Michael Ackermann

Das Schweigen durchbrechen

Günter Grass oder kein Abschied von den Kriegsteilnehmern

 

 

Ohne diese dreißiger und vierziger Jahre, verstrickt in die deutsche und großdeutsche Zeit, ohne den Verlust der Heimat, ohne das früh so vage wie heftig einsetzende Gefühl, ich könnte unter dem Druck der großen Zeit nicht mein eigenes Leben führen, es wäre mir enteignet – ohne diese Verlusterfahrungen hätte ich meine Lebensgeschichte kaum aufschreiben wollen. Und womöglich wäre ich ohne sie überhaupt nie zum Schreiben gekommen, nicht Schriftsteller geworden.« Diese Sätze stammen nicht von Günter Grass. Sie stehen am Beginn von Reinhard Baumgarts Lebensbericht Damals. Ein Leben in Deutschland 1929–2003. Es ist schon 2004 erschienen und sein 1929 in Breslau geborener Autor verstarb noch vor seinem Erscheinen. Baumgart, Lektor, bekannter Literaturwissenschaftler und -kritiker, war ein Altersgenosse von Günter Grass, nur zwei Jahre früher geboren als dieser. Auch sein Erinnerungsbuch kreist auf den ersten 100 Seiten um einen Jungen im Osten Deutschlands, der der Ideologie der Nazis verfällt, kreist um den zentralen Einschnitt in einem Leben. Als die Waffen-SS ihre Werber in die Schulen schickt, bekommt auch der junge Reinhard einen Bogen zur freiwilligen Meldung vorgelegt. Doch: In der Klasse »fanden wir: die suchten Muskelmänner und blinde Befehlsempfänger, Kanonenfutter, das war was für Blöde. Gegenüber diesen fanatischen Horden fühlten wir uns als feine Pinkel.« Aber Baumgart sagt auch: »Ich staune noch heute, dass einige von uns sich weigerten, und zwar mit der spontanen Notlüge, wir hätten uns freiwillig schon für andere Waffengattungen gemeldet …« So bekommt ihn der Krieg, an anderer Stelle, wie so viele junge Männer dieser Altersgruppen doch noch.

Auch Dieter Wellershoff, geboren 1925, gehörte zu diesen jungen Soldaten. Auch er hat, spät, 1995, seine Erfahrungen literarisch verarbeitet, angestoßen durch einen Kuraufenthalt in der Stadt, in der er als Kriegsverletzer im Lazarett lag. Zu Beginn seines Buches Der Ernstfall verwendet auch er das Wort »damals«, das Wort, das bei Baumgart gleich den Haupttitel des Buches bildet. Dieses »damals« bedeutet Rückblende in eine Vergangenheit, die zugleich als unendlich entfernt und doch auch oft erzählerisch wirkmächtig erscheint, häufig, wie Wellershoff über die Kriegsgeneration anmerkt, in einem »raunenden Sagenton«. Die Szenen der Vergangenheit, des Krieges seien ihm durchaus präsent; aber »zugleich wundere ich mich manchmal, dass es sich bei dem Achtzehn- oder Neunzehnjährigen, den ich in den längst vergangenen Situationen mit wachsender Deutlichkeit sehe, um mich selbst handelt, oder dass ich, der inzwischen Neunundsechzigjährige, er gewesen bin«.

Dieses Bild von einem fernen Jugendlichen findet sich auch bei Günter Grass – allerdings mit dem Unterschied, das dieser sich nicht, wie Wellershoff, mit zunehmendem Alter »mit wachsender Deutlichkeit« sieht, sondern auf sich wie auf einen Fremden, wie ein ihm unbekanntes Wesen schaut. Diesem begegnet er mit rhetorischen Fragen, die mal angreifend, mal schützend wirken. Das ist das Eigentümliche an Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel, dass er kaum Bilder und Gefühle für sich als Kind und Jugendlichen findet. »In Zwischenräumen wabern allenfalls Stimmungen.« Dem Erinnernden ist das durchaus bewusst, ja er trägt dieses ihm Eigentümliche im Ton einer gewissen Entrüstung gegen sich selbst vor.

