade unübersehbare Demokratiedefizite und Menschenrechtsverletzungen – wie in den »Tiger«- und »Drachen«-Staaten Asiens, den Schwellenländern Lateinamerikas, den neuen Großmächten Indien und China – gemessen und skandalisiert werden können.

Die Sinnkrise des Westens

Spätestens am Spurenverlauf der islamistischen Gewaltstrategie, die längst in Europa angekommen ist, wird evident, dass die Attacke nicht von außen, sondern aus dem Inneren einer zusammenwachsenden Welt kommt. Besonders in den europäischen Immigrationsländern wird die religiös untermalte Hassbotschaft in Moscheen und Koranschulen gelehrt und über das Internet weltweit vernetzt und verstärkt, von den Kindern und Enkeln muslimischer Einwanderer, die im chronischen Gefühl der ökonomischen, sozialen oder kulturellen Degradation endlich eine Erklärung für ihr Elend gefunden zu haben glauben, bereitwillig aufgenommen. Der politische Islam, wie manche dieser seelisch entwurzelten Kids ihn auslegen, gibt ihnen nicht nur das Recht, sondern verlangt geradezu von ihnen, sich dem Heiligen Krieg gegen die Gottlosen anzuschließen und das Unreine, das sie verkörpern, zu vernichten: Der Westen, der für den historischen Niedergang der islamischen Kultur verantwortlich gemacht wird, sei selbst dem Niedergang geweiht und müsse für seine Schandtaten büßen.

John Updike hat in seinem jüngsten Roman Terrorist (Reinbek 2006) die seelischen Quellen dieses »homegrown«-Terrorismus erforscht. Aus der Innensicht eines begabten araboamerikanischen Jungen, der zunächst im Rahmen religiöser, von einem Iman in Ersatzvaterfunktion angeleiteten Selbstfindung in den radikalen Islam abgleitet, bevor er sich als Selbstmordattentäter dem Dschihad zur Verfügung stellt, schildert dieser Roman die Kehrseite des amerikanischen Traums. Der grundlegende Antrieb seiner Romanfigur sei religiöser Natur, nicht politischer, sagt Updike in einem Interview, er sei »ein durch und durch amerikanischer Charakter«. Eben darin besteht seine literarische Leistung, die ihm in den USA eher verübelt wird: dass er dem amerikanischen »way of life« etliche Schattenseiten abgewinnt. Auch wenn es sich um einen Zerrspiegel handelt, der uns von Ahmed Mulloy vorgehalten wird, auch wenn sein Blick durch die religiöse Brille, seine moralische Selbstgerechtigkeit und die Projektionen seiner Wahrnehmung getrübt sind, tun wir doch gut daran, diesen Blick ernst zu nehmen, mit dem ein sich ausgeschlossen fühlender junger Mann auf die Gegenwart der westlichen Lebenswelt schaut, in der er aufgewachsen ist.

Das eigentlich Erschreckende daran ist, dass die Kulturkritik des Jungen sich nicht einfach als Marotte oder Ressentiment abtun lässt. Sie knüpft an tatsächliche Fehlentwicklungen unserer westlichen Zivilisation an, die von ihren Feinden genüsslich angeprangert werden: die zunehmende Vereinzelung der Menschen, die sich der Herrschaft der Ökonomie ausgeliefert sehen; die Gnadenlosigkeit des Konkurrenzkampfs untereinander; die Entwertung familiärer Bindungen; die Entsolidarisierung der Gesellschaft; die Verrohung zwischenmenschlicher Verkehrsformen; die Zumutungen der Medien, insbesondere des Fernsehens; der bizarre Körperkult; die Ausbeutung der Sexualität; der Verlust an Intimität; der Umgang mit dem Altern; die Zerstörung der Natur; die spirituellen Defizite und einiges mehr. Aufgelistet werden alle möglichen Mängel der westlichen Alltagskultur, die wir selbst, ob von links oder von rechts, vorbringen könnten.

