Joscha Schmierer

»Rekonstruktion des Westens«

Umrisse des Problemfelds

 

 

Staatsbildung und Staatenwelt unterliegen ebenso historischen Entwicklungsprozessen wie Typen internationaler Ordnung. Mit 1989 beginnt ein Umbruch und auch der 9.11. löst neue Entwicklungen aus. Für die Bush-Administration entsteht ein »unipolarer Moment«. Wie kann eine »Multipolarität« erreicht werden, die sich nicht als pures Widerlager zu den USA definiert und damit auch Europa in eine neue axiale Sackgasse führt, in der auch der islamistische Terrorismus unterschätzt wird? Kann eine »Allianz der Demokratien« der Bildung einer konzertierten Ordnungsmacht förderlich sein?

Man kann die Jahre nach 1989 als Zeit der Auflösungen sehen. Der Auflösung des Sowjetimperiums und des Warschauer Paktes folgte die der Sowjetunion selbst. Der Auflösung der Blockordnung folgte die Jugoslawiens, das durch den Gegensatz der Blöcke über alle inneren Widersprüche hinweg zusammengehalten worden war und als Leuchtturm der Blockfreienbewegung auf europäischem Boden gegolten hatte. In Auflösung gerieten Somalia und der Kongo, zwei wichtige Mitglieder der Blockfreienbewegung in Afrika. Mit dem Ende des Gleichgewichts des Schreckens droht das Nonproliferationsregime sich aufzulösen und scheinen den nuklearen Abrüstungsbemühungen mit den Blöcken die Interessenten und mit der Blockfreienbewegung die Mahner abhanden gekommen zu sein.

Früh aber wurde auch vom »Ende des Westens«(1) geredet. Der »unipolar moment«(2), von Charles Krauthammer und anderen ausgerufen, sollte nicht durch den Westen, sondern die »einzig verbliebene Supermacht« genutzt werden, um ihre überlegene Stellung auszubauen und auf die absehbare Zukunft zu sichern. Auch der EU wurden Auflösungstendenzen prognostiziert(3), die durch Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden nicht dementiert wurden.

Auch wenn mit dem Kyoto-Protokoll und der Einrichtung des internationalen Gerichtshofes auf globaler Ebene eine Reihe internationaler Verhandlungserfolge erzielt wurden, hatten sie doch den Schönheitsfehler, dass sie nur vom halben Westen mitgetragen und von den USA sabotiert wurden.

Nach dem 11. September 2001 fasste allerdings der UNO-Sicherheitsrat eine Reihe von Beschlüssen, die die Gemeinschaft der Staaten in Stellung gegen den internationalen Terrorismus brachten. Die Auflösungstendenzen internationaler Ordnung und des westlichen Bündnisses waren damit nicht definitiv überwunden. Das zeigte sich, als die USA den Krieg gegen den Irak als zweite Etappe des Krieges gegen den Terror vorbereiteten und in Angriff nahmen, während Staaten, die den Sturz des Talibanregimes in Afghanistan aktiv mitgetragen hatten, diese Verschiebung weder für legitim noch für Erfolg versprechend hielten. In NATO und EU traten Spaltungslinien auf, die sich nicht nur aus unterschiedlichen Beurteilungen der Situation ergaben, sondern auch aus unterschiedlicher Gewichtung der Loyalität zur westlichen Führungsmacht und der eigenen Urteilskraft.

In diesen Auflösungsprozessen werden jedoch zugleich die Grundzüge der neuen internationalen Situation sichtbar. Hier soll thesenartig das Problemfeld erkundet werden, das eine »Rekonstruktion des Westens«(4) notwendig, aber auch schwer macht.

Eine neue Epoche

Die neue Epoche, die das Ende des Kalten Krieges eröffnet hat, erweist sich immer sichtbarer als Zeit großer gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen. Die sich mit dem Ende der Blockkonfrontation und des Sowjetimperiums rasch durchsetzende Rede vom »Zeitalter der Globalisierung«(5) drückt zweierlei aus:

Wir haben es mit einem neuen Zustand der Welt zu tun. Er bleibt durch eine außerordentliche Dynamik der Entwicklung charakterisiert. Im Zeitalter der Globalisierung beginnen jahrhundertelang wirkende Tendenzen die Gesamtsituation zu prägen. Dabei handelt es sich vor allem um zwei Tendenzen, die sich mit dem Ende der Blockordnung vollends durchgesetzt haben: die formelle Besetzung noch des letzten Winkels der Welt durch souveräne Staaten, die sich als solche über die UN-Mitgliedschaft ganz allgemein gegenseitig anerkennen, und die weitgehend ungehinderte Entfaltung einer durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt unterfütterten kapitalistischen Weltwirtschaft, der sich kein Staat mehr entziehen kann.