Baumgart und Wellershoff warten in ihren Erinnerungen mit wachem Bewusstsein und präsenten, starken Bildern auf. Beide betonen den Bruch in ihrer Existenz, Wellershoff betont explizit den Zufall, der ihm das »Dasein« schenkte. Das sei die Scheidelinie, die ihn von den nur wenige Jahre jüngeren Kriegskindern und noch mehr von den nachwachsenden und dann nachfragenden Altersgruppen trenne. Denn in deren Leben habe es keine »geschichtlichen Umbrüche und Einschnitte gegeben, keine geistige und moralische Grundlagenkrise, keine Notwendigkeit zu einer Neuinterpretation«. Und an einer anderen Stelle fügt er hinzu: »Heute denke ich, dass es notwendig ist, immer wieder zum Individuellen vorzudringen. Man muss nach den lebensgeschichtlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Verhaltens fragen.«

In gewisser Weise tut das Günter Grass durchaus. Von Beginn an liegt über seinem Buch ein Ton der Scham. Anders als Baumgart und Wellershoff muss er ein sehr spätes Geständnis vollziehen. »Und doch habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den Doppelbuchstaben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen. Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern. … Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird. Damit zu leben ist für die restlichen Jahre gewiss.«

Wohlfeile Worte sind das nicht. Von ihnen gibt es einige in diesem Buch, mehr oder weniger dringlich formuliert: »Es verging Zeit, bis ich in Schüben begriff und mir zögerlich eingestand, dass ich unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem Verbrechen hatte, das mit den Jahren nicht kleiner wurde, das nicht verjähren will, an dem ich immer noch kranke.« Aber diese Worte und Sätze erklären doch auch wenig. Liegt das daran, weil Grass seine öffentliche Rolle als Parteigänger und gesellschaftspolitischer Mahner in seinen Erinnerungen nicht reflektiert, auch nicht über einen Zeitpunkt nachdenkt, an dem er ein Geständnis hätte machen können, ohne sich zugleich als öffentliche, politische Person zu desavouieren? Auch dazu finden sich ein paar andeutende, aber wirklich nur andeutende Sequenzen: »Ach, wie leicht sind mir zu Beginn der sechziger Jahre die Wörter von der Hand gegangen, als ich bedenkenlos genug war, die Fakten Lügen zu strafen und mir auf alles, was widersinnig sein wollte, einen Reim zu machen. … Und jede Pointe hatte den Tauschwert von drei geopferten Wahrheiten.«

Man muss nach den lebensgeschichtlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Verhaltens fragen«, hat Dieter Wellershoff gesagt. Bei Grass geschieht das in der Weise, dass er seine Lebensstationen letztlich nur bezogen auf die Entstehung seines Werkes abschreitet. Wir sehen, durch Anekdoten und Geschichten aus dem Elternhaus, aus Studium und Berlin- und Paris-Jahren hindurch am Ende dieses Erinnerungsweges nur den werdenden Bildhauer, den dichtenden und schließlich den Autor der Blechtrommel wachsen. Seine Olivetti-Schreibmaschinen sind ihm mehr Sätze wert als die komplexe Lebensgeschichte seiner Schwester. »Sein Trick seit Schülerzeiten: das Wörtermachen soll ihm beim gewünschten Fortleben behilflich werden.« Auch hier schaut er, wie so oft in diesem Buch, wie ein Außenstehender auf sich selbst, der ständig mit »Löchern« und »Bildstörungen« zu kämpfen hat. Selbst in den dringlichen Szenen der wenigen Wochen Kriegserfahrung, als er, wie er selbst sagt, »das Fürchten lernte«, fügt er einen Hinweis auf die Fragwürdigkeit seiner Erinnerungen zu: »Doch alles, was sich als im Krieg überlebte Gefahr konserviert hat, ist zu bezweifeln, selbst wenn es mit handfesten Einzelheiten in Geschichten prahlt, die als wahre Geschichten gelten wollen und so tun, als seien sie nachweislich wie die Mücke im Bernstein.« Weswegen er in Sachen Kriegsgräueln immer wieder auf Grimmelshausen und dessen Simplicissimus verweist, dessen Schilderungen er wie die von Erich Maria Remarque in Im Westen nichts Neues für literarisch unübersteigbar hält. Zumal er sich auch hier wieder vergegenwärtigt hat, dass er über wenig abrufbare Einzelheiten verfügt.

