Balduin Winter

Indischer Exzeptionalismus

 

 

Flächenmäßig nur wenig kleiner als die EU-25 ist Indien nach Russland, China, Kanada, USA, Australien und Brasilien der siebtgrößte Staat der Welt – mit einer Bevölkerung von 1,1 Milliarden übertrifft es die Einwohnerzahl der EU fast um das Dreifache. Mit 329 Einwohnern pro Quadratkilometer ist es deutlich dichter besiedelt als Deutschland, es verfügt mit Mumbai, Delhi und Kolkata über drei der großen urbanen Agglomerationen der Welt, aber immer noch leben 60 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft.

»Das Indien der späten siebziger Jahre war politisch wie wirtschaftlich eine Hochburg der Dritten Welt, ein vom Staatsdirigismus gefesselter Riese«, schreibt Olaf Ihlau in seinem informativen Buch Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens (Siedler München, 2006). Gefesselt auch in der Außenpolitik, denn »über vier Jahrzehnte war sie (die Sowjetunion, B. W.) Indiens Richtpfeiler gewesen als wichtigster diplomatischer Verbündeter, als Handels- und Rüstungspartner. Delhi stand nun da mit einem impotenten Schutzpatron sowie einer Wirtschaftskrise, die das Gebäude des gemäßigten Staatssozialismus einstürzen ließ.« Das war Anfang der Neunzigerjahre, als die VR China längst ihren neuen Kurs der Öffnung eingeschlagen hatte. Heute, nachdem der Aufschwung Japans und der Vormarsch der Tigerstaaten in der Asienkrise gebremst wurden, wird klar, dass dies nur die »Ouvertüre für das Asiatische Jahrhundert« war.

In der Selbsteinschätzung sehen sich die Inder schon heute als zweite Weltmacht hinter den USA und knapp vor Großbritannien und China; in einer gewichteten Umfrage liegt Indien Ende 2005 an zehnter Stelle (»Weltmächte im 21. Jahrhundert. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung …«, Bertelsmann 2006). In der Goldman-Sachs-Studie »Dreaming With BRICs: The Path to 2050« (2003) wird Indien für das Jahr 2025 hinter China und den USA als drittstärkste Macht geführt. China wird mit einem Bruttosozialprodukt von 44 Billionen US-Dollar den Spitzenplatz einnehmen. Die USA werden mit 35 Billionen auf den zweiten Platz abgedrängt, von Indien mit 28 Billionen gefolgt und in einer voraussehbaren Zukunft auch von Indien überholt. Die vier größten europäischen Volkswirtschaften, nämlich Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien, werden zusammen noch 11,7 Billionen erreichen, also ungefähr 25 Prozent des chinesischen BSP. Für Gabor Steingart ist das allerdings ein Anlass, im Spiegel 37/06 über den »Weltkrieg um Wohlstand« zu spekulieren, China und Indien als »Angreiferstaaten« zu bezeichnen und dem Westen vorzuwerfen, »keine Bedrohungsanalyse zu besitzen«. Purer Ökonomismus kennzeichnet diesen Artikel, basierend auf dem gleichnamigen Buch.

Davon unterscheidet sich wohltuend die Intelligenzabteilung des CIA, der NIC. Sie hat in ihrer großen Studie, Mapping The Global Future. Report of the National Intelligence Council’s 2020 Project (December 2004), den Niedergang der amerikanischen Führung und die zukünftige asiatische Überlegenheit eingeräumt. Als eines von vier möglichen Szenarien wird die »Davos-Welt« genannt, »ein Abbild dessen, wie ein von China und Indien geführtes robustes Wirtschaftswachstum über die kommenden 15 Jahre hinweg die Globalisierung umgestalten könnte und einen Prozess auslöst, der ihr ein nichtwestliches Gesicht gibt und die politischen Spielregeln verändert«. Allerdings halten die Autoren eine Mischung aus mehreren Szenarien für wahrscheinlicher (Davos-Welt plus Pax americana und islamische Identitätspolitik). Und David Cameron, Führer der britischen Konservativen, der Tony Blair beerben möchte, sprach unlängst im Guardian (5.9.) davon, dass nun »Indiens Zeit« gekommen ist. »Für den größten Teil des letzten Halbjahrhunderts haben wir im Westen angenommen, dass wir die Schrittmacher für die globale Tagesordnung seien. Nun denn, jetzt sind wir in einer neuen Wirklichkeit angekommen.«