Eine Welt im Widerspruch

Die Eine Welt ist also politisch wie ökonomisch eine Tatsache. Man muss auf keine weltweiten Katastrophenzusammenhänge verweisen, um sie zu beschwören. Sie funktioniert tagtäglich global, aber im Widerspruch:

Die Staatenwelt konstituiert sich durch das Prinzip der Souveränität, also durch Herrschaft in territorialen Grenzen.

Die Weltwirtschaft verwirklicht sich in globaler Vernetzung, also transnational über Staatsgrenzen hinweg.

Durch diesen Widerspruch ist das Zeitalter der Globalisierung geprägt.

Die internationale politische Ordnung verlangt funktionierende Staaten. Sie sind in der globalisierten Welt die elementare Voraussetzung für die Bekämpfung von transnationalem Terrorismus und Proliferation von Massenvernichtungsmitteln, von Pandemien und Umweltkatastrophen, von Armut wie von Hunger und Durst. Die globale Wirtschaftsweise dagegen lebt von der Negation und Überschreitung staatlicher Grenzen.

Im Widerspruch von Souveränitätsprinzip und wirtschaftlicher Vernetzung liegt eine Hauptquelle von Korrumpierung staatlicher Institutionen wie von staatlicher Monopolbildung und Subventionierung. Von beiden Seiten her wird so eine intransparente Verschmelzung von politischer und wirtschaftlicher Macht befördert, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit untergräbt und gefährdet.

Staaten sind im Zeitalter der Globalisierung aus Gründen der Prosperität und Stabilität auf erfolgreiche Teilnahme an der Weltwirtschaft angewiesen. Expandierende Unternehmen sind weltweit auf eine internationale Ordnung angewiesen, die nur die Staatenwelt schaffen kann. Zugleich greift prekäre Staatlichkeit und Staatsschwäche um sich. Globalisierung produziert keine globale Harmonie, sondern bewegt sich im Gegensatz von Integrationsanstrengungen und Fragmentierung.

WTO und die internationalen Finanzinstitutionen, aber auch Freihandelszonen, Wirtschafts- und Währungsunionen sind Mittel der Staaten, um mit dem Spannungsverhältnis von Souveränität und Vernetzung umzugehen, ohne die Souveränität aufgeben oder sich von der Weltwirtschaft abkoppeln zu müssen. Das prominenteste und erfolgreichste Exempel für die Herstellung eines transnationalen Binnenmarktes und das Pooling der Souveränitäten ist die Europäische Union.

Diese widersprüchlichen Zusammenhänge sind keine zufälligen Begleiterscheinungen der Globalisierung, sondern sind in ihrer Doppelstruktur von Staatenwelt und Weltwirtschaft systematisch angelegt. Während die Anforderungen an die Ordnungsfunktion der Staatenwelt rund um den Globus wachsen, droht eine wachsende Zahl ihrer Bausteine zu zerbröseln: die einzelnen Staaten also, ohne deren Funktionsfähigkeit und Stärke die internationale Ordnung in der Luft hängt.

Zugleich nimmt auf dem Boden der widersprüchlichen Struktur der Globalisierung der Neueintritt einer Macht wie China in die Weltwirtschaft eine ökonomische Wucht an, die sich bis tief ins Innere der etablierten Wirtschaftsmächte auswirkt. China expandiert in der vernetzten Weltwirtschaft und versucht zugleich die eigene Wirtschaft und Gesellschaft unter Staatskontrolle zu halten. Wichtige Instrumente dabei sind die Währungspolitik und Technologietransfer als Investitionsbedingung. Um seinen Hunger nach Rohstoffen zu befriedigen, setzt China nicht zuletzt auf politische Mittel gegenüber den Exportländern. Einen nicht ganz so wuchtigen Effekt hat der verstärkte Auftritt Indiens auf dem Weltmarkt, weil es nicht in der gleichen Weise abgekoppelt war und über weniger politische Macht verfügt.

Europas globales Erbe

Entspringt der prekäre Status von Staaten ganz allgemein der widersprüchlichen Grundstruktur der Globalisierung, so prägt er sich entsprechend den konkreten Funktionsbedingungen der einzelnen Staaten doch verschieden aus. Geschichte, regionale Lage, Größe, ökonomische Ressourcen und Potenziale, kulturelle Prägung und religiöse Tradition sind dabei die wichtigsten Einflussfaktoren auf die konkrete Staatsformation.