Grass ist es wichtig, seinen dreifachen Hunger anekdotenreich zu beschreiben: Das Essen, die Frauen, die Kunst. Jenseits dieser Bedürfnisse und ihrer Ausschmückungen entsteht dabei der Eindruck von einer rein vorwärts drängenden Lebensbewegung, heraus aus »kleinbürgerlichen Verhältnissen« wie er selber sagt, in das unbedingte Wollen einer neuen Existenz. Eine Fluchtbewegung nach vorn, die sich die Rückblende nur literarisch, nicht persönlich gestattet. Daher heute dies: »Das werde wohl ich gewesen sein, der sich schon nach dem ersten Mal wie geübt nicht umgesehen hat. Was war, lag hinter mir. ›Dreht euch nicht um‹, rät ein Kinderlied und heißt ein Gedicht, das ich später, viel später schrieb.« Und: »Nein, ich sah nicht zurück oder nur kurz schreckhaft über die Schulter.« Und, variierend: »Oder war es schon immer so, dass es mir leichtfiel, Ballast abzuwerfen, nicht hinter mich zu schauen, sogleich anzukommen und dazusein?«

Diese merkwürdige erzählerische Bewegung des Neben-sich-Stehens, gemischt mit Selbstzerknirschung, verbindet sich allerdings immer wieder mit umso harscheren Ausfällen gegen andere. Schon in seinem FAZ-Gespräch war ihm die »spießige« Adenauer-Zeit widerlicher als die der Nazis. Dieser Fauxpas, der ein bezeichnendes Licht auf einen fehlgeleiteten konservierten Rebellionsgeist zeigt, findet sich auch im Buch. Und wie darf in dem Halbsatz »als sich der Streit auf politischem Feld mit Widersachern aus rechtem wie linkem Hinterhalt vorübergehend erschöpft hatte« denn das Wort »Hinterhalt« verstanden werden? Entspringt diese Wortwahl nicht noch immer dem alten Geist eines Front-Denkens? Hier ist sie wieder, die bekannte Selbstgewissheit von Grass im Umgang mit dem politischen Gegner, die im hohen Alter wie abgekapselt erscheint. Die Fragezeichen, die er sich selbst als jungem Mann ständig gönnt, gönnt er anderen nicht.

So selbstgerecht geht es auch auf anderen Feldern zu: Ein Künstler ist »dem Zeitgeist zu Diensten«, zu Joseph Beuys fällt Grass ein, »wer hätte ahnen können, dass er späterhin den Preis für Kunsthonig, diverse Fette und Filz ins Unermessliche steigern würde«. Auch seine eigene Phase des Existenzialismus wird mit einer wischenden Wortbewegung zu einer zeitgenössischen Marginalie der Nachkriegszeit. Dabei könnte die zentrale Metapher der existenziellen »Geworfenheit« doch viel besagen und erklären über die Nach-Kriegs-Zeit und ihre dann bald folgenden politischen Aufwallungen.

Grass hat sein Buch mit zwei zentralen Metaphern ausgestattet: dem Häuten der Zwiebel und dem Bernstein mit Einschluss. Schon das Bernstein-Bild ist bezeichnend, denn die Schönheit eines Bernsteins mit Einschluss bedeutet eine Abkapselung in einem Moment, die Leblosigkeit des Eingeschlossenen. Das Schönheitsbild vom Bernstein wird, literarisch gemünzt, lebensbezogen doppelbödig. Die Zwiebel mit ihren Häuten als Erinnerungsschichten ist literarisch bekannt. Grass entfaltet seine Metapher so: »Die Erinnerung fußt auf Erinnerungen, die wiederum um Erinnerungen bemüht sind. So gleicht sie der Zwiebel, die mit jeder weggefallenen Haut längst Vergessenes offen legt, bis hin zu den Milchzähnen frühester Kindheit; dann aber verhilft ihr Messerschärfe zu anderem Zweck: Haut nach Haut gehackt, treibt sie Tränen, die den Blick trüben.« Schön gesagt, geht dieses Bild trotzdem fehl. Niemand häutet die Zwiebel Haut um Haut, nichts wird beim Schneiden offen gelegt. Die trockenen oder etwas gammeligen Schichten werden abgezogen, der gute Rest wird in Ringe oder Halbringe geschnitten oder zu Würfeln gehackt – und in diesem Vorgang verschwinden die Schichten unsichtbar im Essen, Tränen inklusive. Unter der Hand gerät Grass die Metapher also selbstcharakteristisch, denn bekanntlich hat die Zwiebel keinen Kern.

»Überhaupt zwängt mich der chronologische Ablauf meiner Geschichte wie ein Korsett«, schreibt Grass. Aber warum wirft er dieses Korsett nur an wenigen Stellen ab, warum beginnt er nicht frei zu sinnieren, zu reflektieren, Themenfelder einzukreisen, zu bearbeiten? Weil seine »Häutungen« letztlich nicht auf Selbstreflexion hin angelegt sind, sondern als Auskünfte, wie bestimmte Erfahrungen, Szenen und Figuren seines Lebens Eingang in seine Bücher fanden. Das Abschreiten des Lebensweges bis zum Erscheinen der Blechtrommel wird zu einem selbstreferenziellen Verfahren ohne Vertiefung. So erscheinen die öffentlichen Auftritte des jahrzehntelangen sozialdemokratischen Parteigängers und Mahners nun doch im Lichte der Überkompensation einer Scham des ehemals jugendlichen Mit-Machers.