Ob Time Magazine oder Spiegel, Newsweek oder Times of India, es kursiert heute eine große Anzahl einen Paradigmenwechsel behauptenden Jahrhundertprognosen, in denen Asien – und darin wieder China und Indien – diese oder jene Hauptrolle spielt. Manfred Mols hat dazu in den Auslandsinformationen 5/2006 der Konrad-Adenauer-Stiftung festgestellt, dass diese Diskussion »um nichts genauer als die Prognosen der Ökonometriker« ist und sich »in ihrer Substanz außerhalb der Analyse eines in Wahrheit sehr vielschichtigen historischen, zivilisatorischen, ökologischen und technologischen Gesamtkomplexes bewegt«. Ein UNESCO-Projekt zu Geschichte und Globalisierung vor wenigen Jahren (Helio Jaguaribe, A Critical Study of History, Rio de Janeiro 2000) habe keinen epochalen Übergang der prägenden Leitkultur feststellen können – auch die sich herausbildende »planetarische Zivilisation« sei fürs Erste pränormiert durch die »späte westliche Zivilisation«. Auch China und Indien sind erfolgreich, weil sie, ursprünglich führende Weltmächte vor Europa, nach Absonderung, Kolonialismus und Umwegen, in Politik und Ökonomie wesentliche Züge des westlich-aufgeklärten Modells adaptiert haben.

Indien hat sich also nach 1989/91 politisch und wirtschaftlich neu positionieren müssen. Dabei hat es in einem recht aufgewühlten Umfeld erstaunliche Erfolge erzielt. Mehr als Zahlen und soziologische Abhandlungen erklärt vielleicht Amartya Sens Buch The Argumentative Indian (Allen Lane, London 2005) Grundelemente der »ältesten und größten Demokratie der Welt«. Es ist eben nicht einfach der westliche Zivilisationsimport, der ein im Grunde 3500 Jahre altes Kastensystem domestiziert. Bei aller sozialen Ungleichheit und Armut insistiert Sen auf jenen Wesenszug Indiens, dass die bloße Ungleichheit von Meinungen, Religionen und konkurrierenden Weltanschauungen, die in Indien immer koexistiert haben, naturwüchsig zu einer fruchtbaren und toleranten streitlustigen Tradition geführt hat. »In Indien«, schreibt Sen, »ist Andersgläubigkeit immer die natürliche Lage der Dinge gewesen.« Insofern sei dieses Land ein politisches und soziales Experimentierfeld par excellence; seine Menschen ständen in einer großen Tradition, schwierige Fragen zu stellen und den Dialog quer durch die Gesellschaft zu führen, auch – trotz Kaschmir und fundamentalistischem Terror – mit den Muslimen, unter deren Herrschaft im 16. Jahrhundert »die frühesten bekannten multireligiösen Diskussionsgruppen aufgestellt wurden, in denen Muslime, Christen, Hindus, Jains, Juden, Parsees und sogar Atheisten sich trafen, um zu diskutieren, warum und worin sie sich unterscheiden und wie sie zusammenleben können«. Dem positiven Bild des multireligiösen und multiethnischen Zusammenlebens stellt Sen die Schattenseiten des Aufschwungs gegenüber. In westlichen Rezensionen ging das eher unter (Sunday Times, 3.7., FAZ, 6.9.), weil man vor allem auf das Bild vom »sympathischen Inder« abhob.

Ebenso unauffällig wie aufregend sind die Veränderungen in der Außenpolitik. Schlagartig ins internationale Blickfeld rückte Indien durch seinen umstrittenen Atomdeal mit den USA im März dieses Jahres und der damit verbundenen Aufnahme in den Club der Atommächte unter Bedingungen jenseits des Atomwaffensperrvertrags (siehe Kommune 2/06). Rückblickend zeigt sich seit den Neunzigerjahren eine klare Wende. Zuvor habe Indien, so Henry Kissinger in einem großen Artikel in der International Herald Tribune (10.3.), im Namen der Blockfreiheit »die moralische Gleichwertigkeit beider Seiten verkündet«, sei jedoch »in konkreten Fällen oft auf die sowjetische Seite gekippt«. Auch viele indische Experten bezeichnen heute die Teilung von 1947, die Abschottung des Landes durch den Staatssozialismus und das Bündnis mit der Sowjetunion als die drei großen Fehler seit der Unabhängigkeit. Kissingers Essay ist auch deshalb interessant, weil er die USA und Indien dahingehend unterscheidet, dass er Erstere als »die leuchtende Stadt auf dem Hügel« bezeichnet, die ihr Licht – sprich Sendungsbewusstsein – in die Welt ausstrahlt, während sich Letzteres zwar auch als »einzigartig, aber in seiner Abweichung zu Amerika« betrachtet und »weder seine Kultur noch seine Einrichtungen auszubreiten sucht, daher kein bequemer Partner für globale ideologische Missionen ist«. Lediglich »in Bezug auf seine unmittelbaren Nachbarn … ist die indische Politik mit Amerikas Monroe-Doktrin im Westen vergleichbar gewesen«. Kissinger entwirft ein Lagebild von vier Mächten, China, Japan, Indien und den USA, wobei er die US-Regierung davor warnt, in Indien einen Bündnispartner gegen China zu suchen. Eine echte »Kongruenz der Interessen« gäbe es auf dem Gebiet der Terrorbekämpfung. Gleichsam abschwächend für die Widersprüche zwischen den vier Mächten könne die sich entwickelnde Vereinigung der südostasiatischen Nationen in Gestalt der ASEAN+3+3 sein – bei der allerdings beim letzten »Gipfel von Ostasien« in Kuala Lumpur im Dezember 2005 die Asiaten unter sich blieben.