Das Zeitalter der Globalisierung wird durch das Ende der Blockordnung eröffnet. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums besiegelt das Ende europäischer imperialer Herrschaft.(6) Nach der Entkolonialisierung verallgemeinert sich damit zugleich das europäische System souveräner Staaten zur globalen Staatenwelt. So bringt das Ende der europäischen Imperien eine globale Staatenwelt hervor, die nach dem »Westfälischen System« modelliert bleibt.(7)

Nachdem sich China schon vor 1989 und dann nach 1989 auch die Staaten des früheren Sowjetreiches sich dem Weltmarkt geöffnet haben, ist der Kapitalismus, der in Europa seine Anfänge und ersten Höhepunkte hatte, zur Grundform der Weltwirtschaft geworden.

Einen weiteren Charakterzug der globalisierten Welt bildet daher der Widerspruch zwischen dem globalen Erbe Europas und der fortschreitenden Schwächung des globalen Gewichts der europäischen Staaten, die durch die europäische Union zwar gebremst, aber nicht beendet wird.

Der Verallgemeinerung des europäischen Staatensystems (»Westfälisches System«) zur Staatenwelt, ohne dass auch nur die Mehrzahl der Staaten der Welt die Grundzüge europäischer Staatsbildung teilten, bringt Spannungen hervor, die eine der Ursachen prekärer Staatlichkeit bilden. Der Maßstab, an dem Staatlichkeit global gemessen wird, bleibt im Wesentlichen »europäisch« (OECD-Maßstab, auch Kopenhagener Kriterien, die ja durchaus universell anwendbar sind).

Europäische Staatsbildung im Einzelnen war immer mit der Ausbildung des europäischen Staatensystems im Großen und Ganzen verknüpft. Die europäischen Staaten fanden ihre Grenzen und ihre Staatsform in der Reibung aneinander und der Rivalität untereinander. Die Verallgemeinerung der Prinzipien des europäischen Staatensystems zur Staatenwelt kann sich weder im Süden noch im Osten auf Staaten stützen, die aus ähnlichen Bildungsprozessen wie in Europa hervorgegangen wären. Auch dort, wo präkoloniale Staatsbildungsprozesse wirksam waren, wurden sie durch die Kolonialisierung territorial überformt, während die ehemaligen staatsbildenden Eliten für die Kolonialherrschaft funktionalisiert wurden.

Erweiterung der Staatenwelt ohne autonome Staatsbildungsprozesse

Die Kolonialisierung hat die präkoloniale Staatsbildung, wo sie in Gang war, nicht fortgesetzt, sondern abgebrochen. Die territoriale Ein- und Abgrenzung ergab sich nirgends aus autonomer Staatsbildung in Auseinandersetzung mit anderen autonomen Staatsbildungsprozessen, sondern allein aus der Rivalität der europäischen Kolonialmächte und deren Kräfteverhältnissen. Die Staaten, die in der Entkolonialisierung ihre Unabhängigkeit erreichten und im Rahmen der UNO Souveränität erlangten, litten insofern von vornherein doppelt unter prekärer Staatlichkeit: die äußere Staatsform war übergestülpt und die staatlichen Institutionen waren kein Ergebnis innerer Auseinandersetzungen, Kräfteverhältnisse und Kompromisse. Unter diesen Umständen konnten und können gerade Versuche, zentralisierte Staatsmacht zu verwirklichen, zu offenen innerstaatlichen und regionalen bewaffneten Konflikten führen.

Der Ordnungsrahmen der in der UN organisierten Staatenwelt war unersetzlich, um die Gewaltpotenziale der Entkolonialisierung einzudämmen und den neuen Staaten wenigstens einen äußeren Rahmen zu garantieren. Zugleich wurde dadurch die Schwäche der Staatsbildungsprozesse vieler neuer Mitglieder nur verdeckt. Der Mangel an autonomer Staatsbildung in Auseinandersetzung mit verwandten Staatsbildungsprozessen drückt sich heute häufig im Aufeinandertreffen einer fixen, äußerlich bleibenden territorialen Staatsform, die durch die Staatenwelt garantiert ist, und einer fragilen inneren Staatsmacht aus, die ohne gefestigte republikanische Institutionen (Gewaltenteilung, demokratische Repräsentation) entweder dauerhaft diktatorisch okkupiert wird oder Spielball rivalisierender Cliquen bleibt.