Mit einem anderen Mit-Macher, auch mit einem Überkompensierer, verbindet Grass einiges: Manfred Augst, Jahrgang 1913. Auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart 1969 steht er vor zweitausend Menschen auf, hält eine scheinbar unzusammenhängende Rede, die mit dem Ausruf endet: »Ich grüße meine Kameraden von der SS«. Anschließend nimmt Augst einen Schluck aus dem Zyankali-Fläschen und stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Günter Grass war im Saal, saß auf dem Podium. Später besuchte er die Familie, führte Gespräche mit der Frau und dem ältesten Sohn des Toten. So fand Manfred Augst Eingang in Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Zum Beispiel mit diesem Satz »Ich kannte die Aufgeregtheit fünfzigjähriger Männer, die alles, aber auch alles in einem einzigen randvollen Bekenntnis los werden, quitt machen wollen.« Und Grass fügt hinzu: »Auch kannte ich, da beide alterslos sind, den jungen Augst, bevor der ältere zu sprechen begann. Beide sind Zeugen des Absoluten. Beide sind süchtig nach Untergang und Erlösung. Beide wollen die Wahrheit und nichts als die Wahrheit dringlich durch Hervorpressen zum Ausdruck bringen: ein mühevoller, ein ausbleibender Stuhlgang.«

Ein dichtes, suggestives Bild von einer Persönlichkeit, die sich nicht zu entäußern vermag, von heute aus gesehen in einem Licht, welches auch auf Grass fällt. Der Tochter von Manfred Augst ist diese grass’sche Beschreibung wichtig in ihrem Buch Das falsche Leben. Eine Vatersuche, einige Monate vor Beim Häuten der Zwiebel erschienen. Die Tochter ist Ute Scheub, und sie war 13, als sich ihr Vater tötete. Erst 35 Jahre später kann sich Ute Scheub (Mitgründerin der taz), einen Koffer voller Lebenszeugnisse auf dem Dachboden und den Lebenserinnerungen ihrer Mutter auf einer Kassette, mit diesem Vater, dem Selbstmord, den Folgen für ihre Mutter, den drei älteren Brüdern und sich selbst als Jüngste literarisch auseinander setzen. Ein Annäherungs- und Abstoßungsprozess voll uralter Wut, Rebellion und – nicht zuletzt – auch Einfühlung.

Ihr Vater ist 20, als die Nazis an die Macht kommen. Schon 1933 tritt er in die SS ein. Rassenfanatiker, wie so viele andere, will er »Zuchtwart« werden. Bei der Waffen-SS wird er nicht genommen, weil er eine Brille trägt. »Es muss die Kränkung seines Lebens gewesen sein«, folgert Scheub. Nach dem Krieg, der »Niederlage«, lernt er Margarete kennen, Heirat 1947, drei Söhne, dann die Tochter. Arbeit als Apotheker. Kalter Vater mit harten Grundsätzen und Regeln; Kinder in Furcht. Die Tochter hat den Vater nie lachen gesehen. Dieser kapselt sich ab (Bernstein-Motiv!), verfasst kameradschaftlich-soldatische Gedichte, Pamphlete und Selbstrechtfertigungen, stottert und kann sich nicht öffentlich artikulieren. »Mein Vater hatte einen Erstickungstod erlitten. Er war an seinem Schweigen erstickt.« Zuvor wird alles, abgeschirmt von der Umwelt, Text. Es wimmelt von Selbstüberhebung, verlorenem Opfergeist und einer Sehnsucht nach neuer Gemeinschaft und Glauben. »Unsere Lage ist im Augenblick fast aussichtslos und unmöglich zu leben. Aber uns bleiben 2 Dinge: Das gute Gewissen und die Tat. Wir standen als Volk in einem Gesundheitsprozess. Wir haben unsere Ehre als Volk verteidigt und haben nichts getan als unsere Pflicht … Pflege und Reinhaltung unseres Blutes ist die schönste und wichtigste irdische Aufgabe.« In zwanzig Jahren Textproduktion, so musste Ute Scheub feststellen, kein Wort über die Opfer, die Vernichtung der Juden. »Niemals in seinem ganzen Nachkriegsleben fand er auch nur ein einziges Wort des Mitgefühls. Für niemanden außer für sich selbst.« Zig Abschiedsbriefe mit einem vorwurfsvollen Unterton gegen die eigene Familie, die seinen »Wert« nicht erkenne. Auch der letzte Abschied im Ton unterdrückten Zorns, abwertend gegenüber seiner Frau.