Die indische Politik teilt die Welt in drei konzentrische Kreise. Nach Raja Mohan, Berater des Nationalen Sicherheitsrats der indischen Regierung, in Foreign Affairs (»India and the Balance of Power«, July/August 2006) verlangt Indien im ersten Kreis, der unmittelbaren Nachbarschaft, »eine absolute Vormachtstellung, verbunden mit einem Vetorecht gegenüber dem Vorgehen außenstehender Kräfte. Im zweiten Kreis – der so genannten ausgedehnten Nachbarschaft, die sich über Asien und die Küstenregion des Indischen Ozeans erstreckt – bemüht sich Indien, den Einfluss anderer Staaten auszubalancieren, um zu verhindern, dass sie die indischen Interessen unterlaufen. Im dritten Kreis, der politischen Weltbühne, sieht sich Indien als eine der Großmächte, die sich international um Frieden und Sicherheit bemühen.«

Raja Mohan nennt auch die Gefahren. Im Umfeld Indiens gibt es failing states wie Sri Lanka und Nepal, erhöhter islamistischer Extremismus in Bangladesch, den Kaschmir-Konflikt mit Pakistan und den alten Grenzstreit mit China. In der Auseinandersetzung mit Pakistan wird wachsende Selbstkritik seitens der indischen Eliten am »obsessiven Festhalten am eigenen Territorium« angedeutet. Das jüngste Treffen Manmohan Singhs mit Pervez Musharraf am Rande des Gipfels der Blockfreien in Havanna am 16. September, nur zwei Monate nach dem schweren Anschlag in Mumbai, habe leichte Fortschritte sowohl in der Terrorbekämpfung als auch in der Kaschmir-Frage gebracht (The Kashmir Times online, 17.9.).

»Indiens Versuch«, so Raja Mohan, »seinen alten Grenzstreit mit China beizulegen, war ebenso kühn. 2003 entschloss sich die Regierung, eine politische Einigung mit Peking herbeizuführen und mögliche juristische oder historische Ansprüche lieber zurückzustellen. Im April 2005 konnten sich beide Staaten beim Besuch des Ministerpräsidenten Wen Jiabao in Neu-Delhi prinzipiell einigen. Die Regierungen arbeiten jetzt an einem territorialen Kompromiss, der beide Seiten zufrieden stellen soll.« Andererseits sieht man sich sehr wohl gegenüber dem immer mächtiger werdenden China im Ringen um einen Machtausgleich in der Region. Trotz der Vereinbarung einer »strategischen Partnerschaft« versucht Indien, China an der Einflussnahme in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu hindern. Das äußert sich beispielsweise im Ringen um das birmesische Erdöl, bei dem China seinen Rivalen Indien entscheidend aus dem Feld geschlagen hat (The Irrawady – Online-Journal of Birma, 1.2.). Auch kooperiert China nach wie vor eng mit Pakistan auf dem militärischen und Nuklearsektor und liefert 80 Prozent der Militärausrüstung (CAP-Studie von Thomas Bauer, 10.8.) und hat insgesamt bessere Beziehungen zu den islamischen Ländern (insbesondere zu Pakistan, Saudi-Arabien, Iran und Bangladesch).

Im Gegensatz zur »Machtpolitik« der westlichen Großmächte bevorzuge Indien, so Raja Mohan, eine »Moralpolitik«, doch befinde es sich inzwischen »in einem Prozess, in dem die Idee seiner ›Autonomie‹, die den Traditionalisten in Indien so lieb ist, zugunsten einer Position als ›verantwortungsbereite Macht‹ langsam zurücktritt«. Über Indiens globale politische Wirkung wächst zusehends das Selbstbewusstsein. Zugleich nimmt die Einsicht bei Indiens politischen Eliten zu, dass es für die neue Situation nichts historisch Vergleichbares gibt – man werde daher nicht auf bekannte Politikmuster zurückgreifen können. Wohl aber auf die Streitkultur des Landes. Von einem »indischen Exzeptionalismus« ist bereits die Rede.