Beide Seiten prekärer Staatsmacht wirken sich über ethnische oder religiöse Verflechtung auch auf die Nachbarschaft aus und werden umgekehrt durch Einwirkungen von dort verstärkt. Zumindest in Afrika, aber auch im Mittleren Osten, auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien und auch in Südostasien lassen sich deshalb innerstaatliche gewaltsame Auseinandersetzungen nur schwer lokalisieren. Wo sie auf Grund von Ressourcenfragen zum Feld globaler Rivalität werden (könnten), werden sie sich erst recht kaum eingrenzen lassen. Die Herrschaft von Warlords und die Neuen Kriege haben ihre Wurzeln und ihr Lebenselixier in solcher prekären Staatlichkeit, wie sie schon in der Diskrepanz von europäischem kolonial-imperialen Erbe und europäisch geprägter Staatenwelt angelegt ist.

Die Folgen verbreiteter prekärer Staatlichkeit fordern die internationale Ordnung, ihre Institutionen und Protagonisten heraus. Nach dem Wegfall des globalen Ordnungsmechanismus der Blockkonfrontation ist damit die Frage einer internationalen Ordnungsmacht aufgeworfen, die den Rückfall in Anarchie und Chaos verhindert. Ein Ordnungsmechanismus wirkt hinter dem Rücken der Beteiligten, indem sie im Gegeneinander ihre eigene Macht und Sicherheit jeweils zu potenzieren versuchen und so nolens volens ein dynamisches (und instabiles) Gleichgewicht etablieren. Die Produktion globaler Ordnungsmacht kann nur Ergebnis internationaler Meinungs- und Willensbildung und einer gemeinsamen Konzeption aller oder doch der entscheidenden politischen Akteure sein.

Typen internationaler Ordnung

Mit dem Gründungskonsens der UNO unter der Führung der USA gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg, einen globalen Ordnungsrahmen zu schaffen, der über Blockkonfrontation und Kalten Krieg hinaus bis heute erhalten blieb. Dieser Ordnungsrahmen war die Voraussetzung für die relativ reibungslose Eingliederung der durch die Entkolonialisierung unabhängig werdenden Staaten. Doch war es nicht dieser Rahmen, sondern das Gleichgewicht des Schreckens, das verhinderte, dass der Kalte Krieg in einen heißen Weltkrieg umschlug. Die globale Konfrontation hatte damit unter Vorherrschaft der beiden Supermächte und der Nuklearbewaffnung die paradoxe Wirkung, lokale Kriege zu begrenzen und die äußere Stabilität der Staatenwelt zu garantieren. Nicht zuletzt dieser Ordnungsmechanismus der Blockkonfrontation hielt auch die Welt der Blockfreien und ihre labilen Staaten zusammen.

Die Rede von der einzig verbliebenen Supermacht verweist auf die Tatsache, dass dieser Ordnungsmechanismus nicht mehr wirkt. Damit stellt sich angesichts der Fragilität der Welt die Frage, ob ein neuer Ordnungsmechanismus generiert wird oder ob es möglich ist, eine globale Macht zu etablieren, die direkt für die internationale Ordnung steht und eintritt.

Neues Gleichgewicht in einer »Multipolaren Welt«?

Die Vorstellung einer multipolaren Welt hat ihren realen Anhaltspunkt darin, dass die globalisierte Welt mehrere Knotenpunkte der Vernetzung und Zonen dichter Integration aufweist und insofern polyzentrisch strukturiert ist. Ihre Attraktion bezog sie aus der Negation der Vorherrschaft der beiden Supermächte in der bipolaren Welt. Besonders intensiv und programmatisch wurde sie von der chinesischen und der französischen Diplomatie vertreten. Mit Zusammenbruch des Sowjetimperiums richtete sich ihr kritisches Potenzial gegen den »unipolar moment«, den zu nutzen US-Strategen der »einzig verbliebenen Supermacht« nahe legten. Tatsächlich müsste wohl ein solcher Multipolarismus, wenn er denn machtpolitisches Gleichgewicht generieren sollte, erneut auf eine bipolare Ordnung hinauslaufen.

Dafür spricht eine doppelte Erfahrung:

Die Erfahrung der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das europäische Konzert der nachnapoleonischen Ordnung (gemeinsame Grundinteressen, konzertierter Ordnungswille) in ein multipolares Nebeneinander von auf Machtakkumulation versessenen Mächten aufgelöst hatte, um schließlich in der Logik des Gleichgewichtsmechanismus eine bipolare Lagerbildung hervorzubringen, die in den Ersten Weltkrieg mündete.

Die Erfahrung der Zeit der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges, in der sich über das Gleichgewicht des Schreckens der Bipolarismus so stark erwies, dass die Blockfreien keine Dritte Kraft bilden, sondern nur versuchen konnten, sich aus der Bipolarität heraus zu definieren. Versuche, Europa oder eine Zweite Welt als eigenen Pol zu konstituieren, mussten Gedankenspiele bleiben.