Sein Leben lang schwankte mein Vater zwischen Gehorsam und Selbstbehauptung, Anpassung und Rebellion, Leistungsbereitschaft und Verweigerung, zwischen seinem Bedürfnis nach Unterordnung und einer narzisstischen Wut, nicht als Mensch mit einer ›besonderen Dimension‹ anerkannt worden zu sein. Dieser Konflikt war typisch für viele SA- und SS-Angehörige. Sie lagen dem Führer zu Füßen, zugleich trampelten sie wie eine rasende Horde über andere hinweg. Mein Vater war der Prototyp dieser Generation.«

Die private Suche wird bei Ute Scheub zu einer zeitgeschichtlichen, einer Generationen-Recherche und zu einer gesellschaftspolitischen Reflexion über die Entwicklung der Bundesrepublik. Das alte Thema des Schweigens wird neuerlich bearbeitet. »In den fünfziger und sechziger Jahren war das Schweigen meines Vaters das Schweigen aller. Bleideutsch lag es auf der Bundesrepublik. Heuchelland«, schreibt Scheub – auch ihre Mutter hat über Jahre alles beschwiegen. Während ihrer Recherchen besucht Scheub die väterliche Verwandtschaft, schwäbisch-pietistisch: »35 Jahre lange hatte ich den Kontakt gemieden. Meine Verwandte, über 80 Jahre alt, ist immer noch in der NPD aktiv. Ihr verstorbener Mann war Mitglied in der NPD und im Bund der Vertriebenen.« Auf der Toilette hängt der Spruch: »Lerne zu schweigen, ohne zu platzen.« Ihr Vater hat es nicht geschafft.

Auch die Autorin selbst hat lange gebraucht, um ihr Schweigen zu brechen, das selbst Erlebte zu offenbaren: den Schmerz und die Prägungen. Als ein Erbe ihres Vaters blieb ihr die Scham. Die Scham gegenüber den Opfern, die in der Welt der Täter nicht vorkamen, und eine nicht angenommene Verantwortung durch die Täter. Ein zentrales Motiv, ein riesiges Problem. Auch darum wird in einem Nachwort die doppelte Traumatisierung zum Thema – die von Opfern und Tätern. »Ich glaube, dass Täter viel Unterstützung brauchen, auch therapeutischer Art. Denn wir haben eine Kultur, in der sie nur abgelehnt werden. Wir haben es noch nicht geschafft, über die Täter als Opfer ihrer Tat zu sprechen.« An dieser Stelle treffen sich Ute Scheub und Dieter Wellershoff, generationenübergreifend, auf bezeichnende Weise. Am Ende seines Buches schreibt er, bezogen auf die Nachkriegszeit: »Sogar der Trauer hat es die Sprache verschlagen. Seit den Enthüllungen über den millionenfachen Völkermord in den Todesfabriken der Konzentrationslager blieben nur Scham und Entsetzen, und seitdem liegen die Kriegstoten in unserem Gedächtnis als Berge aufgehäufter Sinnlosigkeit.«

Diese »Sinnlosigkeit« kann nicht aufgehoben, werden indem man sich nun zunehmend mehr der Kriegstoten und Bombenkriegsopfer erinnert und die Traumatisierungen ihrer Angehörigen thematisiert. Doch muss auch diese »Verlusterfahrung«, wie Reinhard Baumgart sagte, in eine »Trauerarbeit« einbezogen werden. Nur das Durchbrechen der langen »Kultur des Schweigens« und zugleich eine politische Reflexion im Geiste der Verantwortung können die fatale Abkapselung des Schweigens durchbrechen – inklusive der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsexzesse. Der Abschied von den Kriegsteilnehmern ist noch lange nicht zu Ende, er beschäftigt Kinder, Enkel, Urenkel von Opfern und Tätern und den Opfern in den Tätern. Der »Fall Grass« beweist es nur aufs Neue.

Reinhard Baumgart: Damals. Ein Leben in Deutschland 1929–2003, München (Hanser Verlag) 2004 (384 S., 24,90 €)

Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen (Steidl Verlag) 2006 (480 S., 11 Rötelvignetten, 24,00 €)

Ute Scheub: Das falsche Leben. Eine Vatersuche, München (Piper Verlag) 2006 (291 S., 18,90 €)

Dieter Wellershoff: Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges, Köln (KiWi 455) 1995/1997 (287 S., 9,90 €)