Das verweist auf eine Sinnkrise der westlichen Zivilisation. Im Prozess der kapitalistischen Globalisierung steht der Westen seinerseits vor einer komplexen mentalen Herausforderung, die es in sich hat. Vorläufig möchte ich drei Felder benennen, in denen diese Krise sich zeigt und nach Antworten verlangt:

Soziale Gerechtigkeit im Weltmaßstab: Die westliche Zivilisation muss erstens ihrem nach außen vertretenen Postulat des freien Handels auch im Inneren gerecht werden, indem sie die einheimischen Märkte dem Ansturm der neuen Marktteilnehmer aus dem Osten und dem Süden öffnet statt sie mittels Protektion und Subvention der eigenen Waren, einschließlich und insbesondere der Ware Arbeitskraft, künstlich zu verschließen. Gleichzeitig muss sie dafür sorgen, dass die damit verbundenen unvermeidlichen Anpassungs- und Ausgleichsprozesse ökonomisch intelligent organisiert, zeitlich entsprechend gestreckt und sozialverträglich gestaltet werden, sodass sie auch zu verkraften sind – sonst läuft sie Gefahr, einen links oder rechts eingefärbten, in jedem Fall aber fremdenfeindlichen und gegen die Globalisierung gerichteten Nationalpopulismus zu züchten, der soziale Gerechtigkeit nur für die eigenen Leute verlangt.

– Glaube und Wissen (das Habermas-Argument): Der aufgeklärte Westen muss zweitens jene alten, von der Religion einst formulierten und im Projekt der Moderne weitgehend ignorierten, vom religiösen Fundamentalismus in der Tat revitalisierten Fragen nach dem höheren Sinn des irdischen Lebens wiederum in eine säkulare Sprache übersetzen und zu beantworten versuchen – die Marktreligion wird nicht reichen. Denn hinter diesen spirituellen, scheinbar metaphysischen Bedürfnissen stehen solche nach der Einbeziehung des Anderen, nach der sozialen Kohäsion oder der moralischen Orientierung. Es sind normative Fragen, die der kollektiven Selbstverständigung bedürfen und auf die eine in Individuen zerfallende Konkurrenzgesellschaft, die technisches Wissen und instrumentelle Vernunft privilegiert, zunächst keine Antworten bereithält.

– Das bedrohte Sicherheitsgefühl: Der Westen muss drittens schließlich auf die unmittelbare Bedrohung seiner inneren und äußeren Sicherheit, die von der islamistischen Kriegserklärung ausgeht, angemessen und selbstbewusst reagieren. Diese Reaktion darf sich nicht auf das barbarische Niveau eines Gegners begeben, der den Massenmord und das Halsabschneiden vor laufender Kamera zu seinen bevorzugten Kampfmethoden zählt. Wir dürfen aber die tatsächliche Bedrohung durch den globalisierten Terrorismus auch nicht verharmlosen, verleugnen oder seine Taten gar rechtfertigen, weil uns selbst am Westen einiges nicht passt.

Nicht zufällig ist das kosmopolitische New York zum Ziel des »Angriffs auf Amerika« geworden. Hier kann man buchstäblich zusehen, wie die Welt auf engstem Raum zusammenwächst. Diese Stadt – das »gobal village« par excellence – liefert uns ein Modell, wie man Differenzen zwischen Klassen und Rassen, zwischen ethnischen Kulturen, verschiedenen Weltanschauungen und konkurrierenden Religionen dynamisch ausbalanciert und unvermeidlich auftretende Spannungen und Konflikte so moderiert, dass sich die Gewalt in Grenzen hält. Ein solcher Metropolenkosmos der heterogenen Vielfalt, der für totalitäre Versuchungen keinen Raum bietet, fordert den neuen Totalitarismus geradezu heraus.

 

Bibliographie

Baumann, Zygmunt (2005): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg: Hamburger Edition (engl. Original 1991)

Berman, Paul (2004): Terror und Liberalismus, Hamburg: EVA

Enzensberger, Hans Magnus (2006): Schreckens Männer, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Fergany, Vader et al. (2002–2004): Arab Human Development Report. Engl. Fassung z. B. unter www.palestineremembered.com/acre/articles

Habermas, Jürgen (2005): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Kassir, Samir (2006) Das arabische Unglück, Berlin: Verlag Hans Schiler (frz. Original 2004)

Roy, Olivier (2006): Der islamische Weg nach Westen, München: Pantheon

Schivelbusch, Wolfgang (2001): Kultur der Niederlage, Berlin: Alexander Fest Verlag

Updike, John (2006): Terrorist, Reinbek: Rowohlt