Es ist plausibel anzunehmen, dass die Vorstellung einer multipolaren Welt heute in der Praxis auf Gegenmachtbildung zu den USA hinausliefe, die früher oder später zur Lagerbildung um China und die USA führen müsste. Daran kann gerade die EU keinerlei Interesse haben, weil sie so, auch wenn eine Spaltung vermieden würde, jeden Spielraum verlöre. Die Gegenmachtbildung würde erst Teile Europas von den USA wegführen, am Ende aber wohl die EU in einem neuen Gleichgewicht des Schreckens wohl ganz an die USA binden.

Der UNO-Rahmen bleibt einer solchen Vorstellung vom Gleichgewicht der Mächte ganz äußerlich. Aus ihrer Perspektive könnte die Auseinandersetzung mit prekärer Staatlichkeit wohl nur in der Bildung von Einflusszonen der Machtpole dieser Welt bestehen.

Den »unipolar moment« für imperiale Machtentfaltung nutzen?

Abgesehen davon, dass auch wichtige amerikanische Experten den »unipolaren Moment« entweder für eine neokonservative Chimäre hielten oder ihn inzwischen für beendet erklären(8), müsste eine strategische Ausrichtung an diesem Moment direkt das Streben nach Gegenmachtbildung hervorbringen und verallgemeinern, also sein Ende beschleunigen.

Doch sehen sich die USA durch den transnationalen Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen, durch Staaten, die solche Aktivitäten fördern oder dulden, und durch staatliches Machtvakuum, das sie nicht zu unterbinden vermögen, zu einseitigem Vorgehen gezwungen, wenn sie ihre Sicherheit gefährdet sehen. Nationale Sicherheit verlangt in den Augen der USA zunehmend eigenes globales Handeln. Weil globales Handeln aber weder durch einzelne Staaten legitimiert werden, noch durch einzelne Staaten – und seien sie noch so mächtig – zu dauerhaftem Erfolg führen kann, berühren sich hier nationale Interessen der USA und das allgemeine Interesse nach einer internationalen Ordnung, die den genannten Gefahren und Bedrohungen entgegentreten kann.

Auf Grund ihrer Stellung in der Welt und der Überschneidung ihrer nationalen Sicherheitsinteressen mit Herausforderungen, auf die die Staatenwelt insgesamt eine Antwort finden muss, liegen hier für die USA imperiale Versuchung und weltpolitische Verantwortung nahe beieinander. Gegenüber der UNO bedeutet dies Instrumentalisierung wie Negation einerseits oder Führung und Konsensbildung via Sicherheitsrat andererseits.

Da es auch den USA nicht gelingen kann, die ganze Staatenwelt entweder in Verbündete oder Peripherie zu verwandeln und so die Welt zu beherrschen und imperial zu ordnen, sie sich aber auch nicht gegen die Teile der Welt, die sich ihrer Kontrolle entziehen, wirksam abschotten kann, werden sich die USA einem »Konzert der Mächte« auf Dauer nicht entziehen.(9)

Konzertierte Ordnungsmacht über Reform der UNO

Mit den UN verfügt die Staatenwelt über eine Organisation, die in Mitgliedschaft und Generalversammlung sowohl dem formellen Anspruch auf Gleichheit souveräner Staaten untereinander gerecht wird, über den Sicherheitsrat in seiner Verantwortung für den Weltfrieden aber auch dem tatsächlich unterschiedlichen Gewicht der Mitglieder Rechnung trägt. Gleichheit und Gewichtung wird noch einmal abgebildet durch Zusammensetzung des Sicherheitsrates aus ständigen und nichtständigen Mitgliedern. Das Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates entspringt der Einsicht, dass Maßnahmen gegen eine Gefährdung des Weltfriedens diesen gefährden könnten, wenn sie gegen Interessen eines ständigen Mitgliedes des Sicherheitsrates derart verstoßen, dass es sich veranlasst fühlt, den Konsens aufzukündigen, der in der Charta der UN als Regelfall vorausgesetzt ist. Das Vetorecht gründet in der Sache auf dieser Vetomacht, die sich aus dem Friedensziel selbst ergibt.

Die Gründung der UNO wurde ermöglicht durch den Konsens einer Kriegsallianz gegen einen machtbesessenen, eroberungssüchtigen und menschenverachtenden Feind, die Achsenmächte, und die Führung der USA, die mit einer neuen Weltordnung die Kriegsgefahr grundsätzlich eindämmen wollten. Diese Absicht verlangte nach einer umfassenden, alle Staaten umfassenden Organisation, in der die Mächte mit dem größten Gewicht eine besondere Verpflichtung für die Verteidigung des Weltfriedens übernehmen.

Ohne das Zusammentreffen von Führung durch die USA und von Konsens der Alliierten hätte die Gründung der UNO nicht gelingen können. Im Kalten Krieg wurde der Konsens zerstört und beschränkte sich Führung auf die Hegemonie der Supermächte im eigenen Block.

Wenn es sinnvoll sein soll, heute ein »Konzert der Mächte«, vor allem also der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, ins Auge zu fassen und anzustreben, dann muss geklärt werden, ob Voraussetzungen für einen grundsätzlichen Konsens über gemeinsame Interessen und Werte vorhanden sind, und wie Führung auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung aussehen könnte.

Über die gemeinsamen Bedrohungen herrscht heute eine große Übereinstimmung in der UNO und im Sicherheitsrat. Schwierig bleibt es, sich auf die Mittel und Formen zu einigen, um den Bedrohungen gemeinsam entgegenzutreten.

Der stärkste Antrieb, sich zu einigen, liegt in der globalen Vernetzung selbst, zugleich kann eine solche Einigung nur durch die Verständigung unter Staaten praktisch wirksam werden. Und in dieser Notwendigkeit liegt zugleich die Möglichkeit der Rivalität und der Spaltung. Sie wird zur akuten Gefahr, wenn es nicht gelingt, die absehbaren Verteilungskonflikte um knappe und territorial ungleich verteilte Ressourcen in zivilen Bahnen zu halten und durch nachhaltiges Wirtschaften und Substitutionsprozesse zu entspannen.

Republikanische Institutionen (Gewaltenteilung, repräsentative Demokratie) im Inneren der Staaten schaffen günstige Bedingungen für ihre Zusammenarbeit untereinander, weil in Republiken die Interessen der Bürger und der Zivilgesellschaft an globaler Vernetzung am ehesten zur Geltung kommen. Ein wichtiger Faktor bei der Generierung konzertierter globaler Ordnungsmacht wird deshalb eine umfassende, ausgreifende und offene Allianz der Demokratien sein. Um sie zu schaffen, bleibt die Erneuerung des Westens als handlungsfähiger Form politischer Willensbildung unerlässlich. Eine Bedingung dafür, den Westen als integrative Zentripetalkraft wirksam werden zu lassen, bleibt die politische Stärkung der Europäischen Union.

Letzten Endes wird ein solches Konzert der Mächte von Richtungsentscheidungen der USA, der EU, Russlands, Chinas und einer weiteren Reihe von Mächten abhängen. Der Vorschlag der G 4, im Zuge der UNO-Reform den Sicherheitsrat zu erweitern, ist als Teil der Bemühungen zu sehen, die UNO und vor allem den Sicherheitsrat als Ort der Konzertierung globaler Ordnungsmacht zu stärken. Im Rahmen dieser Bemühungen ist es wohl begründet, weiterhin auch für einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat einzutreten. Mit diesem Sitz könnte Deutschland sowohl zur besseren Koordinierung der GASP in der EU als auch zu einem größeren Gewicht der EU in der UNO beitragen.

Anhaltender Widerstreit der Konzeptionen von globaler Ordnungsmacht

Die idealtypisch skizzierten Konzepte globaler Ordnungsmacht haben Anhaltspunkte in der Wirklichkeit und drücken auch nicht nur engste Interessen und Vorurteile ihrer politischen Protagonisten aus.

Es gibt außerhalb der USA Kräfte, die an die USA appellieren, eine imperiale Rolle einzunehmen. Es braucht nur an den Lobbyismus des irakischen Exils erinnert zu werden. Die Konzeption des American Empire hat nicht nur Kritiker, sondern auch starke Fürsprecher in der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen. Und es wird immer wieder Situationen geben, in denen gegen Bedrohungen von Seiten der UNO und der Internationalen Gemeinschaft zu spät oder gar nicht vorgegangen wird, sodass die USA in ihrer überragenden Machtstellung vor der Herausforderung stehen, im Namen der internationalen Ordnung, aber ohne formelle internationale Legitimation, allein oder in Koalitionen und Allianzen zu handeln oder die allgemeine Lähmung zu teilen. Die imperiale Versuchung liegt weniger in der inneren Verfassung der USA als im Zustand der Welt.

Die Ordnungsvorstellung des Multipolarismus kann sich auf den Polyzentrismus der globalisierten Welt berufen und findet Anhaltspunkte in den imperialen Tendenzen der internationalen Situation, denen er entgegentreten will. Kleinere Staaten, aber auch destruktive Kräfte in der Staatenwelt, können sich von einer »multipolaren Welt« mehr Spielraum für ihre eigenen Interessen versprechen. Nicht zuletzt die Undeutlichkeit des »Multipolarismus« macht den Reiz dieser Ordnungsvorstellung aus. Auch in der deutschen Außenpolitik hat sie immer wieder prominente Fürsprecher gefunden.

Die Vorstellung eines Konzerts der Mächte mag angesichts der internationalen Auseinandersetzungen und der Schwierigkeiten, die Handlungsfähigkeit der UNO zu erhöhen, manchen Realisten als vergebliche Kraftverschwendung erscheinen. Von anderen kann sie kritisiert werden, weil von ihr die Rolle der Staatsmacht für unerlässlich gehalten wird und sie zugleich das unterschiedliche Gewicht der gleichermaßen souveränen Staaten für die Generierung globaler Ordnungsmacht in Rechnung stellt. Ist das nicht eine Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert, ganz anachronistisch heutzutage? Doch kann diese Vorstellung, weil sie den Ordnungsrahmen der UNO als unerlässliche Voraussetzung akzeptiert, ohne einer »Demokratisierung« der Staatenwelt auf Kosten der Effektivität des Sicherheitsrates das Wort zu reden, alle Akteure der Staatenwelt ansprechen, während sie ihren grundlegenden Rückhalt in der globalen Vernetzung und der »Gesellschaftswelt« findet. Eine solche Politik globaler Integration wird sich umso prägender artikulieren können, je mehr sich die Staatenwelt einer »community of democracies«, einer Gemeinschaft von Republiken, annähert. Allerdings stellt sich auch nur dieser Konzeption, in der die Staaten das Grundelement internationaler Ordnung bleiben, die Notwendigkeit, sich dem Problem prekärer Staatlichkeit umfassend und in jedem Fall zu stellen.(10)

Neben diesen Ordnungsvorstellungen, die alle in Problemen und Tendenzen der Staatenwelt im Zeitalter der Globalisierung Anhaltspunkte finden, könnte die islamistische Vorstellung einer Widererrichtung des Kalifats in den nächsten Jahren wachsende Wirkung entfalten. Diese Vorstellung setzt auf eine totalitäre Negation der Staatenwelt und strebt danach, die gesellschaftliche Vernetzung via Weltwirtschaft durch theokratisch-hierarchische Strukturen zu ersetzen. Nahrung findet diese Vorstellung in der schwachen politischen Tradition der arabischen Staaten und ihrem undemokratischen Charakter wie in der auf Frustrationen und Ressentiments zielenden Beschwörung (arabisch-)islamischer Glanzzeiten und dem Versprechen, sie zu erneuern. Die Vorstellung einer Erneuerung des Kalifats im Sinne einer renovatio imperii leitet die Ideologen des islamistischen Terrorismus, findet aber in islamistischen Kreisen einen stärkeren Widerhall als der Terrorismus selbst. Nährt sie den islamistischen Terrorismus als globale, aber unbestimmte Bedrohung, könnte sie bei andauernd mangelnder Reformfähigkeit der arabischen Staaten sich für diese zu einer konkreten Umsturzgefahr auswachsen.

Die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden praktisch und theoretisch geprägt sein von den Auseinandersetzungen zwischen den Vorstellungen, einen »unipolar moment« imperial zu nutzen, multipolare Gleichgewichtsverhältnisse herzustellen oder eine konzertierte internationale Ordnungsmacht zu schaffen. Nur die dritte Konzeption, die Bildung konzertierter Ordnungsmacht in der UNO, kann sich ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland als Leitbild zu eigen machen, um sich in seiner Außenpolitik auf allen Ebenen für ihre Verwirklichung einzusetzen. Die »Rekonstruktion des Westens« ist unerlässlicher Bestandteil dieser Konzeption.

Wie immer aber sich die Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen Ordnungsvorstellungen entwickeln, sie werden alle mit der die Staatenwelt prinzipiell negierenden externen Bedrohung durch den Islamismus, erst recht in seiner terroristischen Form, rechnen und umgehen müssen. Nicht zuletzt in dieser Konfrontation wird über ihre jeweiligen Aussichten entschieden werden.

Dieser Essay basiert auf einem Beitrag zu dem Symposium »Souveränität – Recht – Moral. Staatsgewalt im Zeitalter der offenen Staatlichkeit«, das 2005 zum 65. Geburtstag von U. K. Preuß in Berlin stattgefunden hat. Es handelt sich um einen Vorabdruck. Zusammen mit den anderen Beiträgen wird er im Frühjahr 2007 in einem von Tine Stein, Claus Offe und Hubertus Buchstein herausgegebenen Band bei Campus in Frankfurt/Main erscheinen. Der vorgesehene Titel des Buches: »Souveränität – Recht – Moral. Was sind die Grundlagen politischer Gemeinschaft?«

1

»The political ›West‹ is not a natural construct but a highly artificial one. It took the presence of a life-threatening, overtly hostile ›East‹ to bring it into existence and to maintain unity. It is extremely doubtful whether it can now survive the disappearance of that enemy.« Owen Harries: »The Collapse of ›The West‹«, in: Foreign Affairs 9–10/1993, S. 42.

2

Charles Krauthammer: »The Unipolar Moment«, in: Foreign Affairs: America and the World (1990/91).

3

»The point is clear: Europe is reverting to a state system that created powerful incentives for aggression in the past«, John Mearsheimer: »Why we will soon miss the Cold War«, in Atlantic Monthly (8/1990); s. a. Tony Judt: Die große Illusion, München 1996, pass.

4

Als strategische Aufgabe durch die Schlagzeile über einem Interview Joschka Fischers öffentlichkeitswirksam proklamiert. Außenminister Fischer hatte gesagt: »Jetzt dämmert auch jenseits des Atlantiks die Erkenntnis, dass ein stärkeres Europa gut für Amerika ist. Die Rekonstruktion des Westens ist für eine positive Gestaltung der Globalisierung und die Überwindung der Gefahr des neuen Terrorismus von entscheidender Bedeutung.« (FAZ, 6.3.04)

5

Vgl. Joscha Schmierer: »Zeitalter der Globalisierung«, in: Kommune 9/97.

6

Das »Ende europäischer imperialer Herrschaft« muss nicht das Ende jeder imperialen Herrschaft bedeuten. Gegen einen solchen Kurzschluss wendet sich zu Recht Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 216 ff. Es bleibt aber problematisch, von dem Topos der ›einzig verbliebenen Supermacht‹ zu »Die USA: das neue Imperium«, so die Überschrift auf S. 224, überzugehen und damit eine begriffslose Beschreibung in einen idealtypisch gewonnenen Begriff zu übersetzen. Eine Supermacht ist wahrscheinlich keine, weil sie den Ordnungsmechanismus des Blockgegensatzes keineswegs in eine ihn ablösende alleinige Ordnungsmacht umsetzen kann. Die einzig verbliebene Supermacht hat wohl kaum das Zeug zum neuen Imperium.

7

Viele Autoren – besonders beharrlich Stephen D. Krasner, heute Leiter des Planungsstabes im Department of State – konstatieren seit längerem das Ende des »Westfälischen Systems«. Sie begründen dies vor allem mit dem Verlust oder den Einschränkungen der Souveränität der Staaten in der heutigen internationalen Ordnung. Doch war Souveränität nie ein monadisches Prinzip, sondern immer ein gegenseitiges Anerkennungsverhältnis unter Staaten, das auf dem Legitimitätsprinzip beruhte. Insofern scheint es mir sinnvoller, von einer Verallgemeinerung des »Westfälischen Systems« auszugehen und nach den Veränderungen des Souveränitäts- und der Legitimitätsprinzips innerhalb des Systems zu fragen.

8

Francis Fukuyama: »The Neoconservative Moment«, in: The National Interest (Summer 2004); siehe die Gegenattacke von Charles Krauthammer: »In Defense of Democratic Realism«, in: The National Interest (Fall 2004).

9

Für eine entsprechende Außenpolitik der USA plädiert Richard N. Haas, Leiter des Planungsstabes im Department of State unter Außenminister Powell, heute Präsident des Council on Foreign Relations: The Opportunity. America´s Moment to Alter History´s Course, New York 2005.

10

»Das Ordnungsmodell der Staatengemeinschaft unterliegt offenbar Bestandsvoraussetzungen, die mit erheblichen Kosten verbunden und über die sich viele bisher nicht im Klaren gewesen sind: Es kann auf Dauer nur funktionieren, wenn Anstrengungen unternommen werden, staatliche Ordnungsstrukturen in globalem Maßstab durchzusetzen, also staatsfreie Räume nur in begrenztem Maße und auf begrenzte Zeit zu dulden.« So Herfried Münkler: »Staatengemeinschaft oder Imperium. Alternative Ordnungsmodelle bei der Gestaltung von ›Weltinnenpolitik‹«, in: Merkur 2/2004, S.105.